Selbstversorgung

Themenschwerpunkt "Selbstversorgung - noch oder wieder zeitgemäß?"

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Am 10. Oktober 2010 fand zum sechsten Mal der Regionalmarkt „Nordhessen geschmackvoll“ rund um das Melsunger Rathaus statt. Organisiert wurde er vom Verein „geschmackvoll!“, der von Slow-Food-Aktiven aus Nordhessen gegründet wurde, um als Veranstalter des Regionalmarktes auftreten zu können. Am zentralen Infostand des Marktes standen wie immer Mitglieder von Slow Food Nordhessen als Ansprechpartner zur Verfügung.
Die Durchführung von Regional- und Bauernmärkten gehört zu einem der Aufgabenschwerpunkte von Slow Food, weil die Ziele der Bewegung: Bewahrung von regionalen und jahreszeitlichen Lebensmitteln, hohe Qualität von Nahrungsmitteln und enge Kontakte von Erzeugern und Verbrauchern auf solchen Märkten gut vermittelt werden können.
Zur Tradition von Slow Food Nordhessen gehört es inzwischen, jedes Jahr auf dem Markt in Melsungen ein anderes Schwerpunktthema zu präsentieren. In 2009 Jahr ging es um Gelschinken und Analogkäse, davor wurde ausführlich zur Gentechnik in der Landwirtschaft informiert. In 2010 stand das Thema „Selbstversorgung“ im Mittelpunkt.
Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln bedeutet, dass Kartoffeln, Gemüse, Obst und Getreide für den eigenen Bedarf angebaut und Nutztiere gehalten und verwertet werden. Zur Selbstversorgung gehört die Konservierung von Nahrungsmitteln zwingend dazu, damit nicht nur zur Ernte- und Schlachtzeit Nahrung im Überfluss vorhanden, sondern übers ganze Jahr Essen im Haus ist. Zur Selbstversorgung gehören das eigene Feld oder der eigene Garten, Ställe, Geräte zur Verarbeitung der Lebensmittel und Räume zum Lagern wie Kartoffelkeller und Wurstekammer.
Bis zur industriellen Revolution war die Selbstversorgung mit Nahrung in Stadt und Land Standard für fast alle Menschen in Deutschland. Danach ist sie immer mehr durch Warenangebote und Dienstleistungen ersetzt worden. Heute ist ein Leben ohne Küche, ohne Wissen um Konservierung und Kochen möglich, ohne dass jemand Hunger leiden muss. Essen und Trinken hat für die meisten den Bezug zur Region und zur Jahreszeit verloren.
Nordhessen ist lange ländlich geprägt geblieben und so war in der Region bis weit in die Nachkriegszeit Selbstversorgung weit verbreitet: Einkochapparat und Entsafter gehörten in jeden Haushalt, viele hatten einen Gemüsegarten, Kaninchen wurden gezüchtet, Hausschlachtungen waren weit verbreitet.
Heute verschwinden auch in den Dörfern immer mehr Gemüsegärten. Die Hausschlachtung und das Brotbacken im Backhaus sind fast schon exotisch geworden. Wer kennt noch milchsauer eingelegte Gurken und Bohnen? Wer hat noch eingekochte Süßkirschen, Erdbeeren und Birnen im Keller? Wo wird noch Marmelade selbst gekocht? Wer dörrt noch Obst oder Gemüse? Wer kennt noch den Duft von frisch gebackenem Roggenbrot? Diese Fragen werden auch in Nordhessen inzwischen immer seltener mit ja beantwortet. Mit dem Verschwinden der Selbstversorgung haben die Nordhessen Zeit gewonnen. Sie haben aber auch Lebensqualität verloren, denn das Wissen um das, was man isst und trinkt ist ein Teil des Genusses. Industriell und handwerklich hergestellte Produkte sind nicht vergleichbar mit den hausgemachten Gerichten: Die Wurst „nach Hausmacher Art“ ist nur bedingt vergleichbar mit der Ahlen Wurscht, die jemand im Wissen gemacht hat, dass er sie selbst mit Genuss essen möchte. Es ist ein Glücksfall geworden, so etwas wie Roggenbrot aus dem Holzbackofen schmecken zu dürfen.
Am Stand waren nicht nur Gerätschaften zur Haltbarmachung wie Dörrapparat, Krauthobel und Bohnenschnibbler zu sehen, auf einer Wandtafel konnten die Besucher auch ihre Erfahrungen mit der Selbstversorgung in Form einer Punktabfrage darstellen.

Die Antworten zeigen, dass nur für einen Bruchteil der Marktbesucher „Selbstversorgung“ ein wichtiger Bestandteil des Alltags ist. Weil der Zeitaufwand als Quälerei empfunden wird? Weil man sich anderes leisten kann und die Selbstversorgung als Zeichen von Armut und Rückständigkeit angesehen werden? Weil die Ess- und Verarbeitungszwänge zur Erntezeit als Last empfunden werden? Sinnbildlich für den Selbstverarbeitungsverdruss wurden von Gesprächspartnern am Stand immer wieder die großen Mengen von mühselig eingekochten Obstkonserven genannt, die keiner mehr essen wollte und der Familie.
Wenn man sich die Antworten der „Selbstversorger“ im Einzelnen ansieht, merkt man, dass bei den meisten Stichworten die eigene Aktivität häufiger genannt wird als die Kenntnis aus der Kindheit. – Daraus kann man schließen, dass die Selbstversorgung schon in der vorletzten Generation in der Breite verschwunden ist. Wo die Elterngeneration noch Spaß an der Sache hatte, haben die Kinder es weiter betrieben.
Bei den Selbstversorgungsbereichen im Zusammenhang mit Tierhaltung und Verarbeitung tierischer Produkte fällt auf, dass hier insgesamt deutliche weniger Menschen noch über aktive oder passive Erfahrungen verfügen und der (letzte) große Rückgang erst in der letzten Generation stattfand.

Rückblickend sehen die Aktiven von Slow Food Nordhessen eine große Nähe zur Idee der Selbstversorgung zum Anspruch von Nordhessen geschmackvoll und anderen Regionalmärkten: Viele der angebotenen Produkte haben ihren Ursprung in der Selbstversorgung – Musterbeispiel ist die Ahle Wurscht. Ansonsten ist der Kontakt vom Erzeuger direkt zum Kunden, wie er bei Nordhessen geschmackvoll die Regel ist, nah dran an der eigenen Herstellung, weil das Gespräch über die verwandten Rohstoffe und den Herstellungsprozess möglich und gewünscht ist.

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Getreideernte am Kesselberg bei Melsungen 1946/49. Das Foto wurde von Manfred Klein zur Verfügung gestellt, Fotograf unbekannt. Die junge Frau hat das Getreide mit der Sense gemäht. Die Männer fehlen (Gefallen? In Gefangenschaft?). Man beachte die heute nicht mehr zu findende Halmlänge des Roggens.

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Kartoffelernte in Melsungen 1987. Das Foto wurde von Ute Klein zur Verfügung gestellt.

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