Auftakt zu Terra Madre Salone del Gusto: Biokulturelle Vielfalt ist politisch

12.10.2020 - Der Biodiversitätsverlust ist zusammen mit der Klimakatastrophe und der Corona-Pandemie eine der anhaltend großen Krisen, mit der wir weltweit konfrontiert sind. Mit dem Verlust unserer biologischen Vielfalt droht auch unsere kulturelle Vielfalt zu schwinden. Zum Auftakt des diesjährigen Terra Madre Salone del Gusto lotete Slow Food Deutschland gemeinsam mit Partnerorganisationen aus, wie eine nachhaltige Agrarpolitik zum Schutz von Vielfalt beitragen könnte und müsste.

TMSDG_Diskussion 2 (c) Marion Hunger.jpgSie segelt elegant unterm Himmelsdach, huscht über sonnenbeschienene Felsen und krabbelt pfeilschnell ins Versteck. Sie zwitschert, trompetet und maunzt. Sie ist gepunktet, leuchtet im gestreiften Dress oder betört mit schimmerndem Glanz. Sie ist Tier und Pflanze, Wiese und Bach, aber auch Stadtbalkon und Bauernhof. Ihr Name: Biologische Vielfalt – die Vielfalt des Lebens, der große Jackpot der Natur. Doch diese Vielfalt hat in den vergangenen Jahren dramatisch abgenommen. Nur noch fünf Prozent unserer Äcker und Wiesen gelten als ‚High-Value-Flächen‘, auf denen sich vergleichsweise viele Arten tummeln.

Auch in unseren Ställen und auf unseren Tellern ist die Vielfalt ein schützenswertes Gut. So war es konsequent, dass am 8. Oktober 2020 zum diesmal weitgehend virtuell zelebrierten Auftakt von Terra Madre Salone del Gusto von Slow Food nicht nur die biologische, sondern auch die kulturelle Vielfalt im Mittelpunkt stand. In der Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg diskutierte die amtierende Slow-Food-Vorsitzende Nina Wolff mit Verena Günther von Good Food Good Farming, mit Caroline Engwert von Hauptstadtgarten.de und – zugeschaltet per Video – mit Felix Prinz zu Löwenstein, dem Vorsitzenden des Bunds ökologischer Lebensmittelwirtschaft.

Vielfalt ist biologisch, kulturell und politisch
TMSDG Stand (c) Marion Hunger.jpgNina Wolff spannte eingangs den Bogen von der Vielfalt der Arten und Ökosysteme bis zur Vielfalt bei landwirtschaftlichen Praktiken und der Zubereitung unserer Speisen. Der Grund, warum Slow Food von biokultureller Vielfalt spricht. „Nur wenn wir alle zusammen diese biokulturelle Vielfalt schätzen und nachfragen, kann sie auch als politisches Thema stärker an Fahrt aufnehmen,“ erklärte Wolff. Auch die Verbraucher*innen stünden also in der Verantwortung und müssten Vielfalt beim Einkauf gezielt nachfragen. Klar aber ist: Die heftigen Verluste an Vielfalt, so Wolff weiter, gingen vor allem auf das Konto einer fehlgeleiteten Agrarpolitik. Hier liege der große und notwendige Änderungsbedarf. Verantwortlichkeiten müssten klar benannt und eingefordert werden. Besonders die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) müsse Rahmenbedingungen schaffen, die es Bäuer*innen ermöglichen, für Planet und Mensch gesunde Nahrungsmittel zu erzeugen.

Prinz zu Löwenstein unterstrich diese Einschätzung und kritisierte die mit der Gießkanne und rein nach Fläche verteilten milliardenschweren EU-Zahlungen an die Landwirtschaft. Die Landwirt*innen sollten stattdessen verstärkt dafür bezahlt werden, dass sie Leistungen für Natur und Umwelt erbringen. Ökologische Aspekte müssten künftig von Jahr zu Jahr immer stärker betont werden, bis die rein flächenbezogenen Agrarsubventionen komplett aus dem EU-Haushalt verschwunden seien. Enttäuscht zeigte sich Löwenstein von der Entwicklung bei der Bio-Landwirtschaft. Deutschland habe im Koalitionsvertrag als Ziel 20 Prozent Bio ausgegeben, die EU sogar 25 Prozent. Aber die reale Politik unterlaufe diese selbst gesteckten Ziele, das zeigten zum Beispiel die Streichungen der Mittel für eine eigene Eiweißpflanzen-Produktion. So bleibe unsere Landwirtschaft von hohen Sojaimporten abhängig – mit allen negativen Folgen. Und der Bioanteil liege europaweit nur bei fünf Prozent. Löwenstein: „Das wichtigste Prinzip der Natur ist Vielfalt; weil wir uns so weit von diesen natürlichen Systemen entfernt haben, haben wir so große Probleme!“

Auch Verena Günther von Good Food Good Farming benannte an diesem Abend die systemischen Stellschrauben, die eine sozial und ökologisch gerechte EU-Agrarpolitik verhindern. Teil des Problems sei, dass zu viele politisch relevante Verhandlungen unter Ausschluss zivilgesellschaftlicher Akteur*innen stattfänden. Umso wichtiger sei es, die Stimmen in gemeinsamen Bündnissen zu einem Kanon zu bündeln, ergänzte Wolff.

Wir brauchen auch sinnliche Erfahrungen, um Vielfalt zu schützen

TMSDG_Diskussion (c) Marion Hunger.jpgWährend die Wissenschaft ausgerechnet auf dem Land, inmitten von Wiesen und Äckern, einen enormen Schwund beobachtet, ist in der Stadt vielerorts eine reichere Vielfalt zu bestaunen. Carolin Engwert berichtete von dem Projekt ‚Krautschau‘, bei dem Stadtbewohner*innen in ihrem Umfeld vermeintliche Unkräuter fotografieren, bestimmen und an Ort und Stelle beschriften. Erstaunlich, was da alles wächst und blüht. So könnten kleine Pflanzenausstellungen mitten in der Stadt entstehen. Engwert beobachtet, wie der gesellschaftliche Mainstream auf die bedrohte Vielfalt reagiert. Da werden diverse Sommerblumen ausgesät, da werden Insektenhotels installiert. Aber: Es gehe eben um sehr viel mehr! Vehement plädierte sie für ein Schulfach Gärtnern, damit Kinder und Jugendliche eine sinnliche Beziehung zu Böden und Pflanzen, zum Wachsen und Gedeihen aufbauen könnten. So könne man auch das Bewusstsein für die biologische Vielfalt stärken. Mehr Bewusstsein und Wissen bei den Verbraucher*innen erhöhe auch den Druck auf die Politik.

Nina Wolff sieht auch beim Essen die sinnliche Erfahrung als Chance, um Vielfalt wahrzunehmen und zu fördern. Sie erinnerte an den Slow-Food-Ansatz, Erzeuger*innen, Lebensmittelhandwerker*innen und Verbraucher*innen zusammenzubringen. Das stärke die Wahrnehmung von biologischer ebenso wie kultureller Vielfalt und auch die Wertschätzung und Dankbarkeit für eine sichere regionale Versorgung. Und der Wunsch nach sicheren Netzwerken vor Ort sei durch die Corona-Pandemie nochmals gewachsen, so Wolff.

Politische Verantwortung

TMSDG Fotoaktion (c) Marion Hunger.jpgDie Runde machte deutlich, dass die Politik in der Verantwortung stehe. Sie fordert insbesondere von Deutschland im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft klare Bekenntnisse. Die beteiligten Akteure des Podiums werden dies aufmerksam verfolgen. Denn schon 2007 war von der Bundesregierung die nationale Strategie für den Erhalt der biologischen Vielfalt beschlossen worden. Doch die Verluste konnten seitdem weder gestoppt, noch abgebremst werden. Die schwindende Vielfalt stellt die Menschheit vor Herausforderungen, die mit der Erdüberhitzung durch die Veränderung des Klimas vergleichbar ist.

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