95 Thesen für Kopf und Bauch: Veranstaltungsreihe macht Halt auf dem Hofgut Rengoldshausen

14.12.2017 – Zahlreiche Verbraucher zählen tierische Produkte wie Fleisch und Milch zu ihren Grundnahrungsmitteln, was einen hohen Bedarf nach sich zieht. Alleine Fleisch ist inzwischen eine Milliarden-Dollar-Industrie, die fast ein Drittel der Landfläche unserer Erde einnimmt, mit zunehmend fatalen Folgen für Mensch, Tier und Umwelt.
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Wir konsumieren Fleisch in ungesunden und nicht vertretbaren Mengen und Varianten. Und der Durst nach Milch steigt global: In einigen Ländern wird er künstlich erzeugt, weil die Industrie darin ein lukratives Geschäft erkennt. Neben den großen Agrarkonzernen aber gibt es sie noch: Beispielhafte Erzeuger, die nachhaltig wirtschaften und auf das Tier und sein Wohl achten. Ebenso gibt es die Verbraucher, die wissen möchten, wo und wie ihre Produkte hergestellt wurden und bereit sind angemessene Preise zu zahlen.

Um sich mit diesen Wegen und Perspektiven einer ökologischen Tierzucht auseinander zu setzen, luden Slow Food Deutschland und Misereor am 25. November 2017 auf das Hofgut Rengoldshausen am Bodensee in Süddeutschland ein. Denn hier gibt es sie: luftige, helle und angemessen große Ställe für Milchkühe, Jung-und Masttiere sowie Geflügel der ökologischen Tierzucht. Als Experten trafen an diesem Tag Rupert Ebner (Vorstand Slow Food Deutschland), Sarah Schneider (Referentin für Landwirtschaft und Welternährung bei MISEREOR), Inga Günther (Geschäftsführerin Ökologische Tierzucht gGmbH), Mirjam Neyrinck und Mechthild Knösel vom Hofgut Rengoldshausen sowie Günther Czerkus vom Bundesverband der Berufsschäfer e. V. zusammen. Bevor es in die inhaltliche Diskussion ging, stand der Einblick in die Praxis im Mittelpunkt. Inga Günther, Mirjam Neyrinck und Mechthild Knösel nahmen die rund 30 Teilnehmer mit in die Tierställe, wo diese alles rund um muttergebundene Kälberaufzucht, kraftfutterfreie Fütterung und einer ressourcenschonenden Kreislaufwirtschaft erfuhren.

Bild oben: Inga Günther und Mirjam Neyrinck erklärten den Gästen die ökologische Geflügelzucht.

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Vom Huhn zur Kuh

Inga Günther und Mirjam Neyrinck führten die Gäste zunächst in den Hühnerstall, das Kükenhaus sowie das Freilandgehege. Günther ist Geflügelzüchterin, Geschäftführerin der Ökologische Tierzucht gGmbH und Expertin für das Öko-Huhn von morgen. Mirjam Neyrinck ist hauptverantwortliche Tierbetreuerin der Hühner am Hofgut. Bei einem Zweinutzungshuhn werden beide Produktionsrichtungen abgedeckt, es liefert Fleisch und Eier. Ausgangsrasse dafür ist u. a. das Bressehuhn, welches am Hofgut gehalten wird. Dieses Tier wird in Frankreich üblicherweise zur Fleischverwertung gezüchtet und legt deutlich weniger Eier als das herkömmliche Hybridhuhn (180 Eier Bresse versus 330 Eier Hybrid/pro Jahr). Das erklärt den Preis für ein Bressehuhn-Ei: Dieser liegt bei 60 Cent. Auf besonderes Interesse stieß während der Führung die Frage nach dem Umgang mit den männlichen Küken. Für Günther ist klar: Männliche Küken, die bei der Erneuerung des Zuchtbestandes der ökologischen Tierzucht schlüpfen, werden aufgezogen. Manipulationen an Schnäbeln, Kämmen, Flügeln sind ein Tabu. Von ihren 150 Hähnen am Hofgut ist Günther begeistert. Denn die Hahnengruppe verhält sich untereinander nicht aggressiv, verschiedene Bereiche im Stall ermöglichen außerdem das Ausweichen von Rang niederen Tieren. Um den Futterverbrauch nachhaltig zu gestalten werden die Hähne neben Getreide auch mit Kürbis, Karotten und Kartoffeln gefüttert. Diese Vielfalt hält sie gut beschäftigt. Durch diese Art der Fütterung wachsen die Tiere langsamer und der Einsatz von hoch konzentrierten Futtermitteln ist nicht nötig. Und der Kükenstall? Hier toben sich 217 Kleine Küken für die ersten 6 Wochen ihres Lebens aus – und das, gemischt geschlechtlich. Eigene Kükenaufzucht ist kosten- und arbeitsintensiv, erläuterte Günther. Ein klassischer Legebetrieb wird diesen Aufwand in der Regel nicht betreiben.

Fortbestand und Aufbau einer eigenen Züchtung wie es die Ökologische Tierzucht gGmbH versucht, ist derzeit noch von finanziellen Zuschüssen abhängig, wobei Günther hoffnungsvoll ist: Damit das langfristig funktioniert, muss ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden. Wenn tatsächlich die Bereitschaft besteht, hohe Preise zu zahlen, wird es mehr Tierwohl und damit auch eine höherer Nahrungsmittelqualität geben.

Mechthild Knösel vom Hofgut Rengoldshausen züchtet seit 12 Jahren deutlich größere Artgenossen: Das Schweizer Original Braunvieh. Die Rasse ist eine Zweinutzungstrasse für Milch- und Fleischproduktion. Aktuell umsorgt Knösel 50 Tiere, deren Wohl ihr am Herzen liegt. Davon zeugt das von ihr entwickelte Stallkonzept, welches die verschiedenen Phasen der muttergebundenen Kälberaufzucht berücksichtigt: In Rengoldshausen bleiben Mutterkuh und Kalb im ersten Monat zusammen. Während sie in der industriellen Viehzucht direkt voneinander getrennt werden, betont Mechthild Knösel den Vorteil, Mutter und Kind beieinander zu lassen. Denn es ist die Mutterkuh, die sich am besten um ihr Kalb kümmern kann. Diese intensive Mutter-Kalb-Bindung ermöglicht es, die Kuh zwei Mal täglich zu melken, in einer Qualität, die sich spürbar auf den Geschmack der Milch auswirkt. Und das Kalb? Das wächst gesünder und kräftiger heran. Anschließend geht es in eine Art Kindergarten-Phase und die Kälber treffen nur noch zwei Mal am Tag ihre Mutter für ein bis zwei Stunden. So verläuft die emotional-physiologische Trennung entschleunigt ab. Mechthild Knösel selber hat eine sehr enge Bindung zu ihren Tieren und weiß, wann der richtige Moment ist, die Kleinen von ihren Müttern zu trennen. Ein solch enges Verhältnis zwischen Mensch und Tier kennt Günther Czerkus vom Bundesverband der Berufsschäfer e. V. auch aus seinem Tätigkeitsfeld. Hirten hätten bisher den industriellen Weg vermieden und Schafe würden wie wohl keine andere Tierart größtenteils noch immer zuhause geschlachtet. Profit lasse sich damit natürlich nicht machen erläuterte Czerkus. Aber wegen des Geldes würde auch niemand Schafe halten.

Bild oben: Beim Essen sind die Hähne und Hennen gut beschäftigt. Sie bekommen u.a. Kürbis, Karotten, Kartoffeln und Getreide.

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Für die Zukunft braucht es konsequente Entscheidungsträger und kritische Ko-Produzenten

Die Teilnehmer waren von den praktischen Einblicken in die ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft und ökologische Tierzucht sehr berührt und es warf Fragen nach Wegen in die Zukunft auf. Diese bündelte Moderator Jürgen Maier vom Forum Umwelt und Entwicklung in der anschließenden Diskussion. Der Gesprächsrunde war insbesondere daran gelegen, die globalen Zusammenhänge zu verstehen. Welche Auswirkungen hat unsere Art, Landwirtschaft im Norden zu betreiben, auf den globalen Süden? Wie verlaufen die großen Handelsbeziehungen beispielsweise bei Produkten wie Soja? Wie kann es sein, dass die externalisierten Kosten unserer Lebensmittel dem Verbraucher nicht in Rechnung gestellt werden? Wer zahlt für Waldrodung, Pestizidverseuchte Böden, klimabedingte Extremwetterereignisse, Landraub? Das Ausmaß an Profit-Interesse der Lebensmittelindustrie sowie die Konsequenzen des Auseinanderdividierens ganzer Produktionszweige über Kontinente hinweg führte immer wieder zu Kopfschütteln im Raum. Vor dem Hintergrund globaler Zusammenhänge betonte Sarah Schneider, Referentin für Landwirtschaft und Welternährung bei MISEREOR, die Bedeutung von Solidarität zwischen Landwirten, die bäuerliche Landwirtschaft betreiben. Das „Wachse oder Weiche“ Prinzip sei ein globales Phänomen, weshalb der Kontakt und die Unterstützung über Grenzen hinweg so wichtig sei. Nur so können dezentrale Strukturen und Unabhängigkeit von den großen Konzernen vorangetrieben werden. Und alle waren sich einig: Die politischen Entscheidungsträger müssen in die Verantwortung genommen werden, um endlich Rahmenbedingungen für eine bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft zu schaffen, die auch wirtschaftlich tragbar sei. Rupert Ebner wies darauf hin, dass sich die Politik dafür von den Lobbyisten der Agrarindustrie emanzipieren müsse und machte einen Anruf zur Teilnahme an der „Wir haben es satt!“-Demonstration, die am 20. Januar 2018 in Berlin stattfindet.

Aber, ganz im Slow-Food-Interesse ging es natürlich auch um die klugen und kritischen Verbraucher. Knösel wagte den optimistischen Blick nach vorne. Sie spüre bei vielen Menschen ein inzwischen deutlich kritischeres Bewusstsein und die Bereitschaft, einen angemessen Preis für Lebensmittel zu zahlen. Es sei viel in Bewegung in Richtung Nachhaltigkeit, bei Verbrauchern sowie Berufskollegen. Nichtsdestotrotz brauche es einen langen Atem. Das betonte auch Rupert Ebner und hielt außerdem fest: Genuss am Essen und Ernährung habe nicht unbedingt etwas mit viel Geld zu tun sondern vielmehr mit Wissen rund um das Lebensmittel.

Bild oben: Mechthild Knösel hat eine sehr enge Bindung zu ihren Tieren und weiß, wann der richtige Moment ist, die Kleinen von ihren Müttern zu trennen.

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Bild oben: Zum Ausklang des Tages gab es Köstlichkeiten vom Hof und aus der Region.

Alle Bilder:  © Slow Food / Rose Schweizer

Hintergrund:

Martin Luther hat vor 500 Jahren mit 95 Thesen auf die Missstände in der vorreformatorischen Kirche hingewiesen und damit auch die Reformation eingeleitet. Als Beitrag zum „Reformationsjahr Luther 2017“ präsentieren Slow Food Deutschland e. V. und Misereor „95 Thesen für Kopf und Bauch“ für eine "Reformation" unserer Ernährung. Sie machen damit auf die eklatanten Missstände und die Reformbedürftigkeit unserer Nahrungsmittelproduktion aufmerksam. Immer mehr Konsumenten möchten wissen, woher ihre Lebensmittel kommen, wie sie hergestellt werden und welche Auswirkungen die Produktionsweise ihres Essens auf Mensch, Tier und Umwelt hat. Slow Food und Misereor unterstützen diesen Prozess aktiv mit zehn Veranstaltungen zu Themen wie Boden, Klima, Essen, Mensch, Pflanzen oder Tiere. Ziel ist es, damit den gemeinsamen Dialog über unsere Ernährung zu verstärken und zu vertiefen.

Mehr Informationen:

Veranstaltungsreihe "95 Thesen für Kopf und Bauch"

Slow Thema: Agrarpolitik – Informationen, Aktionen und Positionen

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