Kommentar: Fleischesser und Vegetarier können voneinander lernen!

23.3.2017 – Die Slow Food Bewegung will die Lebensmittelerzeugung auf eine nachhaltige Basis stellen. Bei diesem Programm für eine zukunftsfähige Landwirtschaft sind kritische Veganer und Vegetarier als Partner herzlich willkommen. Ein Kommentar von Ursula Hudson, Vorsitzende von Slow Food Deutschland.
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Haben Sie sich schon einmal gefragt, was Ihr Essen gegessen hat? Wenn ja, gehören Sie zu den sehr bewussten Essern. Jene kleine, wenn auch stark wachsende Minderheit von Menschen, die sich dafür interessiert, woher das Lebensmittel stammt, das sie auf dem Teller vor sich hat und was mit ihm auf dem Weg dorthin so alles geschah.

Stehen Joghurt-Kulturen auf Gen-Soja?

Diese Frage nach dem Ursprung stellt sich nicht nur mir als Fleischesserin, sondern auch für Vegetarier oder Veganer ist dies eine Schlüsselfrage. Längst hat die Nahrungsindustrie auf die Nachfrage dieser stark wachsenden Käuferschicht mit einer Fülle von Angeboten reagiert: Es gibt zahlreiche Fleisch-Ersatz-Produkte (meist auf Soja-Basis), Aufreiß-Mahlzeiten und Nahrungsergänzungsmittel, die eine vermeintlich problemfreie, arbeitssparende und schnelle vegane oder vegetarische Sättigung ermöglichen. Trend-Convenience mit einem gewissen Coolness-Faktor, meist hergestellt in durchprozessierter Massenproduktion. Deren Zielgruppe: junge, zeitgeist-affine Aufback-Vegetarier und Mikrowellen-Veganer.

Nur, wie steht es um Qualität, Herkunft und Verarbeitung der Rohstoffe? Was hat die Sojabohne in meinem Veggie-Burger an Nährstoffen bekommen? Haben die Kartoffeln Glyphosat und Pestizide gegessen, die Tomaten Nährlösung gesaugt oder Fischexkremente? Hat mein Joghurt Gen-Soja aus Brasilien verzehrt und wurde die Hefe für mein Brot von Enzymen und kleinen Helfern aus dem Baukasten der Lebensmittelchemie genährt?

Wenn der Mensch zum Nahrungskonkurrenten des Menschen wird.

Fragen dieser Art verbinden die Slow-Food-Bewegung mit der großen Gruppe von kritisch denkenden Vegetariern und Veganern, die sich nicht nur einem Modetrend verbunden fühlen. Wir sind zwar keine grundsätzlichen Fleischverachter, doch auch wir setzen uns für eine drastische Reduktion der Lebensmittel tierischen Ursprungs ein. Der Fleisch-, Eier-, Käse- und Fischkonsum im wohlhabenden Teil der Welt ist zu hoch, weil er mit unzulässigen Kosten verbunden ist: Die Nachfrage wird von einer vollindustrialisierten Tierwirtschaft bedient, die zu massenhaftem Tierleid und Umweltzerstörung führt. Wertvolle Ackerflächen werden zur Ernährung der Nutztiere in der reichen Welt missbraucht. Der Mensch macht sich gedankenlos zum Nahrungskonkurrenten des Menschen.

Wir vergessen allerdings auch nicht, dass die Nutzung des Tiers weltweit von existentieller Bedeutung ist. In vielen Regionen erlauben Klima und Bodenqualität keinen ertragreichen Ackerbau. Als Erzeuger von natürlichem Dünger und Verwerter von Resten und Abfällen aus der Landwirtschaft sind Nutztiere zudem vielerorts Teil einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft. Oft mit überregionaler Bedeutung: Großräumige Weidelandschaften sind als wertvolle CO2-Speicher ohne die Verwertung von Milch und Fleisch der Weidetiere kaum zu bewahren. Eine intakte Kreislaufwirtschaft schützt die Bodengesundheit und trägt zum Erhalt der Artenvielfalt bei. Die entscheidende Frage für Slow Food heißt daher nicht, »ob« Tiere für die menschliche Ernährung genutzt werden, sondern »wie«.

Verallgemeinernd ist es das Kriterium, an dem sich alle Ernährungsweisen messen müssen: Stammen die dazu erforderlichen Lebensmittel aus einem zukunftsfähigen System oder nicht? Slow Food lädt daher die neuen Ernährungsbewegungen des Vegetarismus und Veganismus ein, Bündnispartner zu werden. Wir wollen Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung auf eine nachhaltige Basis stellen. Jeder ist uns herzlich willkommen, der die Prinzipien von »gut, sauber, fair« auch auf eine Ernährung (weitgehend) ohne tierische Lebensmittel anwendet.

Wie Gaumen und Hirn zueinander finden.

Was hat mein Essen gegessen? Diese Frage führt Gaumen und Hirn zusammen – bei Karnivoren, Vegetariern oder Veganern. Wir alle wollen, dass unsere Nahrung zukunftsfähig ist, dass sie schmackhaft, bekömmlich ist und auf dem Teller Freude bereitet. Dies sollte uns auch als Menschen zusammenführen – über alle durchaus vorhandenen gastrosophischen Differenzen hinweg. An der gemeinsamen Tafel im konvivialen Disput können Fleischesser wie Verzichter voneinander lernen; unser Verständnis von Genuss und gutem Essen gemeinsam weiterentwickeln.

Die kulinarische Tradition ist der Slow-Food-Bewegung sehr wichtig. Jede Region hat ihre eigene, das über Generationen weitergegebene Wissen um die Erzeugung und Verarbeitung spezifischer Speisen. Doch es ist ein kulinarischer Mythos, dass die Küche in Deutschland traditionell vielerorts fleischbasiert ist. Tatsächlich setzte der große Fleischhunger erst nach dem zweiten Weltkrieg ein, finanziert durch das Wirtschaftswunder.

Der Reichtum der deutschen "Cucina Povera"

Schlichter Kostendruck führte zur allmählichen Aufgabe der arbeitsintensiven fleischarmen Küche. Welcher Koch macht denn heute noch die wunderbaren Gerichte wie handgeriebene Kartoffelknödel, Nockerln oder Fingernudeln? Hier schlummert eine Aufgabe für uns alle: Die Wiederentdeckung einer deutschen »Cucina Povera«, wie sie mit ihren aufwendigen fleischlosen oder fleischarmen Herstellungsweisen einmal Tradition war. Eine Küche, die es überall gab, bevor uns die Industrierevolution in der Landwirtschaft glauben machte, dass das kulinarische Glück billig zu haben ist und dass es im Fleisch und nur dort allein liegt.

Dieser Kommentar von Ursula Hudson ist im aktuellen Slow Food Magazin 2/2017 erschienen.
Foto:
© Holger Riegel

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