»Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern.« So lautet das zweite der 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung in der Welt, der sogenannten Sustainable Development Goals, die die Vereinten Nationen 2015 formuliert und verabschiedet haben. Ein hoffnungsvoller Fahrplan für die Zukunft, an dem die Weltgemeinschaft ihr Tun und Handeln ausrichten sollte. Bis 2030, so die Vision, sollen die Ziele erreicht sein.
Setzen wir uns Ziele, um sie nicht einzuhalten? Und sind Menschenrechte dazu da, um verletzt zu werden? Das Recht auf angemessene Nahrung ist ein Menschenrecht. Von einer Umsetzung des Menschenrechts auf Nahrung und dem Ziel Zero-Hunger sind wir leider weit entfernt. Im Jahr 2021 hungerten mehr als 820 Millionen Menschen – 150 Millionen mehr als noch 2019. Damit hungert weltweit etwa jeder zehnte Mensch. »Zudem war 2021 fast ein Drittel der Menschheit – enorme 2,3 Milliarden Menschen – von mäßiger oder schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen, hatte also keinen regelmäßigen Zugang zu ausreichender Nahrung«, heißt es ernüchtert im UN-Bericht 2022, der sich mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung befasst. Das waren fast 350 Millionen Menschen mehr als Anfang 2020.
Produziert wird genug, nur mit der gerechten Verteilung klappt es nicht. Außerdem landet vieles von dem, was auf den Feldern heranwächst, zumindest in den Industriestaaten nicht auf dem Teller, sondern im Trog oder im Tank. In Deutschland beispielsweise werden knapp 60 Prozent des angebauten Getreides als Tierfutter verwendet, knapp 12 Prozent kommen für die Erzeugung von Energie zum Einsatz. In den Vereinigten Staaten wurden 2021 sogar über 35 Prozent der Maisernte und über 40 Prozent des Sojaöls für die Biokraftstoffproduktion verwendet. Weltweit werden jährlich 31 Millionen Tonnen Pflanzenöl in Biodiesel umgewandelt. Umgerechnet in Kalorien entspricht das der Menge, die benötigt wird, um mehr als 320 Millionen Menschen pro Jahr zu ernähren, so das International Food Policy Research Institute (IFPRI).
2022 haben durch die Folgen des Kriegs gegen die Ukraine noch mehr Menschen gehungert – mindestens 50 Länder beziehen laut UN wenigstens 30 Prozent ihres Weizens aus der Ukraine oder aus Russland, viele afrikanische und am wenigsten entwickelte Länder sogar mehr als 50 Prozent. Auch diese Krise legt wieder einmal offen, wie wenig resilient, wie unsicher und ungerecht unser globales Ernährungssystem ist. Instabile Lieferketten, Ernteausfälle durch vom Klimawandel bedingte Naturkatastrophen und der horrende Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise treffen vor allem die Menschen am stärksten, die eh schon von Armut betroffen sind. »Bereits vor der Ukraine-Krise sorgten die Marktbedingungen, hohe Energie- und Düngemittelpreise und andere Faktoren für hohe internationale Nahrungsmittelpreise. Im März 2022 lagen die globalen Nahrungsmittelpreise um fast 30 Prozent über denen des Vorjahrs und damit auf einem historischen Höchststand«, heißt es in dem oben genannten UN-Bericht. Auch wenn die Preise inzwischen wieder etwas nachgegeben haben: Die weltweite Ernährungsunsicherheit droht sich zu verschärfen. Für viele Menschen sind Lebensmittel schlicht und einfach unerschwinglich.
»Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.« (Mahatma Gandhi)
Geld allein macht noch nicht satt, aber ohne Geld bleibt man garantiert hungrig – vor allem, wenn man sich das eigene Essen nicht selbst anbauen kann, weil man keinen Grund und Boden besitzt oder kultivieren darf.
Deshalb umfasst die Forderung nach globaler Ernährungsgerechtigkeit viel mehr als das Sicherstellen von ausreichenden Lebensmittelimporten. Und auch mehr als das Zahlen fairer Preise für Kaffee, Schokolade oder Bananen an Bäuer*innen oder Genossenschaften, die für uns solche Genussmittel anbauen. Es geht um eine Ernährung, die gut, sauber und fair für alle ist – und zwar genau dort, wo die Menschen wohnen. Um eine Stärkung der regionalen Landwirtschaft und Wirtschaft überall auf der Welt. Um artenreiche Kulturen, soziale Gerechtigkeit und eine Vision von Nachhaltigkeit im Ernährungssystem weltweit. In einem Satz: Ernährungsgerechtigkeit bedeutet, dass Zugang und faire Teilhabe auf allen Ebenen gewährleistet sein muss – beim Anbau, der Verarbeitung, dem Handel bis hin zum Konsum.
Der Weg dahin ist noch weit. Für die globale Ernährungssicherung, den Zugang aller Menschen zu Nahrung – also in gewisser Weise auch für eine Ernährungsgerechtigkeit – ist seit 1945 die FAO zuständig, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, die von den Beiträgen der Länder finanziert wird. Mit mäßigem Erfolg. Die Welthungerhilfe forderte im Sommer 2022 die G7-Staaten auf, die Hungerbekämpfung endlich strukturell anzugehen und nicht immer nur auf Krisen zu reagieren. »Hungerbekämpfung kann nur gelingen, wenn wir die Produktion und den Konsum von Nahrungsmitteln weltweit verändern«, so Anne-Catrin Hummel, Senior Policy Advisor der Welthungerhilfe. Dafür bräuchten Menschen unter anderem einen fairen Zugang zu Saatgut und Land. Um die Selbstversorgungsrate im globalen Süden zu stärken, müsse das entwicklungspolitische Engagement für ländliche Regionen ausgebaut werden. Gleichzeitig stünden die von Hunger betroffenen Länder in der Pflicht. Das vor knapp 20 Jahren von der afrikanischen Staatengemeinschaft in der Maputo-Erklärung festgehaltene Ziel, zehn Prozent der nationalen Haushalte für die Entwicklung der Landwirtschaft und eine damit einhergehende verbesserte Ernährungssicherheit zu investieren, sei noch lange nicht erreicht.
Selbst die überzeugten Globalisierungs- und Markt-Apologeten des Weltwirtschaftsforums Davos warnten 2023 vor einer wachsenden Kluft zwischen reichen und armen Ländern. Global gerechte Lösungen sind aus Davos eher nicht zu erwarten. Hier trafen sich bislang diejenigen, die durch den Abbau von Handelsschranken wie Einfuhrzölle, durch den IWF, die Weltbank und Investitionsförderung von westlichen Unternehmen in den Ländern des globalen Südens die Globalisierung vorantrieben. Das führte zwar zu mehr Wachstum in vielen Ländern und Profiten bei den Konzernen, diente allerdings nicht der Ernährungssicherheit für die ganze Weltbevölkerung.
In der Zivilgesellschaft gibt es aber Initiativen, die lokale Märkte stärken und für mehr Ernährungssouveränität sorgen. So engagieren sich bei Slow Food über 1 Million Aktivist*innen, die in mehr als 10.000 Projekten in 160 verschiedenen Ländern daran arbeiten, allen Menschen gute, saubere und faire Lebensmittel zu garantieren. Ernährungssouveränität und -gerechtigkeit liegen ganz nah beisammen. »Ernährungssouveränität ist das Recht der Völker auf gesunde und kulturell angemessene Lebensmittel. Sie stellt die Bedürfnisse derer, die Lebensmittel produzieren, vertreiben und konsumieren, in den Mittelpunkt der Ernährungssysteme und -politik – und nicht die Anforderungen der Märkte und Unternehmen«, sagt Marta Messa vom Slow-Food-Büro Brüssel. Ernährungssouveränität beinhaltet für Slow Food aber auch einen transparenten Handel, der allen Völkern gerechte Einkommen garantiert sowie das Recht der Konsument*innen, autonome Entscheidungen bei Lebensmitteln und Ernährung zu fällen. Außerdem stellt Ernährungssouveränität sicher, dass die Rechte zur Nutzung und Bewirtschaftung von Land, Territorien, Gewässern, Saatgut, Viehbestand und Biodiversität in den Händen derjenigen liegen, die Lebensmittel erzeugen.
Nina Wolff, Vorsitzende von Slow Food Deutschland, fordert eine ganzheitliche Ernährungspolitik, um überhaupt in die Sphären einer Ernährungsgerechtigkeit zu kommen: »Wir erzeugen Lebensmittel auf eine Art, die unser Überleben gefährdet. Unser Ernährungssystem belastet Klima, Ökosysteme und soziale Beziehungen. Die Politik muss endlich angemessene Rahmenbedingungen für die Herstellung und für unsere Ernährungsweise setzen.« Das Bündnis #ErnährungswendeAnpacken, zu dem u.a. Slow Food, die Ernährungsräte und das Institut für Welternährung gehören, begrüßt, dass sich die Bundesregierung in ihren Eckpunkten für eine Nationale Ernährungsstrategie zugunsten einer pflanzenbasierten Ernährung ausspricht. Sie gilt als zentraler Hebel für das Erreichen globaler Umwelt- und Nachhaltigkeitsziele. Auch die Bekämpfung der Ernährungsarmut bekommt in dem Papier einen hohen Stellenwert.
Die so genannten Presidi sind konkrete Beispiele einer neuen nachhaltigen Landwirtschaft. Presidi sind Slow-Food-Gemeinschaften, die sich tagtäglich vor Ort für den Erhalt einheimischer Nutztierrassen, lokaler Obst- und Gemüsesorten, Brot, Käse, Wurstwaren, Süßigkeiten und mehr einsetzen – und das auf fünf Kontinenten. Ein Presidio – das italienische Wort bedeutet »Schutzraum«– versteht sich als Netzwerk von Engagierten aus Landwirtschaft, Lebensmittelproduktion, Handel und Wissenschaft sowie von bewussten Verbraucher*innen. Ins Leben gerufen wurde das Presidio-Projekt im Jahr 2000 von der Slow Food Stiftung für biologische Vielfalt, um Veränderungen mitzugestalten. Insgesamt 643 Presidi in 79 Ländern engagieren sich derzeit für die Weitergabe traditioneller Produktionstechniken und des Handwerks, sie kümmern sich um die Umwelt und sie werten Landschaften, Orte und Kulturen auf. Mit dem Erhalt der lokalen Lebensmittelvielfalt wird in vielen Ländern auch die Ernährungssouveränität unterstützt und vorangebracht – und die Abhängigkeit von den drei weltweit vorherrschend verzehrten Pflanzen Weizen, Reis und Mais verringert.
Zum Aufbau regionaler Kreisläufe und Wertschöpfungsketten sind von Slow Food International vor fast 20 Jahren die Earth Markets ins Leben gerufen worden. Sie sollen kleinen Erzeuger*innen und Lebensmittelhandwerker*innen die Möglichkeit geben, ihre Produkte direkt zu verkaufen. Wer hier einkauft, weiß, wer die Sachen angebaut bzw. produziert hat und für deren Qualität einsteht. Die Produkte sind lokal, frisch und saisonal; die Preise für beide Seiten fair. Es sind Orte, an denen man qualitativ hochwertige Produkte kaufen kann, aber auch Orte, an denen Gemeinschaften gebildet werden, die Austausch und Bildung ermöglichen. Mittlerweile gibt es 88 Earth Markets in 30 Ländern.
Gärten in Afrika ist ein weiteres Slow-Food-Projekt, das 2010 initiiert wurde, für die Ernährungssouveränität von über 50 000 Menschen in 35 afrikanischen Ländern sorgt und dabei ein wertvolles Netzwerk zur Ernährungsbildung geschaffen hat. Nachdem das ursprüngliche Ziel des Projekts von 1 000 Gärten bereits Ende 2013 erreicht worden war, hat sich Slow Food entschieden, die Initiative mit Engagement und Entschiedenheit fortzusetzen. Aktuell gibt es rund 3 600 Gärten. Durch das Anlegen der Gärten in afrikanischen Schulen und Dörfern lernen junge Menschen, wie wichtig die biologische Vielfalt und der Zugang zu frischem und gesundem Essen sind. Sie lernen den Wert ihres Landes und ihrer Kultur kennen. Die Gärten und die in ihnen arbeitenden Frauen und Männer stehen für einen Wandel, der auf der Wiederentdeckung von traditionellem Essen und Wissen basiert, in einer sozialen, das Land und die Umwelt respektierenden Wirtschaft. Sie können die Richtung zu einer alternativen Entwicklung weisen, bei der die Lebensmittelherstellung wieder an die lokale Gesellschaft und das Umweltbewusstsein angebunden ist. Das Projekt birgt enormes Potential für die Mitgestaltung einer zukunftsfähigen Ernährung und hält viele Lösungen für aktuelle Krisen wie Klimawandel, Biodiversitätsverlust und den Mangel an Ernährungssouveränität bereit. Außerdem stärkt und festigt es das Slow-Food-Netzwerk in afrikanischen Ländern.
Quelle: Erschienen im SF Magazin 2/2023. Die aktuelle Ausgabe des Magazins finden Sie immer unter: https://www.slowfood.de/was-wir-tun/zum-nachlesen/slowfoodmagazin/inhalt
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Slow Food Magazin:
Herr Mukiibi, Sie sind Agrar-
wissenschaftler, Aktivist, Pädagoge und seit Sommer vergangenen Jahres der neue Präsident von Slow Food International. Welche Rolle hatte Slow Food bis dahin in Ihrem Leben gespielt?
Edward Mukiibi:
Ohne Slow Food und Terra Madre wäre mein Leben ganz anders verlaufen. 2008 stieß ich zum ersten Mal auf die Bewegung, als ich nach einer großen Enttäuschung in meiner Karriere als Agrarberater damals nach neuen Lösungen suchte, um kleinbäuerlichen Betrieben in meinem Heimatland Uganda zu helfen.
Was war passiert?
Als engagierter Student wurde ich 2007 eingeladen, an einem Projekt zur Förderung von Hybridmais-Saatgut mitzuwirken. Dies Sorte galt als dürreresistent, und ich arbeitete gemeinsam mit einem Team daran, Bäuer*innen über den Anbau dieser Sorte zu informieren und sie zu schulen. Die versprochenen hohen Erträge konnten nur erzielt werden, wenn gleichzeitig die empfohlenen synthetischen Düngemittel eingesetzt wurden. Viele kauften das Saatgut und den Dünger für die
Anbausaison und waren bereit, diese neue Sorte anzupflanzen – die am besten in Monokultur gedeihen sollte, ohne traditionelle Zwischenfrucht- und Agroforstsysteme.
Aber gleich mit der ersten Pflanzperiode erlebte die Region eine extreme Dürreperiode und alle, die einen Teil ihrer Flächen ausschließlich für den Maisanbau genutzt hatten,
erlitten enorme Verluste. Ich konnte es kaum fassen, welchen Schaden das angerichtet hatte. Die Enttäuschung, Frustration und Verunsicherung der Betroffenen war groß. Das löste bei mir ein Umdenken aus in der Frage, welche Landwirtschaft für afrikanische Gemeinschaften funktionieren kann, um Hunger, Armut, Unterernährung und andere Ungerechtigkeiten wirksam zu bekämpfen. Noch während ich die Menschen um Verzeihung bat und mein Mitgefühl ausdrückte, begann ich, über eine neue Form der Zusammenarbeit mit ihnen nachzudenken.
Ich wollte ein Anbausystem mit aufbauen, das sich auf einheimische Ressourcen, überliefertes Wissen und traditionelle, vielfältige Kulturen stützte – und das ebenso widerstandsfähig ist wie frühere Systeme. In der Terra-Madre-Familie fand ich Gleichgesinnte, die mich ermutigten. Ich war überwältigt von den wunderbaren Menschen bei Slow Food, die alle an einer Wende zu einem nachhaltigen Ernährungssystem arbeiten und mich sehr inspirierten. Außerdem boten sich mir
Fortbildungsmöglichkeiten für den Aufbau von Schulgärten. Die sind wichtig, um jungen Menschen eine nachhaltige und resiliente Landwirtschaft, die auf den Erkenntnissen der Agrarökologie beruht, zu vermitteln und sie fürs Gärtnern und die Landwirtschaft zu begeistern. Dafür braucht es auch mediale Aufmerksamkeit, die wir
mithilfe von kommunalen Radiosendern schaffen. Auch dabei half das Netzwerk von Terra Madre.
Warum liegen Ihnen Schulgärten besonders am Herzen?
Das liegt wahrscheinlich auch an meinen persönlichen Erfahrungen, die ich während meiner Schulzeit gemacht habe. Da galt Feld- oder Gartenarbeit immer als Strafe. Es wurde als etwas Negatives angesehen und deshalb hatten junge Menschen darauf keine Lust. Das wollte ich ändern, zumal meine Eltern eine kleine Landwirtschaft hatten, die mich prägte. Ich möchte zeigen, wie sinnvoll es für die Ernährungssicherheit
der eigenen Familie und des Dorfes ist, ein Stückchen Land zu bewirtschaften. Übrigens ernähren kleine landwirtschaftliche Betriebe mehr als die Hälfte der Menschen weltweit, so die Statistik der Welternährungsorganisation FAO. In Afrika ist der Anteil noch viel höher.
2010 haben Sie dann das erfolgreiche Slow-Food-Projekt »1 000 Gärten Afrikas« initiiert.
Heute sind es bereits um die 3 600 Gärten, die viel zu einer lokalen Ernährungssouveränität der Bevölkerung beitragen, aber auch Wissen und Bildung vermitteln. Inzwischen heißt das Projekt »Gärten in Afrika« und es bekommt weltweit große Aufmerksamkeit. Ohne eine global vernetzte Organisation wie Slow Food wäre ein solches Riesenprojekt gar nicht möglich.
Sie kritisieren die Handelspolitik der EU mit ihren negativen Auswirkungen auf den
Globalen Süden. Können Sie konkrete Beispiele nennen, wie wir Europäer*innen die Ernährungssysteme zum Beispiel in afrikanischen Ländern beeinflussen?
Bis vor der Corona-Pandemie war die EU mit 200 Milliarden Euro pro Jahr der größte Investor auf dem afrikanischen Kontinent. Aktuelle Zahlen gibt es noch nicht. Und gleichzeitig ist Europa der wichtigste Absatzmarkt für Afrika.
Das hört sich doch erst einmal nicht schlecht an.
Ja, Investitionen sind für uns wichtig, aber wir brauchen gute Investition. Viele Investitionen zerstören jedoch unsere Umwelt, schaden dem Klima und den Menschen vor Ort, wie z.B. die Minen im Kongo oder die Abholzung von Regenwald für den Anbau von Soja. Die einheimische Bevölkerung hat meistens keine Wertschöpfung durch die Investitionen, nur der Investor selbst erhöht seine Gewinne. Ein anderes Beispiel ist China, das auch massiv in Afrika investiert: In seinem eigenen Land hat es sich zur Reduktion der CO 2 -Emissionen verpflichtet, dafür lagert es CO 2 -intensive Wirtschaftszweige in afrikanische Länder aus. Investitionspolitik ist oftmals Protektionspolitik, etwa beim Weinbau in Südafrika. Die meisten Weingüter gehören Europäer*innen, die die dort produzierten Weine dann wieder nach Europa verkaufen. Wo der Gewinn bleibt, ist klar.
Aber liegt es nicht auch in der Verantwortung afrikanischer Politiker*innen, wenn sie Lizenzen, zum Beispiel für Fang- und Schürfrechte, an die Meistbietenden verkaufen und ihrer eigenen Bevölkerung das Land und die Lebensgrundlage entziehen?
Das stimmt. Korruption stellt ein großes Problem dar. Aber für Landgrabbing sind in erster Linie ausländische Investoren verantwortlich, unterstützt von korrupten Politiker*innen. Die Leute, die vor Ort leben, sind dann die Leidtragenden. Lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen: An der westafrikanischen Küste haben Fischergemeinschaften, deren Ernährung von kleinen lokalen Fischarten abhängt, Schwierigkeiten, ihren Eigenbedarf zu decken. Der Grund: Europäische
Fischereikonzerne plündern die Bestände, um daraus Futtermittel für europäischen Zuchtlachs herzustellen.
...der Lachs, der bei uns in Deutschland mit großem Appetit verspeist wird.
Das zeigt: Was wir in einem Teil der Welt tun, hat große Auswirkungen auf Menschen in anderen Teilen der Welt.
Wenn Sie sich von der EU etwas wünschen dürften: Was wäre das?
Zuerst einmal sollte sie aufhören, ihre subventionierten tierischen Produkte zu Dumping-Preisen an afrikanische Länder zu verkaufen. Hühnchen, Eier, Milch aus der EU sind damit billiger als einheimische Produkte von afrikanischen Bäuerinnen
und Bauern. Das ruiniert diese. Aber auch billigeConvenience-Gerichte in Dosen, die ernährungsphysiologisch schlecht sind, weil sie oft zu viel Zucker enthalten, verhindern, dass die Menschen frische landwirtschaftlich erzeugte Hülsenfrüchte
aus der Region kaufen und selbst zubereiten. Afrika hat eine so große Vielfalt an Bohnen. Wenn die nicht mehr gekauft werden, führt das auch zu einem Verlust der Artenvielfalt.
Ebenso wie der großflächige Anbau von Mais?
Genau. Monokulturen, die viel Kunstdünger und Pestizide benötigen und abhängig von den großen Saatgutkonzernen machen, führen dazu, dass traditionelle Kulturen aus dem Blick geraten. Zum Beispiel gibt es auf dem afrikanischen Kontinent Hunderte verschiedene Sorten von Hirse, ein Getreide, von dem sich die Bevölkerung früher hauptsächlich gut ernährte. Überall dort, wo vielfältige traditionelle Kulturen auch in Agroforstsysteme angebaut werden, geht es der Bevölkerung besser als in Gegenden, die von industriellen Monokulturen geprägt sind.
Welche Kulturen außer Hirse sind noch typisch für afrikanische Länder?
Wir haben zum Beispiel über 50 Bananensorten. Außerdem Maniok und Yams, wie die Kartoffel Wurzelgewächse. Aber auch Hülsenfrüchte wie diverse Bohnen und Straucherbsen sind wichtige Nahrungspflanzen in Afrika.
Kommen wir zurück auf die Politik. Was würden Sie sich noch von der EU wünschen?
Investitionen in agrarökologische Projekte mit Humusaufbau und eigenem Kompost. In regenerative Agroforstprojekte, die dem Boden helfen, Wasser zu speichern. Und die Förderung von kleinbäuerlichen Strukturen sowie generell die Subventionierung von nachhaltiger Landwirtschaft, nicht nur in Afrika, auch in Europa und in
Deutschland selbst. Ich bin mir sicher, dass nur eine ökologische, kleinteilige Landwirtschaft – gemeinsam mit den Landwirt*innen – zur Ernähungssicherheit und einer gerechten Verteilung eitragen wird. Mit den Herausforderungen
durch den Klimawandel kommt die Agrarökologie auch besser zurecht als die industrielle Landwirtschaft mit Kunstdünger und chemisch-synthetischen Pestiziden.
Was servieren Sie mir als typisches Gericht Ihrer Region, wenn ich Sie in Uganda besuche?
In Bananenblätter gewickelte und gedämpfte Erdnusspaste mit verschiedenen gedämpften einheimischen Gemüsen.
Und andersherum gefragt: Haben Sie schon mal das typisch deutsche Gericht Bratwurst mit Sauerkraut probiert?
Ja, als ich in Bayern auf dem World Organic Forum war, und es hat mir geschmeckt. Ich bin immer neugierig auf typische Gerichte anderer Kulturen. Das interessiert mich sehr.
Welche Ziele haben Sie sich als Präsident von Slow Food für die nächsten Jahre gesetzt?
Ich möchte das Slow-Food-Netzwerk als globale Bewegung weiter stärken, damit wir weltweit größeren Einfluss auf eine gerechte Agrar- und Ernährungswende haben. Und ich lade alle herzlich ein, Teil dieser Bewegung zu werden.
Quelle: Erschienen im Slow Food Magazin 2/2023
>> Mehr Informationen zum Slow Food Magazin
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Herr Bäcker, Sie sind Bio-Winzer in Ahrweiler, mitten im Katastrophengebiet. Als vergangene Woche die Flut kam: Wann haben Sie gespürt, dass sich größeres Unheil zusammenbraut?
Christoph Bäcker: Das hat gedauert. Bei uns hat es nämlich gar nicht so fürchterlich geregnet. Die Regenmenge hätte allenfalls für ein leichtes Hochwasser gereicht. Es war die Flutwelle, die von der oberen Ahr kam, die Gefahr war schwer einzuschätzen.
Wann wurde Ihnen klar, dass die Lage tatsächlich katastrophal werden könnte?
Bäcker: Die Warnungen haben wir natürlich gehört, aber sie waren sehr dezent, nicht so, dass man wirklich alarmiert gewesen wäre. Ich habe im Fernsehen die Aussagen des Wetterdienstes verfolgt, aber diese Dramatik war nicht vorherzusehen. Richtig ernst wurde es erst am Abend, als die Höchststände des Hochwassers von 2016 überschritten wurden. Da wusste ich, es wird schlimm, das war kurz vor dem Dunkelwerden. Der Pegel stieg rasend schnell, man konnte zugucken, wie ganze Uferbereiche im Wasser verschwanden.
„Wir hatten noch nie Wasser im Keller“
Gerät man in solch einer Situation in Panik, was kann man tun?
Bäcker: Nein, wir waren nicht panisch. Wir hatten in unserem Betrieb, obwohl wir im Risikogebiet leben, noch nie einen einzigen Tropfen Wasser im Keller und sind erst mal ruhig geblieben. Wir haben zuerst unsere Fahrzeuge in Sicherheit gebracht. Als das Wasser weiter stieg und über die Straße in unser Haus floss, haben wir die wichtigsten Unterlagen zusammengepackt: Impfausweis, wichtige Dokumente, Unterlagen für die Buchführung. Das haben wir in die obere Etage gerettet. Allerdings wussten wir nicht, ob die Fenster halten und ob das ganze Haus volllaufen wird.
Nach bisherigen Informationen gibt es keine Toten in der Winzerschaft, aber Dörte und Meike Näkel vom Weingut Meyer-Näkel sind von der Flut mitgerissen worden; sie konnten sich auf einen Baum retten, auf dem sie sieben Stunden lang auf Hilfe warten mussten.
Bäcker: Ja, die Tankstellenbesitzerin bei uns hat mir das berichtet, es gab auch Bilder dazu im Fernsehen. Vermutlich sind die beiden zu ihrem Weinlager gegangen, um noch einige Dinge zu retten und sind von der Flut überrascht worden.
Viele Weinbaubetriebe sind komplett zerstört. Wie stark hat es Sie selbst erwischt, was ist von Ihrem Betrieb übrig geblieben?
Bäcker: Nicht viel. Die abgefüllten Flaschen sind okay. Aber vor allem die Maschinen sind hinüber: Gabelstapler, Kelter, Traubenmühle, Pumpen, aber auch die Barriquefässer, die großen Holzfässer. Das hat eine Dimension, die ich noch gar nicht abschätzen kann. Und wir haben kein Gas, kein Wasser, keinen Strom, kein Internet. Natürlich machen mir auch die Weinberge große Sorgen, die ich nicht vor den jetzt um sich greifenden Pilzkrankheiten schützen kann.
Wegen der Feuchtigkeit im Ahrtal breitet sich der falsche Mehltau aus. Jetzt werden aus Hubschraubern großflächig Fungizide gesprüht, um den Jahrgang 2021 zu retten.
Bäcker: Meine eigenen Bioflächen werden vermutlich auch besprüht, dagegen kann ich mich nicht wehren und es ist vermutlich sogar die einzige Möglichkeit, damit wir im Herbst überhaupt etwas ernten können. Am Montag kommen Kollegen von der Mosel, die mir hoffentlich helfen, meine Weinberge ökologisch korrekt übers Jahr zu bringen.
Es gibt vielleicht keinen waschechten Biowein, aber wenigstens eine Ernte?
Bäcker: Ich hoffe auf eine Sondergenehmigung für meine Bioweine. Diese Katastrophe ist nun wirklich ein Härtefall, den ich nicht verschuldet habe.
"Wohin mit den Trauben des neuen Jahrgangs 2021?“
Können Sie den 2021er Jahrgang bei befreundeten Winzern ausbauen?
Bäcker: Das wird schwierig. Da müsste ich die Trauben an die Mosel fahren. Ich weiß es einfach nicht. Wir brauchen Ersatzmaschinen und Lagertanks, dann müssen wir hoffen, dass es überhaupt noch etwas zu ernten gibt.
Wie sieht es bei den anderen Weingütern aus?
Bäcker: Die meisten liegen direkt an der Ahr und sind extrem betroffen. Es gibt ein einziges Weingut auf dem Berg, alle anderen hat es voll erwischt. Ich habe bisher nur mit einem Kollegen sprechen können. Im Moment kümmert sich jeder um seine eigene Katastrophe. Man kommt ja nirgendwo hin, auch nicht in die Weinberge.
Herr Bäcker, Sie sind seit 1990 Biowinzer, sie waren der erste an der Ahr. Sie sind engagiert im Umwelt- und Klimaschutz: keine unnötigen Kapseln an der Flasche, keine Banderolen, keine Pestizide, kein Kunstdünger. Sie haben sich mit der Natur verbündet. Jetzt hat die Natur ihre Existenz brutal attackiert. War alles Engagement vergeblich?
Bäcker: Ich kann der Natur doch nicht böse sein. Die Natur ist genau so, wie die Menschheit sie zugerichtet hat. Wir müssen jetzt die Ärmel hochkrempeln und weitermachen, auch wenn es schwer fällt. Ich habe familiäre Unterstützung, bin einigermaßen abgesichert, selbst wenn dies der Todesstoß für meinen Betrieb war.
Kann ihr Weingut ohne Abrissbirne wieder instandgesetzt werden?
Bäcker: Ich hoffe, es geht ohne Abrissbirne, aber ich weiß nicht, ob der Betrieb am Leben bleibt. Das hängt von vielen Entwicklungen ab. Werden sich die Weinberge erholen? Gibt es überhaupt eine Ernte? Wann kann ich wieder Wein verkaufen? Wann kommen wieder Besucher ins Ahrtal? Es wird viele Monate dauern, bis die Schäden halbwegs beseitigt sind. Diese Zeit zu überbrücken, das kann ich mir gegenwärtig nicht vorstellen.
Wie sieht es aktuell mit den Grundbedürfnissen aus: essen, trinken, schlafen, duschen, Toilette benutzen?
Bäcker: Da haben wir Glück. Wir sind in der Nähe in einer Schule untergekommen. Später können wir vielleicht bei Freunden unterschlüpfen. Unser eigenes Haus ist hoffentlich nicht unbewohnbar, da müssen jetzt die Statiker ran. Ist das Haus noch sicher? Zum Glück liegen Küche und Schlafzimmer im oberen Geschoss und sind unversehrt. Wir brauchen wieder Strom, Gas, Wasser. Dann kommt eine lange schwierige Renovierung, bis wir wieder ein liebenswertes Zuhause haben. Aber wo kriegen wir Handwerker her? Und Baumaterial? Vielleicht ist nächstes Jahr um diese Zeit das Weingut wieder aufgebaut.
"Wenn ich in den Weinkeller gehe, dann …“
Mit welcher Zuversicht beginnen Sie jetzt den Neuaufbau?
Bäcker: Manchmal, wenn ich sehe, welche Hilfe hier ankommt, bin ich ganz optimistisch. Da ist die Bundeswehr, das THW, da sind die Feuerwehren und private Helfer aus allen Ecken der Republik. Freunde meiner Tochter sind mit einem großen Trupp gekommen, haben Schlamm aus dem Keller geholt, eingestürzte Mauern abgetragen, eine wahnsinnige Unterstützung. Aber wenn ich in den Weinkeller gehe, dann kommen mir die Tränen.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie Herrn Laschet zuhören, der hier durch den Schlamm marschiert und sich als Klimaschützer inszeniert?
Bäcker: Tut mir leid, aber das ist einfach lächerlich. Das sind dieselben Sprüche, die nach jedem Hochwasser und nach jeder Katastrophe kommen. Die Lehren, die wir jetzt ziehen sollten – da passiert nichts. Der Kohleausstieg wird irgendwann kommen, viel zu spät. Das macht einen nur noch wütend.
Die Solidarität ist gewaltig, auch aus dem Ausland kommen viele Hilfsangebote. Halten die Winzer in der Krise zusammen?
Bäcker: Ich glaube schon, dass diese Katastrophe die Winzer zusammenschweißt. Meine Sorge ist allerdings, dass die Solidaritätswelle schnell wieder verebbt. Aus dem Auge, aus dem Sinn. Wir brauchen Hilfe über einen langen Zeitraum.
Was kann man den betroffenen Weingütern Gutes tun?
Bäcker: Wein von der Ahr trinken! Das wäre die größte Unterstützung. Das ist noch befriedigender als finanzielle Hilfe.
Haben Sie überhaupt noch Wein zum Verkaufen?
Bäcker: Die Weinflaschen, die in den Gitterboxen überlebt haben, sind in einem fürchterlichen Zustand und müssen alle neu etikettiert werden. Aber der Wein ist nicht verdorben.
Christoph Bäcker, Jahrgang 1961, erster Bio-Winzer an der Ahr (seit 1990), führt ein kleines Familien-Weingut mit nur 2,5 Hektar Rebfläche in Ahrweiler. Die Jahresproduktion liegt bei 20.000 Flaschen. Der Bio-Betrieb ist Mitglied im Bundesverband Ökologischer Weinbau und hat sich vor allem mit ausgezeichneten Früh- und Spätburgundern einen Namen gemacht. Bäcker ist verheiratet und hat zwei Kinder. Im benachbarten Mayschoß hat das Weingut eine Außenstelle.
Köch*innen stehen ebenso wie ihre Gäste unter dem Eindruck des Lockdowns. Dieser hat verdeutlicht: Restaurants und Lokale sind mehr als „nur" Orte des Essens und Genießens. Sie sind Orte für soziales Miteinander und die kulinarischen Visitenkarten einer Region. Es sind Orte, an denen Gastronom*innen die Brücke zwischen Bauch und Kopf schlagen können: Indem sie ihre Gäste über den Genuss für eine planetenfreundliche Ernährungsweise inspirieren. Köch*innen aus dem Slow-Food-Netzwerk haben bereits vor Jahren damit begonnen, den Genuss um die Verantwortung zu ergänzen. Dass sich immer mehr auf diesen Weg machen, spiegelt sich im stetig wachsenden Netzwerk der Chef Alliance sowie im Genussführer wieder. Beides sind wichtige Orientierungshilfen für Verbraucher*innen bei der Suche nach Gastronom*innen, die nachhaltig wirksam sind; die neue Genussführer-App ebnet den Weg mit nur wenigen Klicks. „Wir hoffen, dass Verbraucher*innen die App nutzen, um die Gastronomie nach den langen herausfordernden Monaten des Lockdown zu unterstützen", erklärt Wieland Schnürch, Leiter des Genussführer-Herausgeberteams.
Chefs und Chefinnen aus dem SFD-Netzwerk sind Multiplikator*innen zwischen Erzeugung, Verarbeitung und Gast. Der Weg zum Ursprung ihrer Lebensmittel ist für ihre Gäste transparent. Indem die Köch*innen vielfältige, frische und regionaltypische Lebensmittel mit kurzen Transportwegen bevorzugen, tragen sie zum Schutz von Mensch, Tier sowie Umwelt und Klima bei. Dieses Engagement habe Vorbildcharakter und verdiene Wertschätzung, meint Jens Witt. Er leitet die Chef Alliance: „Wenn diese ‚Netzwerkgastronomie' weiter wächst, sich ihr immer mehr Köch*innen der Außerhausverpflegung anschließen, gewinnen wir an Strahlkraft und ermutigen eine wachsende Anzahl an Menschen, ganzheitlich gesunde Ernährung mit guten Grundnahrungsmitteln auch in den eigenen vier Wänden umzusetzen. Wir brauchen diesen Dominoeffekt für die so wichtige Ernährungswende, die wir nicht aufschieben können."
Um nachhaltigen Gastronom*innen ihre wichtige Arbeit zu erleichtern, fordert Slow Food politische Unterstützung und Förderung. Stätten regionaler Wertschöpfung, vor allem die des Lebensmittelhandwerks, sind vielerorts der Industrialisierung zum Opfer gefallen. Hier braucht es eine Kehrtwende. „Seit der Corona-Pandemie genießt Regionalität bei vielen Verbraucher*innen wieder einen höheren Stellenwert. Diesem Interesse sollte die Politik Folge leisten und Anreize für verlässliche Versorgungsangebote in den Regionen schaffen", fordert Nina Wolff, amtierende SFD-Vorsitzende. Und die Verbraucher*innen? Auch sie können ihren Beitrag leisten, in dem sie bereit sind, für gute Erzeugnisse faire Preise zu zahlen.
Am Tag der nachhaltigen Gastronomie laden Köch*innen der Chef Alliance zu verschiedenen Events ein, u. a. in Hamburg, Ebersbach/Stuttgart und Holzkirchen/München (» Details).
» Informationen und Details zur Genussführer App.
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Tag der nachhaltigen Gastronomie: Am 18. Juni ist der Tag der nachhaltigen Gastronomie. Dieser wurde durch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen ins Leben gerufen.
„Jede*r Einzelne“, sagt die amtierende SFD-Vorsitzende Nina Wolff, am Ende einer stimmungsvollen Zeremonie, „hat die Kraft, etwas zu verändern.“ Das sei die wichtigste Botschaft des am 14. Juni zum ersten Mal verliehenen Ursula Hudson Preises in Gedenken an die viel zu früh verstorbene Vorsitzende von Slow Food Deutschland. Die Trägerin des UrsulaHudson Preises, Elisabeth Schmelzer, Gründerin und Inspiratorin von GreenfairPlanet, verkörpert dieses Potential jedes Einzelnen, etwas Positives zu bewegen. Schmelzer versetzt andere in Bewegung – und verursacht damit wiederum Bewegung.
80 Bewerbungen für die Erstvergabe des Preises
Tatsächlich ist genau das der Sinn dieses Preises: Zu zeigen und zu ermutigen, wie schon das Engagement Einzelner die Ernährungswende vorantreiben kann. Ursula Hudson galt national wie international als Vordenkerin für diese Transformation. Ihr Credo: Nur gemeinsam können wir etwas bewegen. Daran knüpft der nach ihr benannte Preis an und ehrt Einzelpersonen, Initiativen oder Gruppierungen.
„Hinter den Bewerbungen stehen inspirierende Persönlichkeiten und Initiativen, deren Gestaltungskraft unsere Wertschätzung und Hochachtung gebühren“, sagt Nina Wolff. „Die Bewerbungen zeichnen sich durch eine beeindruckende Vielfalt und Qualität aus, und sie machen Mut: Die Veränderung unserer Ernährungswelt ist möglich, vorausgesetzt wir haben ausreichend Motivation und Kreativität, Geschick und Ausdauer im Gepäck.“ 80 Bewerbungen landeten beim Kuratorium aus Ursula Hudsons langjähriger Wegbegleiterin Barbara Assheuer, der Journalistin Tanja Busse, Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel, der Chefin der Freien Bäcker Anke Kähler und dem Winzer und Lebensmittelaktivisten Sebastian John auf dem Tisch, die dann die „Qual“ der Wahl hatte. Aber eben auch die schöne Aufgabe, nach außen zu tragen, wie viele Menschen sich für eine saubere, gute und faire Ernährungswelt einsetzen, in der das Lebensmittelhandwerk und die planetenfreundliche Landwirtschaft über die industrialisiere Agrarwirtschaft gewinnen wird.
Ex-Bundesumweltminister Klaus Töpfer ermutigt zu Visionen
Ermutigung und Aufforderung zugleich ist dieser Preis, das wird auf der hybriden Verleihung in der Landesvertretung Baden-Württembergs in Berlin deutlich.
Etwa, als Professor Klaus Töpfer seine Keynote spricht. Der ehemalige Bundesumweltminister und Umweltschützer im Auftrag der Vereinten Nationen zitiert Ernst Bloch: „Nur das Erinnern ist fruchtbar, wenn es daran erinnert, was noch zu tun ist.“ Und zu tun ist in der Ernährungswelt trotz all der guten, Mut machenden Initiativen einiges. „Sind wir schon dort, wo wir hinwollen?“, fragt Töpfer und verneint natürlich. Das aber so, dass er Mut spendet, nicht Enttäuschung. Es gehe darum, auf dem Weg zu einer nachhaltigen Welt wagemutig zu sein. „Alternativen auch dann aufzeigen, wenn sie von Anfang an möglicherweise als unrealistisch gewertet werden“, wie Töpfer sagt. In dieser Disziplin sind die vier Finalist*innen, die das Kuratorium für die Nominierung des Preises ausgewählt hat, wahre Meister*innen. Von der Demokratiebewegung bis zum Bauernhof decken sie ein breites Spektrum ab.
Die vier Nominierten
Etwa der Ernährungsrat Oldenburg. Den gründeten Aktive in der niedersächsischen Stadt bereits vor vier Jahren, es war der erst fünfte Ernährungsrat in Deutschland überhaupt. Hier versammeln sich Menschen, die eine nachhaltige Ernährung in ihrer Stadt vorantreiben und die Politik entsprechend bewegen wollen. „Der Ernährungsrat Oldenburg zeigt vorbildlich die große Bedeutung von Ernährungsräten bei der Ernährungswende“, heißt es in der Begründung für den Hudson Preis. Oder, wie Laudator Pirmin Spiegel sagt: „Es scheint, dass das Wissen um Artenvielfalt, gutes Essen und Landwirtschaft durch die industrialisierte Landwirtschaft verloren geht. Gleichzeitig bestimmt unser Konsum Klima und Klimakrise mit. Darauf macht der Ernährungsrat aufmerksam.“
Vielfältige Akteur*innen und der Kampf gegen eine industrielle Landwirtschaft prägen auch das Leben auf dem Hof Pente. Die solidarische Landwirtschaft mit Hof-Kindergarten und Schule arbeitet beispielhaft an der Verbindung von fairer und ökologischer Lebensmittelproduktion mit Bildung für alle Altersstufen. „Für die Zukunft ist es wichtig, dass wir alle die Ernährungswelt bewusst mitgestalten“, sagt Mit-Antreiberin und Landwirtin Julia Hartkemeyer. „Ich kann jeden Landwirt nur ermutigen, seinen Hof zu öffnen. Es gibt viele Leute, die sich einbringen wollen.“ Das findet auch Preis-Kurator Sebastian John : „Wir brauchen dringend mehr Betriebe, die solche zukunftsfähigen Wege einschlagen.“
Einziger Einzel-Nominierter in der Finalrunde des Preises war Benedikt Haerlin. Und das ist naheliegend. Nicht nur, weil er dem ebenso empathischen wie durchsetzungsstarken Engagement der Namensgeberin des Preises durchaus ähnelt, sondern auch, weil Haerlin seit Jahren zu den prägenden Köpfen der Ernährungswende in Deutschland gehört. Er treibt die Agrarwende mit innovativen Ideen voran, theoretisch und praktisch. „Und er ist ein führender Kopf beim Bekanntmachen des Weltagrarberichts in Deutschland, des Weltackers und der Wir-haben-es-satt-Demo“, heißt es zur Begründung. „Das Motto, das für Benny gilt: Nicht über die Verhältnisse klagen sondern gucken, was sich verändern lässt“, sagt Laudatorin Anke Kähler. „Ich bin mir sicher, du bleibst im Denken radikal – und das ist gut so.“ Und dass daran kein Zweifel besteht verdeutlicht Haerlin selbst in seiner Dankesbotschaft: „Was sich dringend verändern muss, ist die Kontrolle einiger weniger internationaler Konzerne über die Grundlagen unserer Ernährung. Wir brauchen Ernährungssouveränität.“ Und dafür will er weiter streiten.
Das gilt wohl auch für die Gewinnerin des Ursula Hudson Preises, Elisabeth Schmelzer von GreenfairPlanet. „Alles was Sie machen, machen Sie mit Leichtigkeit und Freude“, sagt Barbara Assheuer in ihrer Laudatio an Elisabeth Schmelzer. Und sie macht sehr viel: Seit dem Jahr 2000 setzt sich GreenfairPlanet für gutes Essen, gute Landwirtschaft für alle sowie für die Bewahrung der biologischen Vielfalt und einen lebendigen Planeten ein. GreenfairPlanet steht als Verein für die kritische Auseinandersetzung mit Ernährung, Armut und Gesundheit, Nahrungsproduktion weltweit sowie der Vernichtung von Nahrungsmitteln als Teil des Wirtschaftssystems. „Ein Preis, den ich stellvertretend für alle Initiativen hier heute entgegennehme“, sagt Schmelzer. Sie zeigt somit, was Tanja Busse über die Gesamtheit der Finalist*innen zu Beginn sagte: „Wir verleihen heute einen Preis, bei dem es auch darum geht, zu zeigen, dass wir in einer Demokratie alle mitwirken und gestalten können.“
Autor: Sven Prange
]]>Wenn Robert Paxton den Zustand der Insektenbestände auf der Welt beschreiben soll, zeigt er eine Geste: eine Hand, die steil nach unten zeigt. „Wenn keiner etwas tut, fahren wir vor die Wand“, sagt der Chef der Zoologie an der Universität Halle. „Es gehen jedes Jahr drei Prozent Insektenbiomasse verloren. Ändern wir unser Verhalten nicht, ändert sich auch diese Tendenz nicht.“ Tatsächlich ist Paxton niemand, der bewusst schwarzmalt. Er gibt einfach wieder, was er seit mehr als zwei Jahrzehnten in seiner Feldforschung erlebt. Und die lässt sich so zusammenfassen: Fast alle Insekten auf der Welt werden ständig weniger. Und an kaum einem Tier lässt sich das so eindeutig zeigen wie an der Biene.
Insofern ist der Weltbienentag, jedes Jahr am 20. Mai, kein Festtag, sondern eher ein jährlicher Warnschuss. Das wurde während einer Web-Veranstaltung von Slow Food Deutschland (SFD) und dem Stuttgarter Institut proBiene am Weltbienentag deutlich. Die Diskussion zwischen Paxton, der amtierenden SFD-Vorsitzenden Nina Wolff und den Imkern Tobias Miltenberger, Franz Botens und Klaus Steinhilber, machte aber ebenso klar: Jede*r von uns kann aktiv etwas gegen das Bienen- und damit auch das Artensterben unternehmen:
Politischen Druck erhöhen
„Wir müssen den Notstand, den viele Bienenarten erleben, konsequent in die Politik tragen“, sagt der rheinland-pfälzische Imker Franz Botens. Er verweist auf eine fehlgeleitete Umwelt- und Landwirtschaftspolitik, die auf Kosten vieler Insekten gehe. Die amtierende SFD-Vorsitzende Nina Wolff appelliert deswegen, die Bundestagswahl zu einer Ernährungswahl zu machen und beim Wahlentscheid gezielt Nachhaltigkeitsaspekte zu berücksichtigen. Auch ganz praktisch lässt sich politischer Druck derzeit erhöhen: auf www.savebeesandfarmers.eu können Verbraucher*innen ein europäisches Bürgerbegehen für eine bienenfreundliche Politik unterstützen.
Bio-Lebensmittel kaufen
„Wir brauchen eine neue Beziehung den unseren Lebensmitteln“, sagt Imker und proBiene-Geschäftsführer Tobias Miltenberger. Denn viele Probleme der Arten- und Bienenvielfalt beginnen in einer Landwirtschaft, die unter dem Druck, billige Lebensmittel produzieren zu müssen, arbeitet. Dabei fallen Nachhaltigkeitsaspekte eben unter den Tisch. Ein erster Schritt: wertige Lebensmittel kaufen, am besten aus biologischer Erzeugung. Nicht nur, weil hier das Preisdiktat oft noch nicht ganz so hart greift, sondern auch, weil sie auf dem Feld bienenschonender sind. „Vor allem für Wildbienen sind Pestizide das größte Problem“, sagt Robert Paxton. Und diese Pestizide fallen eben im Bio-Anbau nicht an.
Regionale Wertschöpfung unterstützen
Dabei ist auch klar: Nur wenn Landwirt*innen von ihrer Arbeit leben können, können sie auch nachhaltig wirtschaften. „Landwirt*innen brauchen die Wertschätzung der Gesellschaft, sie sind Teil der Lösung“, sagt Nina Wolff. Und dafür braucht es unter anderem eine Rückverlagerung von Wertschöpfungsketten in die Region. Vor allem in klein strukturierten, handwerklich orientierten Kreisläufen von Lebensmittelhandwerker*innen und Landwirt*innen entstehen nachhaltige Lösungen.
Der Natur ihren Lauf lassen
„Seien Sie nicht so deutsch“, appelliert Robert Paxton. „Diese ganze Ordnung in Gärten und im öffentlichen Raum stört Insekten regelrecht.“ Totholzstapel, Beikräuter und ungemähte Wiesen schaffen Lebens- und Schutzräume für Insekten.
Blütenvielfalt fördern
Je vielfältiger Pflanzen sind, an denen Bienen Pollen sammeln können, desto robuster kommen sie über das Jahr. Und diese Vielfalt beginnt im Kleinen. Slow Food lädt deswegen ein, „Blumenbomben“ (eine Mischung aus Wildblumensamen, Lehm und Erde) herzustellen und am Wochenende im Garten oder auf öffentlichen Plätzen zu verteilen. Ziel dieser Kampagne ist es, das Bewusstsein für den dramatischen Rückgang der Bestäuber und der Artenvielfalt in Europa zu schärfen. Mithilfe dieser gemeinschaftlichen Aktion lädt Slow Food immer mehr Menschen dazu ein, selbst für Bienen und andere Insekten aktiv zu werden.
Wie sehr im Eigeninteresse von uns Menschen es ist, die Biene zu schützen – das zeigt nicht nur die enorme Bestäubungsleistung, die Bienen für die Landwirtschaft erbringen. Das führt auch Klaus Steinhilber, Demeter-Imker aus Rheinland-Pfalz vor. Etwa wenn er Honig von Dunklen Bienen präsentiert. Das ist eine Art Ur-Biene der Honigbiene. Die erzeugt einen Honig wie eine Aromen-Explosion. „Das kann sie aber nur, weil sie von mehr als 160 Pflanzen Nektar sammelt“, sagt Steinhilber. So eine ungewöhnliche Breite an Pflanzen fliegen „moderne“ Honigbienen nicht mehr an. Sie sind spezialisierter. Dennoch ist die Dunkle Biene fast ausgestorben – sie erbringt pro Jahr deutlich weniger Honigleistung als neue Züchtungen. Viele Imker*innen haben sie deswegen aussortiert. Klaus Steinhilber erhält sie dennoch – und mit ihr eine unglaubliche Honigvielfalt.
Autor: Sven Prange
]]>Der überwiegende Teil der Fische, Garnelen und Muscheln auf den Tellern der deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher wird aus aller Welt importiert. Seit Jahren wächst die Importabhängigkeit Deutschlands bei Fischprodukten und verweist damit auf den nach wie vor schlechten Zustand vieler Fischbestände in Nord- und Ostsee und auf eine weiterhin mangelhafte Umsetzung wissenschaftlicher und gesetzlicher Vorgaben für eine nachhaltige Fischerei. Eine erhebliche Menge importierten Fischs stammt aus Gewässern von Entwicklungsländern und gefährdet die dortige Ernährungssicherung, auch wenn Fischexporte armen Ländern zum Teil notwendige Einnahmen sichern. Doch neben der bestehenden Überfischung werden auch Versauerung und Erwärmung der tropischen Ozeane die küstennahen Fischbestände in den nächsten Jahren weiter reduzieren. Eine große Gefahr für Millionen von Menschen, die diese Fischgründe zur direkten Versorgung und für ihren Lebensunterhalt brauchen.
Zwar liegt der Verzehr von Fischprodukten in Deutschland 2019 mit 13,2 Kilogramm pro Kopf deutlich unter dem Weltdurchschnitt von über 20 Kilogramm, doch das Missverhältnis zum deutschen Fangertrag wird sich durch die Klimaveränderungen in Ost- und Nordsee noch weiter vergrößern. Fischerei und Klimapolitik müssen enger verknüpft werden. Schon heute zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, wie ohnehin belastete Meeresökosysteme und ihre Lebewesen durch die Klimaveränderungen weiter unter Druck geraten. So gibt es zum Beispiel immer weniger Hering in der Ostsee, weil die warmen Winter ihre Fortpflanzung beeinträchtigen. Überfischung und Klimawandel verstärken sich weltweit gegenseitig und verlangen mehr denn je eine neue Fischereipolitik, die die marinen Ökosysteme als Ganzes betrachtet.
Schon jetzt sind die Einbrüche bei den Fangerträgen dramatisch und Fischereien stehen vor dem Aus. Fischarten haben begonnen ihre Verbreitungsgebiete zu verlagern, ihre Biorhythmen zu verändern und ihre Körpergröße an die steigende Meerestemperatur anzupassen. Diese Folgen des Klimawandels sind mittlerweile überall in den Ozeanen zu beobachten. An die handwerklichen Fischer mit ihren kleineren Booten stellt dies die größten Herausforderungen: Sie müssen weiter hinaus aufs Meer, benötigen mehr Treibstoff und mehr Vorräte, neues Fanggerät, das dazu erforderliche Kapital. Ihre Fangfahrten werden aufgrund der vermehrten Unwetter noch risikoreicher.
Francisco Mari, Referent für Agrarhandel und Fischerei bei Brot für die Welt, sagt: „Nahrung aus den Weltmeeren muss auch in Zeiten der Klimaveränderungen als proteinreiches Angebot und zum Lebensunterhalt von Menschen im Globalen Süden erhalten bleiben. Während Fischkonsum bei uns zum Luxus werden könnte, darf es dazu in Entwicklungsländern niemals kommen, denn Fisch ist einer der wichtigsten Proteinlieferanten für Millionen Menschen entlang der Küsten. Die Industriestaaten müssen ihre Maßnahmen zur CO2-Reduzierung dringend verschärfen, aber auch Überfischung und illegale Fischerei stoppen. Die Schäden und Verluste durch den Klimawandel in der handwerklichen Fischerei sowie Anpassungsmaßnahmen müssen durch internationale Ausgleichsfonds kompensiert werden.“
Nina Wolff, die amtierende Vorsitzende von Slow Food Deutschland, sagt: „Klima- und Meeresschutz sind untrennbar miteinander verbunden. In Zeiten des sich immer offensichtlicher manifestierenden Klimawandels ist Überfischung endgültig tabu. Ein verantwortungsvolles Fischereimanagement muss heute in erster Linie der Widerstandsfähigkeit des jeweiligen Meeresökosystems gegenüber klimatischen Veränderungen dienen. Bei der Aufteilung kleiner werdender Fangmengen sollten handwerkliche Fischer mit möglichst umweltschonenden Fangmethoden grundsätzlich bevorzugt werden.“
Kai Kaschinski, der Vorsitzende von Fair Oceans, sagt: „Die ökologischen Auswirkungen des marinen Klimawandels verändern die Ozeane sehr grundlegend. Eine Entwicklung, der nicht national Einhalt geboten werden kann. Die internationale Fischereipolitik muss die Probleme, die mit dem Klimawandel einhergehen, deshalb grenzüberschreitend und in enger Kooperation lösen. Klimagerechtigkeit ist hierbei unerlässlich. Dazu gehört, dass die Küstengemeinden im globalen Süden, die laut der Prognosen des Weltklimarats am stärksten von den Folgen betroffen sein werden, umfassend durch entwicklungs- und klimapolitische Programme unterstützt werden bei ihrem Kampf gegen schwindende Fangerträge und den Untergang ihrer Siedlungen in den steigenden Fluten.“
Anlässlich des End of Fish Days 2021 veranstaltet Slow Food eine Lesung mit Diskussion am 19.03. Details zur Vearnstaltung finden Sie >> hier
Herr Prof. Spiller, der wissenschaftliche Beirat hat ein fulminantes Gutachten vorgelegt. Er verlangt eine neue, andere, nachhaltigere Ernährungspolitik, im Grunde eine echte Ernährungswende. Welche Reaktionen gab es?
Prof. Achim Spiller: Von den Kollegen aus der Wissenschaft kam viel Zustimmung, das Interesse ist groß. Bei der Politik muss man auf langfristige Wirkung setzen. Nach der nächsten Bundestagswahl, so hoffen wir, wird unser Gutachten im neuen Koalitionsvertrag hoffentlich seine Spuren hinterlassen. Man sollte realistischer Weise nicht erwarten, dass in dieser Legislaturperiode noch viel passiert.
Die Steuerung von Ernährungsverhalten ist bei den politischen Parteien ohnehin unbeliebt. Die Bauchlandung der Grünen mit dem harmlosen Veggieday haben alle noch im Hinterkopf.
Das stimmt und das haben wir in unserem Gutachten auch herausgearbeitet. Deutschland steht ernährungspolitischen Maßnahmen eher skeptisch gegenüber. In unserer kulturellen Tradition wird die Verantwortung für Ernährung an Familie und Individuum delegiert. Auch um das wichtige Thema Schulverpflegung kümmert man sich nicht sehr intensiv. Staatliche Einmischung ist also schwierig, der Veggieday hat auch bei den Grünen Blessuren hinterlassen. Immerhin scheint die Angst vor politischem Schiffbruch langsam zu schwinden, zumal die Bevölkerung ein riesiges Interesse am Thema Ernährung hat und die Herausforderungen groß und unübersehbar sind.
Wie soll nun aktive staatliche Ernährungspolitik konkret aussehen? Was hat erste Priorität?
Wir müssen das stark von Werbung und Marketing beeinflusste Ernährungsumfeld neu gestalten und wir müssen zweitens Ernährungspolitik als eigenständiges Politikfeld besser verankern. Das sind die wichtigsten Punkte. Das komplexe Thema einer wirklich nachhaltigen Ernährung beruht auf den „Big Four“: Umwelt, Tierwohl, Gesundheit, Soziales. Das sind die zentralen Ziele, die wir angehen müssen. Wie wichtig dabei das Soziale ist, haben wir diesen Sommer bei Tönnies gesehen. Um die vier Ziele anzugehen, müssen die Ministerien zusammenarbeiten: das Landwirtschafts-, aber auch das Umwelt-, das Gesundheits- und das Wirtschaftsministerium. Beim Thema Schulverpflegung gehören auch die Kultusministerien dazu.
Ist die Ernährung bei der Landwirtschaft überhaupt richtig aufgehoben? Oder sollte sie zur Gesundheit übersiedeln? Gerade baut auch das Umweltministerium eine eigene Abteilung Ernährung auf.
Das haben wir intensiv diskutiert. Klar ist, dass die Ernährung innerhalb des Ernährungs- und Landwirtschaftsministeriums eine größere Bedeutung bekommen muss. Wenn man sich die Mitarbeiterzahlen ansieht und das Budget, dann ist klar, dass dieses Haus viel stärker von der Landwirtschaft geprägt ist. Leider hat auch das Gesundheitsministerium das Thema Ernährung in den letzten Jahren eher vernachlässigt. Und die Zusammenarbeit von Frau Klöckners Haus mit dem Umweltministerium ist bekanntermaßen schlecht. Ernährungspolitik ist eine große Aufgabe, die Bundesregierung muss sie ressortübergreifend anpacken.
Sie haben im Gutachten viele konkrete Forderungen gestellt: ein Neuanfang bei der Kita- und Schulverpflegung, Werbeeinschränkungen und -verbote, den Fleischkonsum reduzieren und vieles mehr. Als Instrument wollen Sie unter anderem Steuern für Gemüse und Obst senken und für tierische Produkte erhöhen.
Wenn man das vernünftig begründet und wenn die Steuereinnahmen gezielt eingesetzt werden für mehr Tierwohl und Klimaschutz, dann steigt auch die Akzeptanz und dann gibt es wohl politische Mehrheiten dafür. Wichtig ist, dass wir die Ernährungsarmut im Blick behalten, die wir in Deutschland haben. Wir leben in einer gespaltenen Gesellschaft mit massiver Ernährungsarmut, gegen die wir etwas tun müssen. Wenn wir mit den Steuern die sozial Schwachen treffen, wäre das fatal. Diesen Menschen müssen wir helfen, weil sich in unteren Einkommensgruppen gesundheitliche Ernährungsprobleme ballen.
Sie verlangen ein Hilfsbudget, um den Betroffenen unter die Arme zu greifen?
Die Einnahmen aus den Steuererhöhungen für tierische Produkte und zuckerhaltige Getränke sollten zum Teil dafür verwendet werden, sozial schwache Haushalte zu unterstützen, das heißt, Preiserhöhungen durch eine jährliche Rückerstattung auszugleichen. Die Regierung sollte auch über eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze für Ernährung nachdenken, die nicht ausreichend sind.
Ihr Gutachten moniert, dass die Verantwortung für gute Ernährung auf die Verbraucher*innen abgeschoben wird. Warum sind die damit überfordert?
Weil sie keine faire Ernährungsumgebung haben, wie wir sie fordern. Mit welchen Werbebotschaften werden sie konfrontiert? Wie unübersichtlich sind die mehr als 200 Nachhaltigkeitslabel? Das wirkt sich stark auf eine ungesunde Ernährung und Lebensweise aus. Auch Kinder sind dem ausgesetzt. Beworben werden nämlich viel stärker problematische Lebensmittel.
Die Verbraucher*innen als Opfer des Marketings?
Es werden Milliarden für die Bewerbung ungesunder Lebensmittel ausgegeben, zum Beispiel von der Süßwarenindustrie, weil dort die Margen am höchsten sind. Mit Obst und Gemüse verdient die Lebensmittelindustrie sehr viel weniger Geld. Zur schlechten Ernährung gehört aber auch das Angebot. Schauen Sie doch mal, was Sie auf einer Autobahnraststätte essen können. Überall werden Snacks angeboten, meistens »Snacks to go«, damit werden wir überhäuft. Und: Wie werden welche Lebensmittel wo platziert? Wie sind sie gekennzeichnet?
Sie wollen den Kompass der Verbraucher*innen neu eichen, damit sie Snacks und Co. und den vielen falschen Werbebotschaften widerstehen?
Das fängt bei Kindern und Jugendlichen an. Für uns ist eine hochwertige und beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung ein zentraler Punkt. Wenn die Kinder mit einer qualitativ guten Ernährung aufwachsen, mit kleinerem Fleischanteil, mit gesunden Lebensmitteln, dann sind sie daran gewöhnt, das prägt das spätere Ernährungsverhalten. An vielen Schulen wird überhaupt keine oder keine vernünftige Schulverpflegung angeboten, es gibt große Qualitätsprobleme. Häufig wird das Essen stundenlang warmgehalten, furchtbar! Schulverpflegung darf auch nicht sozial diskriminierend wirken, wenn sie nur den ärmeren Kindern angeboten wird. Wir brauchen sie für alle und für alle beitragsfrei nach skandinavischem Vorbild in einem schönen Ambiente, damit das Essen auch wertgeschätzt wird. Das müssen uns unsere Kinder wert sein. Also raus aus dunklen stickigen Kellerräumen.
Kinder und Jugendliche trinken besonders viel Limo, Cola, Fruchtsäfte und andere Zuckerdrinks. Das sind Treiber für Fettleibigkeit und Diabetes.
Wir empfehlen eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke. Gerade Jugendliche sind sehr preissensitiv, da kann man viel bewegen. Wir brauchen außerdem eine klare Kennzeichnung durch den Nutri-Score. Und wir brauchen im öffentlichen Raum den Aufbau einer Trinkwasserversorgung mit Leitungswasser, dem nachhaltigsten und gesündesten Getränk.
Sie fordern einen verbindlichen Nutri-Score, der nach Plänen von Ministerin Klöckner nur auf freiwilliger Basis kommt. Sie wollen aber auch ein Klimalabel und ein Tierwohllabel einführen. Sind die vielen Label nicht eine erneute Überforderung der Verbraucher*innen?
Wir haben schon jetzt mehr als 200 Label in Deutschland, die das Thema Nachhaltigkeit adressieren. Wir wollen keine komplizierte Labelflut. Wir brauchen für die Ernährung vier Label: Nutri Score, ein staatliches Tierwohllabel, ein neues Klimalabel zusammen mit Bio und das Label für Fair Trade.
Wer baut für all Ihre Vorhaben den politischen Druck auf und welche Rolle spielt dabei die Zivilgesellschaft?
Die Zivilgesellschaft ist ein wichtiger Player. Freiwillige Selbstbeschränkungen der Wirtschaft, das zeigen viele Studien, bringen uns nicht entscheidend voran. Es bedarf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion und des politischen Drucks, um zu erreichen, dass die Verantwortung für Ernährung nicht allein den Individuen aufgehalst wird. Was zum Beispiel dazu führt, dass die stark Übergewichtigen stigmatisiert werden. Ernährung ist eine gesellschaftliche und politische Herausforderung, das müssen wir begreifen. Und wir müssen anfangen, neue politische Instrumente einfach mal auszuprobieren. Eine Steuer kann man, wenn man sie einführt, auch nachjustieren, das ist lernende Politik.
Die Zeit drängt, Klimaveränderung und Biodiversitätsverluste erfordern Tempo auch in der Ernährungspolitik. Haben Sie keine Angst, dass wir zu langsam sind oder, dass Ihr Gutachten in den Schubladen verschwindet und wieder nichts passiert?
Wir wissen von früheren Gutachten, dass sie keine unmittelbare Wirkung auf die Tagespolitik haben. Unser Gutachten von 2015 zum Tierwohl hat dennoch viel bewegt. Wir brauchen einen langen Atem, aber wir haben gute Hoffnung. In der Bevölkerung hat sich viel getan. Das Thema Ernährung, Fleischkonsum, Nachhaltigkeit interessiert Millionen, es gibt kaum ein anderes Thema, das die Menschen so stark beschäftigt.
Das Gutachten:
Mit seinem im Sommer 2020 vorgelegten Gutachten* hat der wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und Verbraucherschutz deutliche Kritik an der gegenwärtigen Ernährungspolitik formuliert. Er verlangt eine komplette Neuausrichtung und Stärkung des vernachlässigten Politikfelds Ernährung. Um unsere Gesundheit, Umwelt und Klima zu schützen, Ernährungsarmut zurückzudrängen, Sozialstandards einzuhalten und das Tierwohl zu erhöhen, müsste ein ambitionierter Neustart hingelegt werden. Kernsatz des Gutachtens: »Eine umfassende Transformation des Ernährungssystems ist sinnvoll, sie ist möglich und sie sollte umgehend begonnen werden.«
*Das Gutachten »Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten« ist als Kurzfassung oder in voller Länge per Download >> hier abrufbar.
Prof. Achim Spiller ist Ökonom an der Universität Göttingen, spezialisiert auf Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte, Verbraucherverhalten und die Ernährungsindustrie. Er ist zudem Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE), von dem das Gutachten »Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten« erarbeitet und im August 2020 an Ministerin Klöckner übergeben wurde.
Erschienen im Slow Food Magazin Ausgabe 6, 2020
]]>Unsere Böden haben „burn out“ und unsere Nahrungsmittel leiden an Nährstoffmangel. Gesunder Boden ist Grundlage für gute Lebensmittel und sauberes Wasser und er schützt unser Klima.
Die „Freien Bäcker e.V.“ machen derzeit mit einer Aktion „Bodenbrot“ auf die Misere aufmerksam. Vom Verkauf der Brote soll jeweils ein Euro der Ausbildung von Bodenbotschafter*innen zu Gute kommen. Weitere Infos dazu gibt es >>hier.
Zum Convivium München geht es >>hier.
]]>In Deutschland lässt sich trefflich speisen: regional, köstlich und „gesund“. Mit Lebensmitteln, die aus einer vielfältigen, ökologischen Landwirtschaft stammen, mit artgerecht gehaltenen Tieren.
Schön, wenn alle Menschen auf ein solches im Slow-Food-Sinne gesundes Essen Wert legen würden. Schlecht, dass in diesem Fall gar nicht genug für alle da wäre. Denn schon jetzt importiert Deutschland jede Menge Obst und Gemüse, weil die eigene Produktion bei Weitem nicht ausreicht.
Von Hülsenfrüchten und Nüssen gar nicht zu reden. Im Übermaß dagegen erzeugen Deutschlands Landwirt*innen Fleisch, Milch und Zucker. In Mengen, die weder für den Einzelnen noch für den Planeten gesund sind.
Wie eine für unsere Erde gesunde Ernährung aussehen könnte, hat 2019 die Eat-Lancet-Kommission mit ihrer »Planetary Health Diet« gezeigt. Sie empfiehlt eine weitgehend Pflanzliche Ernährungsweise, der man sich nach Slow-Food-Meinung nicht radikal verschreiben muss. „Für uns sind diese Empfehlungen ein spannender Kompass, der unterstreicht: Wir kommen um mehr Pflanzliches und weniger Tierisches nicht umhin, wenn wir die Welt ohne Labor-Essen gut ernähren wollen“, sagt Nina Wolff, amtierende Vorsitzende von Slow Food Deutschland. Nach Ansicht der Eat-Lancet-Kommission müsste die/der deutsche Durchschnittsesser*in drei Viertel weniger Fleisch, vier Fünftel weniger Eier und ein Viertel weniger Milchprodukte zu sich nehmen. Stattdessen stünden jede Menge Vollkorngetreide, Obst, Gemüse und Nüsse auf dem Speiseplan, dazu reichlich Hülsenfrüchte als Eiweißlieferant. Doch woher soll dieses Essen kommen? Im Moment produziert die deutsche Landwirtschaft nicht das, was nötig wäre.
Fleisch für den Weltmarkt
Deutschland ist nicht nur bei Maschinen und Geräten Exportweltmeister, sondern auch bei einigen tierischen Lebensmitteln. So wuchsen 2019 in Deutschland 53 Millionen Mastschweine heran und wurden geschlachtet. Die Hälfte von ihnen wurde als tiefgefrorene Hälften oder weiterverarbeitet zu Fleisch- und Wurstwaren exportiert. In andere EU-Staaten aber auch weit darüber hinaus. Bei Rind- und Geflügelfleisch ging je rund ein Drittel der heimischen Erzeugung ins Ausland. Die vier Millionen Milchkühe in Deutschlands Ställen lieferten 2019 insgesamt 32,4 Millionen Tonnen Milch, die von den Molkereien verarbeitet wurde. Die Hälfte dieser Milch wurde exportiert, vor allem als Milchpulver. All diese Tiere brauchen Nahrung und so ist es wenig verwunderlich, dass auf 60 Prozent der deutschen Ackerfläche Tierfutter wächst, vor allem Mais und Getreide. Doch das reicht nicht. Hinzu kommen noch mehr als drei Millionen Tonnen eiweißreicher Sojaschrot aus süd- und nordamerikanischen Monokulturen, die Deutschlands Landwirt*innen jedes Jahr an ihre Tiere verfüttern.
Viel zu wenig Obst und Gemüse
Ein erster Schritt zu einer planetengesunden Landwirtschaft wäre ein deutlicher Abbau der Tierbestände. Dies würde viel Futter-Ackerfläche freimachen für andere Erzeugnisse. Das wäre auch dringend nötig, denn bei den pflanzlichen Lebensmitteln klafft eine große Lücke. Das Bundesamt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) hat für das Wirtschaftsjahr 2018/19 bei Gemüse einen Selbstversorgungsgrad von 36 Prozent und für Obst von 22 Prozent ermittelt. Dieser Selbstversorgungsgrad ist im Prinzip ein einfacher Dreisatz: Man nehme die in Deutschland im Wirtschaftsjahr 2018/19 erzeugte Menge, etwa an Äpfeln. Das waren laut BLE 1 119 000 Tonnen. Diese Zahl wird durch die Menge an verbrauchten Äpfeln – frisch und verarbeitet – von 2 319 000 Tonnen geteilt. Das ergibt 0,48, also einen Selbstversorgungsgrad von 48 Prozent. Die anderen 52 Prozent wurden importiert, aus dem nahen Südtirol ebenso wie aus Neuseeland.
Dieser Selbstversorgungsgrad schwankt jedes Jahr. Je nachdem wie die Apfelernte ausfällt waren es auch schon 32 oder 60 Prozent. Damit liegen die Äpfel beim Obst in Sachen Selbstversorgung an der Spitze, gefolgt von Pflaumen, Erdbeeren und Johannisbeeren. Schon bei Birnen und Kirschen sinkt der Eigenanteil auf 20 Prozent. Aprikosen, Pfirsiche und Zitrusfrüchte sowie alle Trockenfrüchte kommen komplett aus dem Ausland, Bananen und Ananas sowieso. Für bio gilt das im Prinzip ebenso, auch wenn der Selbstversorgungsgrad bei Äpfeln 2018/19 bei 80 Prozent lag.
Gemüse aus dem Süden
Beim Gemüse können wir Deutschen uns zumindest bei Weiß und Rotkohl selbst versorgen, bei Sellerie reicht es fast und bei Lauch, Rüben, Kopfsalat und Blumenkohl kommen jeweils 70 Prozent von deutschen Betrieben. Bei den Zwiebeln wächst mehr als die Hälfte bei uns und ansonsten helfen die Niederlande und Spanien aus. Doch im Frühjahr, wenn die Lager leer werden und die neuen Zwiebeln noch wachsen müssen, kommt der Ersatz aus Ägypten oder Neuseeland. Was den Gemüse-Versorgungsgrad nach unten reißt, sind Fruchtgemüse wie Tomaten, Zucchini und Paprika, die fast komplett importiert werden. Gerade mal vier Prozent aller gegessenen Tomaten werden auch hier angebaut, die anderen kommen aus Italien, Spanien und den Niederlanden zu uns. Bio steht beim Fruchtgemüse etwas besser da, weil in den letzten Jahren mehrere große Bio-Gewächshäuser gebaut wurden. Doch auch hier kommt der Großteil an Tomaten & Co. aus dem Ausland.
Gründe für die geringe Selbstversorgung gibt es mehrere: Der Freilandanbau ist durch das Wetter beschränkt und nicht jedes Erzeugnis lässt sich über Monate lagern. Das Gefühl für Saisonalität
ist vielen Verbraucher*innen verloren gegangen. Schließlich gibt es im Laden immer alles zu (fast) jeder Zeit. Doch kommen diese Produkte dann eben aus Ländern mit viel Sonne wie Spanien oder Ägypten oder gleich vom anderen Ende der Welt, wo Sommer ist, wenn es bei uns schneit. Auch der Preis spielt eine Rolle: Arbeiter*innen in Polen oder auf dem Balkan ernten Äpfel, Zwetschgen und Beeren viel billiger als deutsche Betriebe. Ein Großteil des Obstes für die Verarbeitung kommt tiefgefroren von dort, bio und konventionell.
Eiweiß aus heimischem Anbau
Wenn die Deutschen weniger tierisches Eiweiß essen sollen, brauchen sie eine andere Eiweißquelle. Hier bieten sich Bohnen, Erbsen, Linsen und andere Hülsenfrüchte an, die hierzulande kaum noch erzeugt werden. Zwar hat sich die Anbaufläche in den letzten sechs Jahren auf 220 000 Hektar verdoppelt. Doch dort wachsen vor allem Ackerbohnen, Futtererbsen sowie Lupinen und Sojabohnen, die verfüttert werden. Nur ein geringer Teil kommt auf den Teller, meist zu Fleischersatzprodukten verarbeitet. Buschbohnen und Erbsen aus den Gärtnereien decken einen Teil des saisonalen Bedarfs. Getrocknete Bohnen kommen fast komplett aus dem Ausland. Das gilt übrigens trotz vieler Walnussbäume und Haselsträucher auch für Nüsse. Die Zahlen zeigen, wieviel zu tun ist, damit wir uns von einer regionalen Vielfalt pflanzlicher und tierischer Nahrungsmittel ernähren können, die tatsächlich gut, sauber und fair erzeugt und verarbeitet wurden. Da ist politischer Wille und staatliche Förderung gefragt, denn es fehlt an passenden Verarbeitungsstrukturen und an Erfahrung im Anbau ebenso wie an fairen Wettbewerbsbedingungen. Doch es gibt viele Beispiele, die zeigen was mit Engagement möglich ist.
Nachmachen erwünscht
Netzwerke von Biogärtnern wie Dreschflegel kümmern sich um die Erhaltung alter Gemüsesorten. Deren Vielfalt braucht es, um geschmackvolle und regional angepasste Sorten zu züchten, die auch mit schwierigen klimatischen Bedingungen fertig werden. Es waren Biobäuer*innen auf der Schwäbischen Alb, die den Arche-Passagier Alblinse aus einer russischen Genbank zurückholten und den Linsenanbau wieder heimisch machten. Andere begannen damit, in Brandenburg wieder Hirse anzubauen oder brachten mit der Lupine eine neue Hülsenfrucht auf den Teller. Deutsche Biolandwirt*innen haben sich auch an Senf und Sonnenblumen herangetraut, die bisher weitgehend importiert werden.
Es braucht auch regionale Strukturen, um diese Erzeugnisse zu verarbeiten. Zahllose Molkereien, Mühlen, Schlachthöfe oder Ölpressen sind in den letzten fünfzig Jahren dem »Wachsen oder Weichen«, der industriellen Ernährungswirtschaft, zum Opfer gefallen. Auch hier gibt es Beispiele eines Wandels: Stadtmolkereien in Bürgerhand, Metzger*innen und Kommunen, die wieder örtliche Schlachthäuser eröffnen, regionale Ölpressen und alte Mühlen, die ihre Zukunft mit regionalem Getreide sichern. Solidarische Landwirtschaften schießen wie die Pilze aus dem Boden und verbinden Verbraucher*innen und Biolandwirt*innen.
Bei all diesen Initiativen vor Ort darf die größte Stellschraube nicht vergessen werden: die EU-Subventionen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Expert*innen aus Wissenschaft, Umweltschutz und Bio-Verbänden sind sich seit Jahren einig: Gefördert werden sollen die Leistungen der Landwirt*innen für das Gemeinwohl und nicht wie bisher pauschal die bewirtschaftete Fläche. Die Zutaten also wären angerichtet. Nun muss gekocht werden.
Autor: Leo Frühschütz; erschienen im Slow Food Magazin Ausgabe 6, 2020
]]>Die Basis für ‚echten‘ Brot- und Biergenuss bilden aus Sicht von Slow Food Saatgutvielfalt, gesunde Böden, handwerkliches Know-How sowie Wertschätzung. Doch ist es um all dies nicht gut bestellt. Allein die Vielfalt unserer Kulturpflanzen ist in den vergangenen 100 Jahren durch die Industrialisierung der Landwirtschaft weltweit um 75 Prozent zurückgegangen. Saatgut-Monopole, Gentechnik, Klimawandel und Kriege sowie Preise, die den wahren Wert unserer Lebensmittel nicht abbilden, gefährden unser kostbares Erbe. Bei der Online-Verkostung zu Brot und Bier zeigt Slow Food die Stellschrauben für eine Landwirtschaft, Lebensmittel-erzeugung und Ernährung, die die planetaren Grenzen respektiert und gleichzeitig Genuss und Freude verspricht.
Welche Rolle spielt ein fruchtbarer Boden für gesundes Brot? Wie hängt die Vielfalt von Ackerböden mit der von Brot- und Biersorten zusammen? Wie können wir die Diversität erhalten und was ist sie uns wert? Wie schmecke ich handwerkliche Verarbeitung bei Brot und Bier heraus? Und welche Rolle spielt die Zutat ‚Zeit‘? Durch den Abend führt Katrin Simonis, Alumna der Slow Food Youth Akademie. Als Expert*innen an ihrer Seite sind:
Das Verkostungspaket enthält folgende acht Spezialitäten & kostet inkl. Versand 36 Euro:
Wie läuft eine Slow Food Deutschland Online-Verkostung ab? Sie melden sich an und erhalten von Beckabeck heimische Brot- und Bierspezialitäten zugesandt. Beckabeck ist somit Ihr Vertragspartner für das Verkostungspaket und stellt die Rechnung. Slow Food Deutschland ist Ideengeber und organisatorischer Partner und lässt Ihnen die Zugangsdaten und technischen Hinweise per E-Mail vor der Veranstaltung zukommen. Am 26.02.2021 schalten Sie sich um 19:00 Uhr live mit ein und können unter der Anleitung von Katrin Simonis zusammen mit den Produzent*innen und Expert*innen den Abend genießen.
Bitte melden Sie sich >> hier verbindlich bis zum 17.02.21 an. Mit der Anmeldung ist automatisch die Bestellung des Verkostungspakets bei Beckabeck verbunden. Der 17.02.21 ist letztmöglicher Bestell- und Anmeldetermin. Der Versand der Pakete erfolgt ab dem 22./23.02.21.
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Man kann sich die Lage der Welt wie eine Küstenstadt vorstellen, die ohne Schutz durch Deiche die nächste Sturmflut herantosen sieht. Da ist die erste Welle, die über die Küste zu schwappen droht und die Corona heißt. Gleich dahinter aber türmen sich schon zwei weitere Wellen: die Welle namens Klimakrise und die namens Artensterben. Der Umweltforscher Josef Settele ist eine der Stimmen, die vor dem Zusammenhang zwischen diesen drei großen Krisen warnen: Sie verstärken sich gegenseitig und drohen im Zusammenwirken unberechenbar zu werden. Oder wie Nina Wolff, die amtierende Slow Food-Deutschland-Vorsitzende, zur Eröffnung eines Podiums „Menschengesundheit nicht ohne Planetengesundheit“ sagte: „Eine Triple-Krise ist etwas, mit dem man sich ernsthaft auseinandersetzen sollte. Die Zeitfenster, das zu fixen, bemessen sich nicht in Jahrhunderten, sondern in Jahrzehnten. Mit anderen Worten: Unser Handeln ist jetzt gefragt.“
Das mag erstmal bedrohlich klingen. Erst recht in einer Zeit, die mit guten Nachrichten geizt. Und doch wohnt dieser Analyse etwas fundamental Konstruktives inne. Das jedenfalls verdeutlichten während der Podiumsdiskussion unter Moderation der Autorin Tanja Busse neben Nina Wolff auch die Ulmer Evolutionsökologin Simone Sommer, der Generalsekretär des internationalen Biodynamie-Verbandes Demeter, Christoph Simpfendörfer, und Hubert Hohler, gastronomischer Leiter der Buchinger Wilhelmi Klinik am Bodensee und Mitglied der Slow Food Chef Alliance. Denn eine Erkenntnis, die sich durch die Beiträge der Diskutanten zog: Jenseits der nötigen großen Schritte durch die Politik gibt es auch viele kleine Schritte, die jede*r Einzelne von uns gehen kann, diese Krisen einzudämmen. Und diese Schritte führen über unsere Ernährung.
„Eine Erkenntnis ist, dass wir keine einzige dieser Krisen bewältigen werden, wenn wir unserer Art, Lebensmittel herzustellen, zu handeln und zu verzehren, nicht radikal ändern“, sagt Nina Wolff. Das verdeutlichen zwei Zahlen: pro Kopf verbraucht jeder Mensch in den industrialisierten Ländern heute etwa 80 Kilogramm mehr Lebensmittel pro Jahr als noch in den 1950er Jahren. Und der Planet muss heute mehr als drei Mal so viele Menschen ernähren wie damals. Es wird enger auf dem Planeten, Mensch und Tier drängeln sich um immer weniger Flächen.
Wo es Tier und Mensch zu eng wird
Da ist es kaum ein Wunder, dass Simone Sommer sagt: „Gut 60 Prozent menschlicher Infektionen sind heute Zoonosen.“ Also Krankheiten durch Erreger, die von Tieren auf den Menschen überspringen, wie eben der Corona-Erreger. „Und eine der treibenden Kräfte dabei“, sagt Sommer, „ist der Verlust der Biodiversität.“ Für Sommer ist deswegen klar: „Zoonosen nehmen schon aufgrund der demographischen Entwicklung zu: Wir sind einfach sehr viele Menschen. Hinzu kommt, dass industrielle Landwirtschaft und Umweltveränderungen, etwa durch Entwaldung, die Voraussetzungen für Zoonosen vereinfachen.“ Sie sieht den nicht-nachhaltigen Teil der Landwirtschaft als Baustein, aus dieser Lage herauszukommen. „Eine gesunde Menschheit ist nicht zu trennen von der Gesundheit von Tieren und Umwelt.“ Menschengesundheit führt eben nur über Planetengesundheit.
Ein Ernährungsstil für den Planeten
Den Gedanken hat bereits vor zwei Jahren die Eat-Lancet-Kommission formuliert und in eine Planetary Health Diet, also eine Ernährung innerhalb der planetaren Grenzen, übersetzt. Die Idee dahinter ist so einleuchtend wie Slow Food kompatibel: jeder Mensch muss seine Ernährung so ändern, dass er der Erde nur das an Ressourcen entnimmt, das ihm rechnerisch zusteht. Das heißt nicht, dass alle Menschen nur noch Getreide oder nur noch Gemüse essen. Aber dass sie sich ihres rechnerischen Ressourcenverbrauches bewusst werden. „Es kommt auf das rechte Maß an“, sagt Nina Wolff. „Und auf die Verortung: Diese Ernährung wird an der Küste anders aussehen als in den Bergen, auf dem Land anders als in der Stadt.“
„Wir brauchen dafür regionale Kreisläufe“, sagt Demeter-Mann Christoph Simpfendörfer. „Und wir müssen Regionalität neu denken: Wir brauchen regionale Produkte, die Tier und Planeten gerecht werden.“ Entscheidend ist dabei die Verknüpfung von Regionalität und ganzheitlicher Nachhaltigkeit: im Lebensmittelanbau wie in der Verarbeitung. Wenn die Pute aus der Region gequält oder mit Soja aus Brasilien gefüttert wird, später dann von Billiglöhnern in Industrieschlachthäusern getötet wird, löst das keine sondern schafft neue Probleme.
„Wir müssen eben wieder essen, als ob es ein Morgen gäbe“, sagt Hubert Hohler. „Unser täglich Brot geb uns heut, ist ok. Unser täglich Fleisch gib uns heute, geht nicht.“ Er wirbt deswegen dafür, durch die eigene Ernährung vier Komponenten unter einen Hut zu bringen: Gesundheitsverträglichkeit, Wirtschaftsverträglichkeit, Sozialverträglichkeit, Umweltverträglichkeit.
Wo Politik eingreifen muss
Das ist gleichermaßen Auftrag an Politik und jede*n Einzelne: Denn viele kleine Schritte helfen genauso, die Herausforderungen zu lösen, wie es auch die großen politischen Schritte braucht. Da stimmt es einerseits zuversichtlich, wenn hohe Vertreter*innen der Europäischen Kommission wie Präsidentin Ursula von der Leyen oder ihr Vize Frans Timmermanns von „Ökozid“ oder einem „Paris-Abkommen für die Artenvielfalt“ sprechen. Gleichzeitig steuert die Agrarpolitik der Gemeinschaft weiter in die falsche Richtung.
Dabei gäbe es hier wirkungsmächtige Hebel. Simone Sommer sagt: „Die Politik müsste 20 Prozent der Flächen zu Rückzugsflächen für die Natur machen, ganz konsequent.“ Natürlich bräuchten Landwirt*innen dann einen finanziellen Ausgleich dafür. Aber dass das wirkungsvoll sei, sei kaum zu bestreiten. „Wir reden schon sehr lange, aber es ist mühsam, das in den politischen Prozess zu bekommen“, sagt Sommer.
Weniger Verbrauch, mehr Wirkung
„Politik ist das eine“, findet Christoph Simpfendörfer. „Aber es ist schon so, dass jeder Einzelne etwas tun kann. Wenn man sich seine monatlichen Ausgaben anschaut, sieht man schon, was man alles bewegen kann.“ Das zeigt allein der Zusammenhang zwischen den drei großen Qs Quantität, Qualität und Quantum, den Hubert Hohler aufzeigt: Noch in den 50er Jahren sei es vor allem um Versorgungssicherheit, also die Menge an Lebensmitteln gegangen. Es folgte eine Phase der Qualitätssicherung. Und heute sie die Zeit es Quantums: „Wir fragen heute nicht mehr nach dem Qualitätsproblem, sondern nach dem Quantum: Wann ist es genug?“, formuliert Hohler und spielt damit auf die Frage an, die jede*r von uns beim Erstellen des Speiseplans im Kopf haben sollte.
„Wir müssen ganz klein und ganz groß denken: Gleichzeitig mit den Achtjährigen gut, sauber und fair kochen lernen und die großen Schritte, von unseren Politikern einfordern“, sagt Nina Wolff. Und gleichzeitig natürlich den Genuss nicht vergessen. Denn, auch den ermöglicht eine Ernährung innerhalb der planetaren Grenzen. Die Formel weniger tierische, mehr pflanzliche Ernährung, etwa im Verhältnis 20:80, bedeutet nicht weniger Genuss. Nina Wolff sagt mit Blick auf Slow Foods Wirken: „Ich würde sagen, wir haben dafür einen lebens- und genussbejahenden Ansatz entwickelt.“ Denn am Ende führt nicht nur ein gesunder Planet zu einem gesunden Menschen, sondern auch eine Ernährung, die Freude bereitet.
Autor: Sven Prange
]]>Über das Buch
„Leckerland ist abgebrannt“, das drei Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste stand, ist kein klassischer Ratgeber. Manfred Kriener stellt keine Gebote auf, schreibt weder auf noch vor, was wir essen sollen und was nicht. Er hat ein Informationspaket geschnürt, mit dem Verbraucher*innen ihren eigenen Kompass neu justieren und sich selbst ermächtigen, kluge Ernährungsentscheidungen zu treffen. Krieners Buch vermisst in elf Kapiteln die kulinarische Landschaft, mitunter scharf gewürzt, aber immer nahrhaft für Kopf und Bauch. Er beschreibt Orte und Un-Orte unserer Nahrungsmittelerzeugung; er beantwortet, warum Lachse zu Veganern erzogen werden, wann das erste Laborfleisch in den Regalen liegen wird und was Veganer*innen auf dem Oktoberfest machen.
]]>Versorgung in der Pandemie, Klimakrise, Artensterben: In kaum einem Bereich laufen die großen Herausforderungen unserer Zeit so zusammen, wie in der industriellen Landwirtschaft. Sie verursacht und ist zugleich anfällig für systemische Krisen : Indem sie zu viel CO2 ausstößt, zu viel Pestizide einsetzt, zu viel Fleisch produziert. Und indem sie die Menschen im Agrarsystem ausbeutet, wie die aktuellen Landwirt*innen-Demos vor Supermärkten zeigen. Oder anders gesagt: Die Art, wie der Großteil der Land- und Lebensmittelwirtschaft arbeiten, führt immer weiter in eine Sackgasse – und bisher ist es niemandem gelungen, auf diesem Weg zu bremsen. Das ist in etwa das Fazit des diesjährigen Kritischen Agrarberichts, den das ArgarBündnis, ein Zusammenschluss von 26 Organisationen aus dem Spektrum nachhaltiger Land- und Lebensmittelwirtschaft, erstellt hat. Titel: „Welt im Fieber – Klima & Wandel.“
„Die Corona-Krise verdeutlicht einmal mehr, dass die menschliche Gesundheit, das Wohlbefinden von Tieren und die planetare Gesundheit nicht isoliert betrachtet werden dürfen und ganz wesentlich von der Art und Weise abhängen, wie wir Nahrungsmittel produzieren, verarbeiten, handeln und konsumieren“, heißt es in dem Bericht, den mehr als ein Dutzend Fachautoren aus Wissenschaft, Politik, Landwirtschaft und Verbraucherorganisationen verfasst haben. Dabei stellt der Bericht, neben einem generell bedenklichen Gesamtzustand der Landwirtschaft, drei Hauptbaustellen heraus: Die soziale Situation auf den Höfen, die Mit-Verantwortung der Landwirtschaft für die Lösung von Klimakrise und Artensterben, sowie die Frage nach mehr Tierwohl.
Klimakrise und Artensterben: Myriam Rapior, Bundesvorstand der BUNDjugend, warnte während der Vorstellung des Berichts davor, dass in Zeiten der Corona-Pandemie die Zwillingskrise aus Klimawandel und Artensterben vergessen wird: „Unsere Bauernhöfe müssen umwelt- und klimaschonend werden, dafür müssen wir die Agrarwende schnellstmöglich angehen. Die Landwirtschaft kann Teil der Lösung der Klimakrise sein, doch sie braucht die Unterstützung der Bevölkerung und der Regierenden.“
Tiere: Zu viel Nitrat im Boden, desaströse Zustände in vielen Ställen, Skandale in Schlachtbetrieben. Die deutsche Landwirtschaft hat ein Tierproblem. „Zentraler Bestandteil einer umfassenden Agrar- und Ernährungswende ist die drastische Reduktion der Tiernutzung und die gezielte Förderung vegetarischer und veganer Ernährungsstile“, sagt BUND-Aktivistin Myriam Rapior. Für Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, gelingt mehr Klimaschutz nur im Schulterschluss mit mehr Tier-, Arten- und Umweltschutz: „Konsum und Produktion von tierischen Produkten müssen erheblich gesenkt werden.“
Wirtschaftliche Lage: Ob das Auf und Ab bei Schweinepreisen, die Dauerturbulenzen am Milchmarkt oder das immer weitere Steigen der Bodenpreise: Der Bericht macht auf die prekäre wirtschaftliche Situation auf vielen Höfen aufmerksam. Philipp Brändle von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) sagt: „Fakt ist auch, dass die wirtschaftliche Situation vieler Betriebe aufgrund einer über Jahrzehnte auf Intensivierung getrimmten Agrarpolitik sowie unanständig niedriger Erzeugerpreise oft desaströs ist.“
Das Berichts-Bündnis plädiert deswegen dafür, bei der anstehenden Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU das Instrument der sogenannten Öko-Regelungen gezielt und umfangreich zu nutzen. Diese Eco-Schemes böten die Chance, Höfe für gesellschaftlich gewünschte Ziele zu honorieren – und so gleichzeitig Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Situation der Betriebe zu verbessern.
Das schlägt auch die Brücke zum Beitrag von Slow Food Deutschland zum Kritischen Agrarbericht. Im Zusammenspiel von Praktikern und Wissenschaftlern entstand in den vergangenen Jahren eine Studie zu Umweltgerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der Milchwirtschaft. Eine der Kernbotschaften: Höfe sollten nur so viel Milch produzieren und so viele Kühe halten, wie sie von ihren Flächen ernähren können. Genau darin sieht Slow Food-Projektbeauftragte und Studien-Autorin Andrea Lenkert-Hörrmann einen Auftrag an die Agrarpolitik: „Die Eco-Schemes bieten die Chance, Landwirtinnen und Landwirte an den richtigen Stellen zu fördern.“ Ein Hof müsse so unterstützt werden, dass er auch mit weniger Tieren wirtschaften könne. „Gutes Weidemanagement ist die beste Voraussetzung für den Schutz von Klima und Artenvielfalt und sollte honoriert werden“, sagt Lenkert-Hörrmann. „Dann führen Eco-Schemes auch zu einer nachhaltigen Milchwirtschaft.“
Höfe besser für gesellschaftliche Leistung zu entlohnen, würde auch ein anderes Problem lösen – die zunehmenden Feindbilder zwischen unterschiedlichen Lagern in der Agrardebatte. Fortschritt, betonen die Beteiligten der Studie, geht nur, wenn die Menschen in der Landwirtschaft nicht gegeneinander streiten. Frieder Thomas, Geschäftsführer des Agrarbündnisses, sieht immerhin dafür gute Ansätze: „Mittlerweile gehen auch diejenigen auf die Straße, die dem System gefolgt sind.“
Autor: Sven Prange
]]>Die Versiegelung fruchtbarer Böden durch Umwandlung in Siedlungs-, Gewerbe- und Verkehrsflächen sowie die intensive Landwirtschaft sind die Hauptgründe für den Verlust von Böden und Bodengesundheit. Bäuerinnen und Bauern, insbesondere in regionalen, transparenten Wertschöpfungsketten, können den Boden so beackern, dass seine natürliche Fruchtbarkeit erhalten bleibt. Doch nach wie vor sind wertvolle Ackerböden Spekulationsobjekte für außerlandwirtschaftliche Kapitalanleger. Zwar stellt die Thematik längst eine globale Herausforderung dar, doch liegt ein konkreter Handlungsrahmen oft auch auf lokaler/regionaler Ebene. Durch gebündeltes Engagement und wirksame Zusammenarbeit lassen sich hier Veränderungen bewirken.
Freie Bäcker*innen schaffen Aufmerksamkeit für das Thema Boden am eigenen Laib
Initiiert wurde die Aktion BODEN-BROT insbesondere, um auf die bestehenden Risiken des Humusverlustes in unseren Böden aufmerksam zu machen. Um die Bodenfruchtbarkeit, die Erträge und die Wasserspeicherfähigkeit der Böden zu fördern sowie ihre Erosionsanfälligkeit zu mindern, ist der Erhalt und Aufbau von Humus von entscheidender Bedeutung. Die geplante Bildungskampagne, die sich an die Aktion anschließt und mit den Spenden aus der Aktion finanziert wird, nimmt deshalb speziell die Bedeutung der fruchtbaren Bodenschicht in den Blick.
„Wir möchten die Menschen darauf aufmerksam machen, dass der Erhalt gesunder, fruchtbarer Böden die wesentliche Grundlage dafür ist, dass wir Bäcker*innen täglich gutes Brot für sie backen können. Die Verfügbarkeit und die Vielfalt unserer Nahrung hängen tatsächlich von unzähligen, winzigen Lebewesen ab, die die oberste Schicht des Bodens beleben. Im Verborgenen versorgen sie die Pflanzen mit Nährstoffen und Wasser, wandeln organisches Material zu Humus um und sorgen dafür, dass CO2 im Boden gespeichert wird. Nicht zuletzt in Anbetracht der Klimakrise und ihrer Auswirkungen müssen wir dafür sorgen, dass Bauern und Bäuerinnen Maßnahmen zum gezielten Humusaufbau umsetzen können. Das geht selbstverständlich nur, wenn ihre Leistungen fair entlohnt werden “, erklärt Anke Kähler, Bäckermeisterin und Vorstandsvorsitzende des Die Freien Bäcker e.V.
Das BODEN-BROT backen Handwerks-Bäckereien, die aktiv die Ziele der Aktion unterstützen. Die Brote werden aus Getreide gebacken, das direkt von regionalen Erzeuger*innen, Erzeugergemeinschaften oder Mühlen stammt. Das Ergebnis ist ein aus nachhaltig erzeugten Rohstoffen, handwerklich hergestelltes Brot. Das BODEN-BROT steht für Vielfalt in und auf dem Ackerboden sowie im Brotregal - und ist ein Symbol für den Wert regionaler Versorgungsstrukturen.
Bildungskampagne Boden: Wissenstransfer für den Erhalt der Bodenfruchtbarkeit
Mit jedem verkauften Boden-Brot ist eine Spende in Höhe von einem Euro verbunden. Der gesamte Spendenbetrag der teilnehmenden Bäckereien fließt in die für 2021 geplante Bildungskampagne Boden. Sie beginnt mit der Ausbildung von jungen, interessierten Menschen aus verschiedenen Netzwerken durch ausgewiesene Boden-Expert*innen. Mittelfristiges Ziel der Kampagne ist, fehlendes Wissen zum Themenkomplex Boden durch die geschulten Boden-Profis an Schüler*innen in Berufsschulen sowie an Mitarbeitende in Betrieben des Lebensmittelhandwerks weiterzugeben. „Schließlich sind die Relevanz und das Wissen zum Themenkomplex Boden, denen leider nicht in den Lehrplänen entsprochen wird, die Grundlage für klimagerechtes, nachhaltiges Wirtschaften“, ist sich Anke Kähler sicher.
Slow Food Deutschland ist Unterstützer der Aktion BODEN-BROT
Zur Aktion BODEN-BROT auf der Seite der Freien Bäcker >>hier
]]>Der jährlich am 5. Dezember stattfindende Weltbodentag weist auf die Bedeutung der natürlichen Ressource Boden hin. 95% Prozent aller Nahrungsmittel entstehen im, auf oder durch den Boden. Auch durch Trinkwasser und Atemluft sind die Gesundheit von Mensch und Boden aufs Engste miteinander verknüpft. Ursula Hudson, die langjährige, im Sommer verstorbene Vorsitzende von SFD wusste: Nur im harmonischen Miteinander von Boden und Pflanzen gedeihen Lebensmittel, die gleichermaßen schmackhaft wie nahrhaft sind. Ihr Credo: „Nur fruchtbare Böden bringen im Sinne der Slow-Food-Philosophie gute, saubere und faire Lebensmittel hervor. Nur indem man Böden erhält und aufbaut, werden sie künftig überhaupt noch die Lebensmittel liefern, die uns wirklich nähren. Für die Ernährungssicherung sind fruchtbare Böden daher das A und O.“
Slow Food Deutschland fordert daher seit vielen Jahren, Agrarflächen für eine bodenschonende Erzeugung von Grundnahrungsmitteln zu nutzen. Die Leistung von Landwirten, die für einen gesunden, humusreichen Boden sorgen, sollte gegenüber „konventionellen“, sprich bodenschädlichen Wirtschaftsweisen klar begünstigt werden. Nur mit einer konsequenten Neuausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU und ihrer nationalen Umsetzung in den GAP-Strategieplänen kann die notwendige Transformation hin zu einem Agrar- und Ernährungssystem, das für biokulturelle Vielfalt und lebendige Böden sorgt, gelingen.
Slow Food sieht an erster Stelle Politik und Landwirte in der Verantwortung. Doch auch Verbraucher*innen können einen Beitrag zu gesunden Böden und damit zur langfristigen Verfügbarkeit nährstoffreicher Lebensmittel leisten. Hier unsere fünf einfachen Boden-Tipps:
Im Oktober haben sich sowohl das Europäische Parlament als auch der EU-Ministerrat zur künftigen Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) positioniert. Der Ausgang begrub vorläufig die Hoffnungen auf eine ambitionierte EU-Landwirtschaftspolitik, die geeignet ist, den aktuellen großen Herausforderungen zu begegnen und ein neues Gleichgewicht zwischen Bäuer*innen, Menschen, Tieren und Natur schaffen kann. Da die EU-Mitgliedsstaaten nun dabei sind, ihre nationalen Strategiepläne zu erarbeiten, um die neue GAP an den jeweiligen Landeskontext anzupassen, war die Diskussion eine wichtige Gelegenheit, sich über die Zukunft der europäischen Landwirtschaft auszutauschen und gemeinsam die Frage zu diskutieren, ob diese nationalen Pläne den ökologischen und sozialen Zielsetzungen des EU-Green-Deal gerecht werden.
„Es wird immer deutlicher, dass agrarökologische Lebensmittelsysteme die Lösung für viele Probleme bereit halten, denn sie fördern die Bindung von Kohlenstoff, sie erhalten die biologische Vielfalt von Nutzpflanzen und sie unterstützen die Artenvielfalt unserer Ökosysteme. Slow Food begrüßt, dass das Konzept der Agrarökologie sowohl in der „From-farm-to-fork” Strategie als auch in der Biodiversitätsstrategie der EU enthalten ist. Das war höchste Zeit!“, so Marta Messa, Leiterin von Slow Food Europe. „Es ist von grundlegender Bedeutung, dass die Nationalen Strategiepläne für die GAP den ambitionierten ökologischen und sozialen Zielen des Green Deal der EU gerecht werden. Die Ziele tiefer zu stecken, würde die Gesundheit unserer Ökosysteme sowie der gesamten Gesellschaft weiter aufs Spiel setzen und die Existenz von agroökologisch produzierenden Kleinbäuer*innen bedrohen. Das können wir uns nicht länger leisten.”
Amadé Billesberger, Bio-Bauer aus Deutschland, wies auf das Paradox der derzeitigen Nahrungsmittelpolitik hin: „Kleinbauern schützen die Biodiversität und sind Garanten von Qualität. Die gegenwärtige GAP bringt Kleinbetriebe jedoch dazu, zu schließen und ermöglicht es Großbetrieben, weiter zu wachsen. Warum erhalten Bauern Subventionen ganz unabhängig davon, wie sie Nahrungsmittel anbauen? Ich würde mir wünschen, dass die GAP die EU-Subventionen an die Schaffung und Erhaltung gesunder Böden koppelt.”
Landwirtschaft ist ein komplexes Thema, das eng mit anderen wichtigen Themen verknüpft ist, wie Klimawandel, Gesundheit und die Zukunft unserer Kinder. Wie es Gijs Schilthuis, Bereichsleiter in der Generaldirektion für Landwirtschaft und Ländliche Entwicklung ausdrückt: „Landwirtschaftspolitik muss auf die gegenwärtigen Herausforderungen eingehen“, da das derzeit vorherrschende Modell industrieller Lebensmittelherstellung eine der Hauptursachen für den Biodiversitätsverlust, die Wasser- und Luftverschmutzung sowie den Klimawandel ist. „Unsere Devise heißt jetzt nicht mehr: „Wir brauchen eine Gemeinsame Agrarpolitik”, sondern: „Wir brauchen eine Gemeinsame Agrarpolitik im Rahmen einer weiter gefassten Ernährungspolitik.“
Vertreter*innen des *italienischen und deutschen Landwirtschaftsministeriums* erkannten die Notwendigkeit an, auf nationaler Ebene Maßnahmen zu ergreifen, um den Übergang zu einer nachhaltigeren und umweltfreundlicheren Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik einzuleiten. „In Bezug auf die Vergabe von Subventionen sind die Ziele der GAP sehr ambitioniert, aber das ist auch richtig so, denn sie macht schließlich 30% des europäischen Haushalts aus”, kommentierte Fabio Pierangeli aus Italien. „Wir müssen das sozio-ökonomische Gefüge der ländlichen Gebiete stärken, die vor erheblichen Herausforderungen stehen, wie der Bevölkerungsrückgang”, fügte Gisela Günter mit Bezug auf den deutschen Kontext hinzu.
Für die auf Landesebene laufenden Diskussionen, wie die GAP im jeweiligen nationalen Kontext ausgestaltet werden soll, wäre es ein großer Zugewinn, wenn man alle relevanten Akteur*innen an einen Tisch bringen könnte, einschließlich der Kleinbauern. Wie Francesco Sottile, Mitglied des Exekutivkomitees von Slow Food Italien, betonte: „Europa ist wie ein Puzzle aus vielen kleinen Stücken, die alle gleich wichtig sind. Ein wichtiges Puzzlestück sind die Kleinbauern mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung und ihrer natürlichen Liebe für die Landwirtschaft.”
Slow Food sieht in der Agrarökologie den Schlüssel, um den dringend erforderlichen Übergang zu nachhaltigen Ernährungssystemen in Europa zu bewirken. Aufbauend auf den Prinzipien des ökologischen Landbaus zielt sie auf eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Umgestaltung der Agrar- und Ernährungssysteme ab, in denen die Bäuer*innen, handwerkliche Verarbeiter*innen und Verbraucher*innen im Zentrum der Entscheidungen stehen.
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>> Zur Aufnahme der Podiumsdiskussion "The Common Agricultural Policy: Keeping ambition high in Europe"
>>Mehr zu Agrar- und Ernährungspolitik
>>Mehr zu Terra Madre Salone Del Gusto
]]>Irgendwann standen sie dann mit Taucherbrillen in der Backstube. Zwölf Bäcker der Bäckerei Veit an ihren Arbeitsplätzen, in den Händen Messer zum Zwiebelschneiden für die Dinnete, ein schwäbischer Teigfladen mit Schmand und Zwiebelbelag. Denn diese Zwiebeln, die hier auf der Dinnete landen sollen, hatten es in sich: Schön rötlich, eigentlich mild im Geschmack – aber mit allerlei verwachsenen Häutchen zwischen den Zwiebeln, die entfernt werden müssen. So wie die Höri Bülle, eine Zwiebel von der Insel Höri am Bodensee, nun mal ist: Sehr lecker, aber in der Verwendung auch sehr mühsame Handarbeit, die in der Menge auch gestandenen Bäcker*innen die Tränen in die Augen treibt. Handarbeit, die sie im Bäckerhaus Veit dennoch gerne in Kauf nehmen. Nicht nur, weil mit der Zwiebel ganz aus dem Südwesten Deutschlands besonders genussvolle Dinnete gelingen. Sondern weil die Bäckerei Veit so auch zum Erhalt einer alten, aber mittlerweile selten gewordenen Sorte beiträgt.
Die Höri Bülle ist eine Rarität geworden. Wer den Slow Food Arche-Passagier deswegen, wie die Bäckerei Veit, verwendet, trägt aktiv zum Erhalt der Sortenvielfalt bei. Und bei der Bäckerei Veit, die mit 54 Fachgeschäften und Cafés zwischen Stuttgart und dem nördlichen Rand der Schwäbischen Alb ihre Kund*innen versorgt, haben sie inzwischen eine gewisse Erfahrung mit dem Zwiebel-Passagier. Seit Jahren setzt sich der Familienbetrieb für den Erhalt und die Nutzung alter Sorten ein. Neben der Höri Bülle sind schon länger zwei weitere Arche-Passagiere von Slow Food im festen Zutatensortiment der Bäckerei: der Schwäbische Dickkopf-Landweizen und die Ermstäler Knorpelkirsche. Damit zeigt die Bäckerei, wie Lebensmittelhandwerker*innen aktiv zum Erhalt der biokulturellen Vielfalt beitragen können. Denn Veit erhält nicht nur die Arche-Passagiere, sondern arbeitet dafür auch aktiv mit Landwirt*innen und Streuobstflächenbesitzer*innen aus seiner Nachbarschaft zusammen. Das ist genau die Art regionaler Vielfalt und Vernetzung, die Slow Food mit seinem Schwerpunkt auf die biokulturelle Vielfalt fördern möchte.
Netzwerken für die Sortenvielfalt
Bei Veit stand am Anfang die Erkenntnis des Seniorchefs, dass in modernen Backbetrieben manches dann doch sonderbar läuft. Richard Veit jedenfalls wollte schon 2003 für seine Apfelkuchen nicht, wie es in vielen Bäckereien üblich ist, Dunstäpfel aus China verwenden. Also legte die Bäckerei eine eigene Apfelplantage mit 2.700 Bäumen an. Weiter ging es später mit dem Bezug von Walnüssen aus dem Ermstal für das Ermstäler Hutzelbrot oder Hauszwetschgen für die Zwetschgenkuchen. Schließlich liegt vor den Türen der Bäckerei das größte zusammenhängende Streuobstgebiet Europas. Veit ist zwischenzeitlich Mitglied im Schwäbischen Streuobstparadies und setzt heimische Ware ein, wo es nur geht.
„Wobei regionaler Einkauf immer sehr einfach klingt“, sagt Susanne Erb-Weber, die als Marketing-Fachfrau die Ausrichtung der Bäckerei auf alte und regionale Zutaten seit Jahren begleitet. „Sie müssen zunächst einmal die Netzwerke wieder knüpfen, in denen die Beschaffung gelingt. Darauf ist ja heute niemand mehr eingestellt.“ Und Netzwerke knüpfen, das heißt in Sachen alter Sorten vor allem: Belastbare Beziehungen zu den Landwirt*innen, und im Falle Schwabens, Streuobststückles-Besitzer*innen herstellen.
Beim Obst und den Walnüssen aus dem Ermstal arbeitet Veit dafür mit einem Koordinator zusammen, der das Streuobst vieler Kleinsterzeuger*innen zunächst sammelt, sortiert und dann anliefert. „Es kommt schon sehr drauf an, was für Partner man hat und dass man mit denen Hand in Hand arbeiten kann“, sagt Erb-Weber. „Man kann hier nicht wie im Bäckereigroßhandel eine Preisliste aufklappen und bestellen, was man will.“
Alte Sorten, neue Methoden
Dafür entstehen Beziehungen, die wirtschaftlich, sozial und ökologisch auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind. Bei Veit ist man jedenfalls überzeugt: Durch die Rückbesinnung auf regionale Zutaten haben sich auch Prozesse und Ansichten innerhalb der Bäckerei geändert. „Das hat sicherlich dazu geführt, dass wir uns alle mit dem Erhalt alter Sorten auseinandersetzen“, sagt Erb-Weber. Und dass die Bäckerei neben den alten Streuobstsorten insgesamt ihr Herz für alte Nutz-Sorten, die am Markt auf Grund von Industrialisierung und Preisdruck immer seltener geworden sind, geöffnet hat.
Bei Veit war der Schwäbische Dickkopf Landweizen der erste Slow Food Arche-Passagier, der auf einer Zutatenliste auftauchte. Vor zwölf Jahren war das. Heute gibt es bereits zwei eigenständige Dickkopf-Brote und zwei Dickkopf-Krustis aus der alten Sorte. Ein ganz einfacher Weg war das nicht: Für die Bäcker*innen nicht, weil die Rezepturen erst entwickelt werden mussten. Für die Kund*innen nicht, weil die nicht gerne kaufen, was sie nicht kennen. Und für den Einkauf bei Veit nicht, weil zunächst Entwicklungsarbeit unter den Landwirt*innen geleistet werden musste.
„Man geht ja mit dem Landwirt beidseitig ins Risiko, wenn man eine Sorte wieder anbauen will“, sagt Erb-Weber. Veit fand schließlich einen Landwirt, den die Zusammenarbeit überzeugte. Der wiederum warb irgendwann einen zweiten an und der dritte und vierte kamen dann dazu, weil sich das Thema rumsprach. Heute gibt es eine Warteliste an Höfen, die für Veit anbauen wollen. Der Erfolg des Produkts kombiniert mit der Aussicht auf langfristige, fair bepreiste Lieferverträge, sprechen eben für sich.
Ähnlich viel Überzeugungsarbeit erforderte der zweite Arche-Passagier bei Veit: Die Ermstäler Knorpelkirsche. Ein klassisches Streuobstprodukt, sehr geschmacksintensiv, optimal abgestimmt auf Klima und Boden am Fuße des Nordrands der Schwäbischen Alb. Nur mit einem Problem behaftet: „Sie können die nur schwer vermarkten, weil das Verhältnis von Fleisch und Kern nicht gängigen Vermarktungskriterien entspricht“, sagt Susanne Erb-Weber. Wenn man die Frucht aber zu Saft verarbeitet und dann in der Bäckerei verwendet, entstehen tolle Produkte.
Mittlerweile hat die Bäckerei Erfahrung in der Einführung von Erzeugnissen aus alten Sorten. So kam in diesem Jahr für eine Aktion im Oktober die Höri Bülle hinzu, von der Veit den Erzeuger*innen gleich mal zwei Tonnen abgekauft hat. Die rote Speisezwiebel gehört in der Bodenseeregion eigentlich zum kulinarischen Inventar, ist aber auch etwas ins Abseits geraten. Das hätte beinahe zum Aussterben der Zwiebel geführt, wenn sich nicht lokale Initiativen und Slow Food mit der Arche des Geschmacks ihrer angenommen hätten. Sie halfen und helfen dabei, die Höri Bülle wieder ins Bewusstsein zu holen. Das ist wichtig: Denn mit jeder dieser alten Sorten, die nicht mehr in der Lebensmittelerzeugung verwendet werden, sinkt die Artenvielfalt wieder ein Stück. Und wird auch die Ernährungssicherheit ein Stückchen labiler: Denn je größer die Sortenvielfalt, desto krisenresistenter ist die menschliche Ernährung. Ganz abgesehen von den regionalen Wertschöpfungskreisläufen, die nur durch regional verankerte Sorten und ihre besonderen Verarbeitungsprozesse gesichert werden.
Bei Veit hat es dazu geführt, dass das Unternehmen schon fast mehr als eine Bäckerei ist. Quasi ein kleines Labor zur Zukunft der Ernährung. Einige Kilometer vom Unternehmenssitz entfernt betreibt Veit mittlerweile mit Jan Sneyd, einem Experten für alte Sorten, eine Art Versuchsgarten. Dort werden alte Sorten daraufhin getestet, ob sie für einen zukünftigen Anbau und die künftige Verwendung in der Bäckerei attraktiv sind. Der Nachschub aus dem Versuchsgarten in die Backstube jedenfalls wird also nicht knapp.
Text: Sven Prange
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>>Mehr zur Arche des Geschmacks
>>Mehr zum Thema Biokulturelle Vielfalt
]]>Die Vereinten Nationen prognostizieren, dass ohne eine radikale Kehrtwende bei der Hungerbekämpfung im Jahr 2030 150 Millionen Menschen mehr Hunger leiden werden als heute. Ein breites Bündnis von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Verbände fordert die Bundesregierung im >> Positionspapier „Welternährung 2030 – 11 Schritte für eine Zukunft ohne Hunger“ auf, ihren Einfluss zu nutzen, damit die globalen Ernährungssysteme in Zukunft gerecht, agrarökologisch und demokratisch ausgerichtet werden. Der Einsatz neuer und alter Gentechnik in der Entwicklungszusammenarbeit soll ausgeschlossen, Landarbeiter*innen vor Ausbeutung besser geschützt und die Vereinnahmung der Politik durch Konzerne verhindert werden.
MISEREOR, FIAN, INKOTA, Oxfam und Brot für die Welt fordern in einem Bündnis von 46 Organisationen, dem auch Slow Food Deutschland angehört, eine radikale Kehrtwende, um Hunger weltweit zu überwinden. Dazu gehört eine Abkehr von Ansätzen der Grünen Revolution und der Grünen Gentechnik sowie ein zügiger agrarökologischer Umbau der Ernährungssysteme. Erfolgreiche Methoden vor Ort müssen verstärkt und in der Strategie der Hungerbekämpfung ausgebaut werden. Zum Beispiel sollte die Politik die bäuerliche Verarbeitung und ihre ortsnahe Vermarktung sowie Gemeinschaftsverpflegung aus regionaler, agrarökologischer und fairer Produktion fördern.
Stimmen von Erzeuger*innen und Arbeiter*innen müssen gehört werden.
„Wer den Hunger bekämpfen will, muss die Rechte der Menschen stärken, die von Hunger betroffen sind“, erklärt Sarah Schneider, Expertin für Welternährung von MISEREOR. Sonst gehe die Hungerbekämpfung auch in Zukunft an denen vorbei, die sie erreichen soll. Die Bundesregierung und die Vereinten Nationen müssen deswegen den Grundsatz „Nichts über uns ohne uns“ in allen Politikbereichen und Programmen zentral verankern und auch den für das kommende Jahr geplanten UN-Welternährungsgipfel (Food Systems Summit) danach ausrichten. „Kleinbäuerliche Betriebe erzeugen einen Großteil der Lebensmittel und sind zugleich überproportional von Hunger betroffen. Deshalb brauchen sie Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen, damit ihr Zugang zu Land, Wasser, Saatgut und Wissen endlich gesichert wird. Sie müssen über ihre Zukunft mitbestimmen können“, so Stig Tanzmann, Landwirtschafts-Experte von Brot für die Welt. „Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie problematisch es ist, wenn Kleinbauern, Landarbeiterinnen, Indigene und Frauen bei Entscheidungen übergangen werden.“ Bislang werden die am meisten von Hunger und Armut Betroffenen weder in der Politik noch in den aktuell laufenden Planungen für den Gipfel einbezogen.
Konzernmacht begrenzen
Das Bündnis sieht die Gründe für die fehlenden Fortschritte bei der Hungerbekämpfung maßgeblich darin, dass sich die Politik an den Interessen großer Konzerne statt am Menschenrecht auf Nahrung ausrichtet. „Kleinbäuerliche Erzeuger und Landarbeiterinnen hungern, weil sie in globalen Lieferketten ausgebeutet werden, weil ihre Lebensgrundlagen zerstört werden und der Klimawandel sie besonders stark trifft“, kritisiert Philipp Mimkes, Geschäftsführer von FIAN. Sie erzielen trotz harter Arbeit keine existenzsichernden Einkommen und Löhne.
Landwirtschaft und Ernährung sollten nicht den konzerndominierten Märkten überlassen werden. „Die enorme Macht von großen Konzernen ist nicht alternativlos. „Die Bundesregierung hat es in der Hand, die Macht der Konzerne zurückzudrängen“, erklärt Marita Wiggerthale, Agrarexpertin bei Oxfam. Sie könnte etwa Patente auf Leben verbieten und eine rechtliche Grundlage schaffen, um übermächtige Konzerne zu entflechten.
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>> Zum Positionspapier „Welternährung 2030 – 11 Schritte für eine Zukunft ohne Hunger“:
Das Positionspapier wird von 46 Organisationen getragen und formuliert 11 Schritte und 60 Empfehlungen für eine Welt ohne Hunger bis 2030.
Der Markt für Fleisch ist in Deutschland von viel zu großen Mengen, viel zu niedrigen Preisen und viel zu wenigen, dafür zu großen Unternehmen dominiert. Deren gnadenloser Preiskampf um das Billigfleisch wird auf dem Rücken von Mensch, Tier und Umwelt ausgetragen. Corona führt diese unwürdige, aber politisch geduldete Praxis nun öffentlich vor. Slow Food begrüßt, dass die politisch Verantwortlichen jetzt rechtliche Konsequenzen ankündigen. Zugleich warnt der Verein davor, das bestehende System nur partiell auszubessern statt die Versäumnisse der letzten Jahre zu korrigieren. Handwerklich arbeitende Schlachtbetriebe wurden systematisch eliminiert und die Entfremdung zwischen Mensch und Mensch sowie Mensch und Tier in den Megafabriken institutionalisiert. Für ‚Fairness‘ gegenüber den Menschen, die unsere Lebensmittel erzeugen, ist an diesen Orten kein Platz. Für Slow Food aber spielt ‚Fairness‘ eine essentielle Rolle in der Bewertung von Lebensmitteln und ihren Produktionsbedingungen. Der Verein fordert geschmacklich, gesundheitlich und ökologisch einwandfreie Lebensmittel, die zu fairen Bedingungen für Mensch und Tier erzeugt, weiterverarbeitet, gehandelt und zubereitet werden.
Dazu Ursula Hudson, Vorsitzende von Slow Food Deutschland: „Die aktuellen Skandale sind ein erneuter Weckruf, die alten Muster nachhaltig zu überwinden. Statt Mensch und Tier in ein System hineinzupressen, in das sie nicht passen, müssen wir Strukturen fördern, die ihre Bedürfnisse respektieren. Dafür müssen wir bei Haltung, Schlachtung, Handel und Konsum die Größen und Mengen reduzieren. Das erfordert jetzt mehr denn je eine konzertierte und glaubwürdige Strategie der zuständigen Ministerien. Mit zu viel Freiwilligkeit, zu langen Übergangsfristen wie aktuell bei der Kastenstandhaltung, sowie der Idee, Tierwohl ließe sich allein mit marginal höheren Lebensmittelpreisen erreichen, kommen wir nicht ans Ziel.“
Slow Food wird genau verfolgen, was nach der Empörungswelle an Auflagen und Gesetzen tatsächlich verabschiedet wird. Planeten-, Tier- und Menschenwohl mit Wirtschaftlichkeit zu vereinbaren, muss der Maßstab sein. Dazu gehören gute, saubere, faire Arbeits- und Lebensbedingungen für jede*n einzelne*n Arbeiter*in. „Bei Slow Food möchten wir die Menschen, die für unser Essen gearbeitet haben, nicht nur kennen, sondern ihnen auch mit gutem Gewissen in die Augen schauen können. Für mich schließt das mit ein, sicher sein zu können, dass sie fair bezahlt wurden und ihre Arbeit unter Bedingungen verrichten konnten, bei der sie keinen Schaden an Leib und Seele genommen haben. Und das gilt für alle Produktionszweige, nicht nur für Fleisch“, so Hudson entschieden.
Der angekündigte Gesetzentwurf muss die Einkommenssituation von Erzeuger*innen und den Lebensstandard der ländlichen Bevölkerung verbessern – in Deutschland, der EU und weltweit. „Verkaufspreise dürfen nicht die Produktionskosten innerhalb der Lieferkette unterbieten“, fordert das Bündnis übereinstimmend in dem heute veröffentlichten Positionspapier „Für mehr Fairness im Lebensmittelhandel“. Alle Beteiligten sind sich einig, dass die EU-Richtlinie ein zentrales Instrument gegen die desaströse Billigpreispolitik im Lebensmittelhandel ist und die Bundesregierung den Verkauf von Lebensmitteln zu Dumpingpreisen verbieten muss. Ebenso fordern sie die Einrichtung einer Preisbeobachtungsstelle und einer Ombudsstelle.
Mit Blick auf die vorherrschenden Marktmechanismen betont Olaf Bandt, Vorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND): „Der Markt und der ungezügelte Wettbewerb dürfen nicht länger ländliche Strukturen ruinieren und Lebensmittel verramschen. Unternehmerische Freiheit endet dort, wo durch unlauteres Geschäftsgebaren bewusst Existenzen von bäuerlichen Betrieben, mangelhafter Umwelt- und Klimaschutz sowie der Verlust der Artenvielfalt in Kauf genommen werden. Jetzt ist der Gesetzgeber gefragt, denn Freiwilligkeit reicht nicht aus.“
Die Lebensrealität für viele Produzent*innen von Lebensmitteln, besonders entlang der Lieferketten, ist ein täglicher Überlebenskampf. Die Erzeugerpreise decken vielfach nicht die Produktionskosten und Arbeiterinnen und Arbeiter, zum Beispiel in der Fleischindustrie oder im Bananensektor, erhalten keine existenzsichernden Löhne. Marita Wiggerthale, Agrarexpertin bei Oxfam kritisiert, dass weiterhin der Verkauf von Lebensmitteln zu Dumpingpreisen möglich ist: „Das führt zu Hungerlöhnen und treibt Kleinbauern und Kleinbäuerinnen in den Ruin. In Ecuador ist die Zahl der Bananen-produzierenden Familienbetriebe im Zeitraum von 2015 bis 2018 um 60 Prozent gesunken. Die Einkommen von Bananenarbeitern sind mehrheitlich unterhalb der nationalen Armutsgrenze – ihre Gehälter sind nicht existenzsichernd. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, den Verkauf von Lebensmitteln zu Dumpingpreisen im neuen Gesetz zu verbieten.“
Auch die Mehrzahl der Kakaobauern und -bäuerinnen weltweit haben keine existenzsichernden Einkommen. „Seit 20 Jahren beteuert die Schokoladenindustrie ausbeuterische Kinderarbeit im Kakaoanbau zu beenden und ist bis jetzt gescheitert. Ohne ein Ende des Preiskampfes und damit besseren Einkommen für Kakaobauern und -bäuerinnen wird sich daran nichts ändern“, kritisiert Andrea Fütterer, Vorstandsvorsitzende des Forum Fairer Handel.
Preis- und Kostentransparenz sind zentral für eine funktionierende Lebensmittelversorgungskette. Eine unabhängige Preisbeobachtungsstelle soll diese ermöglichen und Richtwerte für kostendeckende Mindestpreise ermitteln. „Wir müssen über kostendeckende Preisgestaltung in der gesamten Wertschöpfungskette reden und das heißt faire Einkommen in der gesamten Kette: vom Landwirt über die Verarbeiterin bis zur Verkäuferin im Handel", fordert Gerald Wehde, Geschäftsleiter Agrarpolitik bei Bioland. „Bäuerliche Erzeugerinnen und Erzeuger, auch im Biobereich, zahlen oft drauf, wenn Lebensmittel wie Fleisch oder Milch zu Dumpingpreisen verkauft werden. Bislang gibt es aber keine Stelle, an die sie sich wenden können, wenn Dumpingpreise gezahlt werden. Eine unabhängige Ombudsstelle kann hier Abhilfe schaffen und Produzenten wie auch Arbeitnehmern endlich ein Instrument an die Hand geben, ihre Rechte einzufordern und Beschwerden einzureichen.“
Eine Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland wünscht sich mehr Fairness im Lebensmittelhandel. Laut ARD-DeutschlandTrend vom 6. Februar 2020 befürworten 73 Prozent der Bürgerinnen und Bürger ein Verbot des Verkaufs von Lebensmitteln unterhalb der Herstellerkosten, das heißt sie befürworten ein Verbot von Dumpingangeboten. „Die Bundesregierung wird auf breite Zustimmung in der Bevölkerung treffen, wenn sie jetzt konsequent für Fairness im Handel sowie für lokal und global gerechte Preise und existenzsichernde Einkommen für Erzeugerinnen und Erzeuger und Arbeiterinnen und Arbeiter sorgt“, bestätigt Gundula Oertel, Sprecherin des Ernährungsrates Berlin. Dies könne auch zu einem wichtigen Dreh- und Angelpunkt für den klima- und sozial gerechten Umbau vom Hof bis zum Teller werden. „In Zukunft sollte kein Unternehmen reich werden dürfen, indem es Erzeugerinnen und Erzeuger im Preis drückt und Menschen als Lohnsklaven ausbeutet“, so Oertel.
Abschließend fordert das Bündnis die Bundesregierung auf, das Bundeskartellamt als Durchsetzungsbehörde festzulegen und ein umfassendes Verbot von unlauteren Handelspraktiken einzuführen. Mit einer 1:1-Umsetzung, wie bislang von der Bundesregierung geplant, würden die angestrebten Ziele nicht erreicht und die enorme Verhandlungsmacht der marktmächtigen Akteure in der Lebensmittelversorgungskette bliebe unangetastet.
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Das Positionspapier „Für mehr Fairness im Lebensmittelhandel“ finden Sie unter: https://www.slowfood.de/publikationen/positionspapiere/gerechter_welthandel/positionspapier_lebensmittelhandel_final.pdf
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Quelle: Gemeinsame Pressemitteilung der Unterzeichnenden vom 02.07.2020
]]>Die aktuelle Corona-Pandemie erfordert von Menschen weltweit neue Perspektiven und kreative Lösungen. Auch Slow Food hat sich dieser Herausforderung bei der Planung der Youth Akademie 2020 gestellt: „Die Teilnehmer*innen hatten sich bereits im vergangenen Jahr auf einen begehrten Platz beworben, entsprechend groß war die Vorfreude. Die Akademie einfach ausfallen zu lassen kam für uns deshalb nicht in Frage", kommentiert die Koordinatorin der SFYA, Elia Carceller. Ende April startete die SFYA 2020 mit neuem virtuellen ‚Gesicht‘, einem für alle neuen, Format, auf das sich viele Teilnehmer*innen schon durch ihren Uni- oder Arbeitsalltag hatten einstellen können. Neben diversem inhaltlichem Input zu den Strukturen von Slow Food bot das erste SFYA-Wochenende reichlich Raum für Austausch und Teambuilding, um das Gruppengefühl zu stärken. Insgesamt fanden bis Ende Juni bereits drei SFYA-Wochenenden digital statt.
Teilnehmer*innen teilen ihre Erfahrungen mit dem neuen Format
Die diesjährige ‚digitale‘ Akademie wird von den Teilnehmer*innen gut aufgenommen und mitgetragen, so Anna, Teilnehmerin der Akademie 2020: „Dass die Akademie trotz der Corona-Krise stattfindet, freut mich. Es ist spannend zu sehen, was digital alles möglich ist." Auch über den Austausch der Akademieteilnehmer*innen untereinander freut sie sich sehr. Constantin begeistert vor allem, dass die Akademie einen Blick über den eigenen Tellerrand ermöglicht. „Expert*innen aus den unterschiedlichsten Bereichen des Lebensmittelsystems sind zu Gast und teilen wertvolle, fachlich anspruchsvolle Einblicke." Die Teilnehmer*innen loben die Organisation der Akademie. Jedoch bleiben der Wunsch und die Hoffnung für physische Treffen bestehen: „Ich würde mich freuen, wenn die Akademie bald in Präsenz stattfinden kann, da es doch einfach ein anderes Gefühl ist," erklärt Anna. Constantin erkennt zugleich die Chancen, die sich aus dem virtuellen Format ergeben, denn es kann mit nur wenigen Klicks über Ländergrenzen hinweg kommuniziert werden: "Die Diskussionen mit jungen Bauer*innen und Food-Aktivist*innen aus aller Welt haben mich nachhaltig beeindruckt. Ich habe den Eindruck, es bräuchte noch viel mehr diesen Austausch mit Engagierten von anderen Ecken der Welt."
Zu den Höhepunkten des diesjährigen Programms zählen für die Teilnehmer*innen unter anderem eine Paneldiskussion zum Slow-Food-Jahresthema Milch mit den Autorinnen der Milchstudie und Dr. Anja Frey vom Völkwaldeshof, die Einblicke in die praktische Arbeit am Hof geben konnte.
Natürlich wurde das Programm teils umgestaltet, um dem digitalen Format gerecht zu werden. Während des Themenwochenendes zu "Welternährung und bäuerliche Landwirtschaft" wurde nach Inputs zum Thema Ernährungssouveränität und Agrarökologie aus deutscher Sicht die Chance genutzt, ein weltweites Panel mit jungen Landwirt*innen aus dem globalen Süden zu organisieren. Als Vertreter ihrer Kontinente waren für Afrika Asmelash Dagne aus Äthiopien, für Asien Raveendra Kariyarassam aus Sri Lanka und für Amerika Raul Mondragon aus Mexiko vertreten. Die Möglichkeit des globalen Austauschs, die durch die internationale Vernetzung von Slow Food möglich ist, war eine große Bereicherung für alle Seiten und löste Begeisterung und Solidarität in diesen unsicheren Zeiten aus.
Die Verbindung von Theorie und Praxis – eine der großen Stärken der Akademie - zählt 2020 natürlich zu den größten Herausforderungen. Das Organisationsteam hat sich aber auch dafür einiges einfallen lassen: Beim dritten Wochenende gab es nach einem theoretischen Input zum Thema "Super Local Foods" von zwei Alumni der SFYA, die inzwischen dazu ein Buch herausgegeben haben einen Kochkurs für die Teilnehmer*innen. So wurde die Wissensvermittlung auch mit den Sinnen spürbar -. Die Teilnehmer*innen kochten unter Anleitung eines Kochs in ihrer heimischen Küche, im Anschluss wurde gemeinsam gegessen.
Alles in allem ist dieser neue und ungewohnte Auftakt und Verlauf der Slow Food Youth Akademie also ein großer Erfolg: Neugierde und Wissensdurst der Teilnehmer*innen halten an und ihre Vorfreude auf die hoffentlich noch folgenden physischen Treffen wächst. Denn gemeinsam Genießen, Geschichten teilen und voneinander lernen lässt sich weiterhin am besten von Angesicht zu Angesicht.
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Mehr Info zum Programm der Slow Food Youth Akademie >>hier
]]>Im Mai 2020 hatte die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes (EPA) grundsätzlich bestätigt, dass Pflanzen und Tiere aus herkömmlichen Züchtungsverfahren nicht patentiert werden dürfen (G3/19). Doch die umstrittene Praxis des EPA, Patente auch auf Pflanzen zu erteilen, die nicht aus gentechnischen Verfahren, sondern aus zufälligen Prozessen hervorgegangen sind, ist damit noch nicht beendet.
Beispiele für erteilte Patente auf herkömmliche Züchtung betreffen Gerste und Bier der Firma Carlsberg. Einsprüche gegen diese Patente, die auf zufälligen Mutationen beruhen, wurden im Oktober 2018 vom EPA abgewiesen. Andere Beispiele betreffen Salat, Melonen, Zwiebeln und Tomaten. Vor diesem Hintergrund müssen auch Gärtner, Landwirte und Züchter, die keine Gentechnik anwenden, damit rechnen, dass ihr Saatgut oder ihre Ernte durch Patentmonopole erfasst werden. Das steht aber nicht im Einklang mit den europäischen Patentgesetzen.
Deswegen appellieren jetzt rund 40 Organisationen gemeinsam an Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, diese Fehlentwicklung zu stoppen. Die Bundesregierung soll dafür ihren Platz im Verwaltungsrat des EPA nutzen, der über die korrekte Auslegung der Patentgesetze wacht. Zu den Unterzeichnern dieses Briefes gehören die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), die Arbeitsgemeinschaft der Umweltbeauftragten in der EKD (AGU), die Bäuerliche Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall (BESH), Bingenheimer Saatgut AG, Bioland, der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter (BDM), der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), der Bund Naturschutz in Bayern (BN), der Bundesverband Naturkost Naturwaren (BNN), der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft e.V. (BÖLW), Coordination gegen BAYER-Gefahren (CBG), Cultivari Getreidezüchtungsforschung, Die Freien Bäcker e.V., Ecoland e.V., Evangelischer Dienst auf dem Land (EDL), FIAN Deutschland, Forschung & Züchtung - LBS Dottenfelderhof, Gäa e.V, das Gen-ethische Netzwerk (GeN), die Genussgemeinschaft Städter und Bauern e.V., die Gesellschaft für ökologische Forschung, die IG Nachbau – Interessensgemeinschaft gegen Nachbaugebühren, die Katholische Landvolk Bewegung Deutschland, die Katholische Landvolk Bewegung Freiburg, Kein Patent auf Leben!, Keine Patente auf Saatgut!, das Keyserlingk-Institut, Kultursaat, Pro Regenwald, Saat:gut, Sambucus, Sativa, Save our Seeds, Slow Food Deutschland, Umweltinstitut München, Verband Katholisches Landvolk e.V., WeMove Europe, Zivilcourage Miesbach und Zukunftsstiftung Landwirtschaft (ZSL).
„Wir vertrauen darauf, dass Ministerin Lambrecht tatsächlich aktiv wird, bevor weitere strittige Patente erteilt werden. Dies entspricht nicht nur dem Inhalt des Koalitionsvertrages, sondern betrifft eine grundlegende Frage von Gerechtigkeit und Ethik“, sagt Georg Janßen, Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL). „Das Patentrecht wird sonst dazu missbraucht, um sich Kontrolle über die Landwirtschaft und die Grundlagen unserer Ernährung zu verschaffen.“ Die Bundesregierung hatte allerdings jüngst, auf eine schriftliche Anfrage der Fraktion DIE LINKE, das Urteil der Großen Beschwerdekammer zwar begrüßt, aber keinerlei weitergehende Initiativen angekündigt.
Im Schreiben an die Ministerin fordern die Organisationen jetzt auch, dass der Patentschutz für gentechnische Verfahren so begrenzt wird, dass er sich nicht auch auf alle anderen Pflanzen und Tiere mit entsprechenden züchterischen Merkmalen erstreckt. Zudem müssen jegliches Zuchtmaterial und jegliche herkömmliche Zuchtmethode von der Patentierung ausgenommen sein.
Die Unterzeichner fordern auch eine Überprüfung, ob das Urteil G3/19 in allen Aspekten mit den Grundlagen des Patentrechtes übereinstimmt. Das Urteil führt zum ersten Mal eine Übergangsregel ein, nach der Patente, die vor Juli 2017 angemeldet wurden, von der Gültigkeit der Verbote ausgenommen wären. Damit würden aber Dutzende von Patenten bestehen bleiben, die zuvor widerrechtlich erteilt wurden. Zudem könnten auch einige hundert weitere derartige Patente erteilt werden, die derzeit beim EPA in Prüfung sind.
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Patente auf Saatgut - Gemeinsamer Brief an Bundesministerin Lambrecht >> hier
]]>Was ist die "Farm to Fork"-Strategie und wen betrifft sie?
Die "Farm to Fork"-Strategie (F2F) ist ein neuer umfassender Zehnjahresplan, der von der Europäischen Kommission veröffentlicht wurde, um den Übergang zu einem fairen, gesunden und umweltfreundlichen Lebensmittelsystem in Europa voranzutreiben. Es ist der erste ernsthafte Versuch der EU, eine Lebensmittelpolitik zu entwerfen, die für jede Stufe der Lebensmittelwertschöpfungskette, von der Produktion über den Vertrieb bis zum Verbrauch, Maßnahmen und Ziele vorschlägt, um die europäischen Lebensmittelsysteme nachhaltiger zu gestalten. Jeder EU-Mitgliedsstaat muss ihr folgen, indem er sie auf nationaler Ebene umsetzt und so zum Erreichen der EU-Ziele beiträgt.
Die "Farm to Fork"-Strategie steht im Einklang mit den Zielen der nachhaltigen Entwicklung der Vereinten Nationen (SDGs) und zielt auch darauf ab, durch internationale Zusammenarbeit und Handelspolitik die Standards weltweit anzuheben, damit ihr ökologischer Wandel nicht durch die Externalisierung nicht nachhaltiger Praktiken in anderen Regionen ausgeglichen wird.
Was sind die wichtigsten Ziele dieser Strategie?
Es werden einige Leitziele genannt, die als wesentlich für das Erreichen der Ziele angesehen werden und von denen einige auch die EU-Biodiversitätsstrategie widerspiegeln:
Hatte die EU schon einmal eine "Farm to Fork"- oder umfassende "Food"-Strategie?
Es ist das erste Mal, dass die EU eine "Farm to Fork"-Strategie für nachhaltige Lebensmittelsysteme vorschlägt, mit dem Versuch, eine umfassende Politik rund um Lebensmittel zu schaffen. Bisher wurden Fragen im Zusammenhang mit Lebensmitteln durch getrennte (und oft unvereinbare) Politiken in den unterschiedlichen Ressorts wie Landwirtschaft, Umwelt, Gesundheit, Handel usw. separat behandelt.
Slow Food fordert seit Jahren eine gemeinsame Lebensmittelpolitik, da ein ganzheitlicher Ansatz für einen radikalen Wandel im Lebensmittelsystem unerlässlich ist, indem nicht nur die Lebensmittelproduktion, die Landwirtschaft und der Handel, sondern auch die Lebensmittel- und Umweltqualität, die Gesundheit, die Ressourcen- und Landbewirtschaftung, die Ökologie, die sozialen und kulturellen Werte sowie die gesamte Agrar- und Lebensmittelkette koordiniert angegangen werden.
Ist die F2F-Strategie für die EU-Mitgliedstaaten verbindlich umzusetzen?
Die Farm to Fork Strategie ist insgesamt nicht bindend. Sie wird jedoch durch die Umsetzung der in der Strategie festgelegten Ziele und Vorgaben durch die Mitgliedsstaaten eine bindende Macht erlangen. Die Ziele und Vorgaben werden durch verschiedene gesetzgebende Maßnahmen, die Schaffung neuer Politiken und die Anpassung bestehender Politiken, wie z.B. der Gemeinsamen Agrarpolitik, umgesetzt.
Wie werden die Ziele der "Farm to Fork"-Strategie erreicht?
Ehrgeizige Ziele reichen nicht aus, wenn sie nicht von konkreten Unterstützungsmaßnahmen begleitet werden, um sie zu erreichen. Wissen, Ausbildung und eine Verlagerung der finanziellen Unterstützung werden der Schlüssel dazu sein, alle Akteur*innen im Lebensmittelsystem in die Lage zu versetzen, nachhaltiger zu wirtschaften und zu arbeiten, indem sie Alternativen zu chemischen Pestiziden entwickeln, Kennzeichnungssysteme einhalten usw. Die Strategie schlägt mehrere Reformen der bestehenden Politiken vor, um die Ziele zu erreichen: unter anderem eine Überprüfung Tierschutzverordnung und der Richtlinie über die nachhaltige Nutzung von Pestiziden. Darüber hinaus müssen sich die neuen Ziele und Vorgaben auch in der Gemeinsamen Agrarpolitik widerspiegeln, und zwar durch ehrgeizige nationale Strategiepläne, die derzeit von den einzelnen Ländern entwickelt werden. Bis 2023 wird die Kommission einen Legislativvorschlag für einen Rahmen eines nachhaltigen Lebensmittelsystems vorlegen, um dazu beizutragen, die nationalen Politiken aufeinander abzustimmen und die Kohärenz aller lebensmittelbezogenen Politiken zu gewährleisten.
Wie wird sich die Strategie auf die europäische Landwirtschaft und die Lebensmittel, die wir kaufen und essen, auswirken?
Die "Farm to Fork"-Strategie soll der europäischen Landwirtschaft helfen, sich in den nächsten Jahren auf nachhaltigere Praktiken umzustellen, indem sie den Einsatz von externen Inputs (wie chemische Pestizide und Düngemittel) reduziert und bei der Produktion unserer Lebensmittel mehr im Einklang mit der Umwelt arbeitet. Die Lebensmittelkette wird für die Verbraucher*innen transparenter sein, indem durch eine bessere Kennzeichnung mehr Informationen über die Ernährungsaspekte und die Herkunft der Lebensmittel bereitgestellt werden. Die Strategie schlägt einige Maßnahmen vor, um gesunde und nachhaltige Lebensmittel für jedermann wirtschaftlich und physisch zugänglicher zu machen; öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser werden dank strengerer Standards im öffentlichen Beschaffungswesen nachhaltigere Lebensmittel anbieten müssen. Schließlich werden Unternehmen Maßnahmen ergreifen müssen, um ihren ökologischen Fußabdruck zu verringern und ihre Lebensmittelprodukte im Einklang mit den Richtlinien für gesunde und nachhaltige Ernährung neu zu formulieren.
Wie wird diese Strategie die Landwirt*innen und Fischer*innen in der EU unterstützen?
Die "Farm to Fork"-Strategie zielt darauf ab, diejenigen Landwirt*innen, Fischer*innen und andere Akteur*innen entlang der Lebensmittelkette zu belohnen, die bereits den Übergang zu nachhaltigen Praktiken vollzogen haben und die andere Betriebe bei Anpassungen unterstützen können. Es ist wichtig zu betonen, dass die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) und die Gemeinsame Fischereipolitik (GFP) Schlüsselinstrumente bleiben werden, um den Übergang zu nachhaltigen Lebensmittelsystemen zu unterstützen und gleichzeitig ein menschenwürdiges Leben für Landwirt*innen, Fischer*innen und ihre Familien zu gewährleisten. Die "Farm to Fork"-Strategie bleibt vage hinsichtlich der konkreten Schritte, die Landwirt*innen unternehmen müssen, um die Unterstützung zu erhalten. Unklar ist auch, welche Instrumente den Übergang ermöglichen sollen.
Kann diese Strategie geändert und verbessert werden?
Bei der Strategie handelt es sich um einen langfristigen Plan für die nächsten 10 Jahre, der sich auf die Umsetzung und Überarbeitung einer großen Zahl spezifischer Politiken stützt. Während die Kernverpflichtungen wahrscheinlich so bleiben werden, wie sie sind, wird es für die Zivilgesellschaft entscheidend sein, die Umsetzung der "Farm to Fork"-Strategie genau zu beobachten und beratend zu den verschiedenen politischen Reformen zur Seite zu stehen.
Wie ist die Position von Slow Food zu dieser Strategie?
Insgesamt ist Slow Food der Ansicht, dass die "Farm to Fork"-Strategie die Gelegenheit bietet, den transformativen Wandel in Gang zu setzen, den wir brauchen, um nachhaltige Lebensmittelsysteme aufzubauen und unsere Umwelt, die Bauern und unsere Gesundheit zu schützen. Die Strategie berührt viele wesentliche Aspekte wie die Förderung der Agrarökologie, nachhaltige Ernährung und die Notwendigkeit, zu weniger und besserem Fleisch überzugehen. Dies sind die Ideen, für die Slow Food seit Jahren eintritt und für die es sich einsetzt.
Slow Food bedauert jedoch, dass trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshofs ein Konzept neuer GVO in die "Farm to Fork"-Strategie aufgenommen wurde. Slow Food ist auch der Meinung, dass die Ziele zur Reduzierung der Pestizide um 50% noch zu niedrig sind, um die beispiellose Aussterberate der Bestäuber umzukehren.
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Slow Food ist Teil der Europäischen Bürgerinitiative "Rettet Bienen und Landwirte", die ein Reduktionsziel von 80% bis 2030 und einen vollständigen Ausstieg aus synthetischen Pestiziden bis 2035 fordert. Sie können die Initiative unterstützen, indem Sie sie >>hier unterschreiben. Jede Unterschrift zählt.
Lesen Sie hier mehr über unsere Position zu den neuen EU-Strategien "Farm to Fork" und biologische Vielfalt >>hier.
]]>Als wir bei Slow Food in den vergangenen Monaten unsere Position zur gesunden Ernährung erarbeiteten und dabei über das Pflegen von Mahlzeiten diskutierten, für die Rückkehr des Selberkochens plädierten, habe ich mir nicht ausmalen können, dass schon kurze Zeit später die tägliche Versorgung für uns alle wieder in den Mittelpunkt unserer Tagesabläufe rücken wird. Das Coronavirus hat unser aller Leben unerwartet in den letzten Monaten radikal verändert – in fast allen seinen Lebensbereichen.
Die Veränderungen treffen uns privat und gesellschaftlich, in Deutschland, Europa, in der Welt. Sie treffen uns in unserem alltäglichen Tun und im Kern unseres Seins, unserem sozialen Miteinander. Dass und wie wir uns ernähren, trägt zum Sein und Miteinander maßgeblich bei. Durch Corona ist Essen wieder spürbar existenziell geworden – es ist, wie Slow Food das nennt: Ins Zentrum unseres Lebens gerückt, dahin, wohin es eigentlich gehört.
Und doch stellt das für viele eine Herausforderung dar. Während einige um ihre Versorgungssicherheit bangen, wirft bei anderen das tägliche Zubereiten von Speisen in den eigenen vier Wänden Fragen auf. Beiden gemeinsam ist: Satt werden fordert in Zeiten von Corona wieder einen gewissen »Arbeitseinsatz«. Die Ernährungskultur vieler hat sich radikal auf den Kopf gestellt, vor allem in den urbanen Räumen. Wir haben zwangsentschleunigt und das (gemeinsame) Essen hat sich seinen Raum zurückerobert. Wir nehmen uns Zeit fürs Mahl und diese Mahlzeit hilft uns dabei, unseren Tagesablauf zu strukturieren – zuhause, im Home Office, mit Familie, Partnern, Mitbewohnern, mit uns selbst.
Dabei nehmen wir verstärkt das Ausgangsprodukt, das Nahrungsmittel, wieder wahr. Wir kosten Verschiedenes, werden uns der unterschiedlichen Anbieter, Preise und Qualitäten bewusst und hinterfragen das, was uns angeboten wird. Sei es aufgrund der Sorge beim Anblick leerer Supermarktregale oder ob der Debatten um Personalnotstände auf deutschen Äckern. Immer mehr von uns setzen sich (teils zum ersten Mal) mit der Frage auseinander, wo ihr Essen eigentlich herkommt, wie es verarbeitet wird. Sie fordern darauf eine transparente Antwort.
Die Corona-Pandemie ist wie für das öffentliche Gesundheitssystem auch für unser Lebensmittelsystem zum Testlauf geworden. Es steht im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit und somit teils auf dem Prüfstand. Lieferketten sind blockiert, In- und Export stocken, Häfen sind geschlossen, Arbeitskräfte fehlen. Zahlreiche Menschen denken über dieses System also genauer nach als sonst, ihnen wird deutlich, wie fragil und teils menschenunwürdig es ist – allein der Umgang mit den Arbeitsmigranten und dass auch jetzt wieder die Menschen, die eh schon Not leiden, besonders unter den Shutdowns leiden – abgeschnitten von existenziell wichtigen Versorgungswegen und Absatzmärkten.
Unser Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit wächst in Zeiten sozialer Distanz und in der Krise, und es betrifft auch unsere Lebensmittel. Vielen ist und wird durch die Folgen der Corona-Pandemie deutlich, worauf es ankommt, damit unsere Lebensmittel verfügbar sind und bleiben, unsere Versorgung und damit unser Miteinander gesichert ist. Es sind in erster Linie verlässliche und kleingliedrige Strukturen, eine resiliente Wertschöpfung für Anbau, Weiterverarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln. All das ist systemrelevant; gleichermaßen sind es die Menschen, die entlang dieser Wertschöpfung arbeiten, uns versorgen.
Dieses neu gewonnene Bewusstsein ist eine Riesenchance. Statt es beim Krisenmanagement zu belassen, müssen wir alles tun, unser System in ein besseres zu überführen. Das bedeutet keinesfalls, dass wir uns ganz aus der globalisierten Welt zurückziehen sollten. Corona zeigt uns einmal mehr, wie sehr alles längst miteinander verwoben ist – im Schlechten, im Guten. Viele Themen lassen sich nur im globalen Austausch lösen, auch im Bereich der Ernährung. Doch müssen wir unser globalisiertes Miteinander neu aufsetzen. Lebensmittel vorrangig unter Kostendruck und für den globalen Handel zu erzeugen und sie dabei in großen Teilen als Ramschprodukte zu betrachten, ist unverantwortlich.
Fundamente unserer Ernährungssysteme müssen allerorts eine agroökologische Anbauweise mit einer starken regionalen und saisonalen Lebensmittelversorgung sein, solidarische Modelle der Direktvermarktung, fairer Handel und vor allem der Respekt vor unseren Ökosystemen als Lebens- und Schutzräume. Die Bewahrung natürlicher ökologischer Grenzen sowie das Achten von Tier- und Menschrecht sind nicht verhandelbar. Die Coronakrise ist ein Weckruf, der uns unmissverständlich daran erinnert, was passiert, wenn wir die Auswirkungen unseres menschlichen Verhaltens auf die Ökosysteme nicht begrenzen. Sie zeigt uns, dass unsere bisherigen Konzepte überholt sind. Diese Krise hat die Debatte über unsere Ernährung verändert und hat das Potenzial, dies nachhaltig zu tun. Und ich wünsche mir, dass uns das neben der vielerorts gewachsenen Solidarität bleibt. Daraus können wir ganz viel Wertvolles ziehen: Die Kreativität, die Vernunft und das Durchsetzungsvermögen sowie die Kraft, die wir brauchen, um uns für dieses bessere und gerechtere, auch menschlichere Lebensmittelsystem zu engagieren. Lassen Sie uns das Positive aus der Krise mitnehmen, lassen Sie uns gestalten und klug handeln.
Bleiben Sie weiterhin engagiert, kritisch und genussfreudig,
Ihre Ursula Hudson
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Quelle: Slow Food Magazin 03/2020
]]>Einige Länder verhängen zur Zeit Exportstopps oder versuchen große Mengen Reis, Weizen und andere Grundnahrungsmittel aufzukaufen und einzulagern. Das bedeutet auch für uns in Niedersachsen: wir brauchen konkrete Maßnahmen hin zu einer Regionalisierung in der Ernährungswirtschaft.
Wie extrem der deutsche Markt von Im- und Exporten abhängt, zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Insgesamt hat sich der weltweite Warenexport in den letzten 40 Jahren verzehnfacht, etwa ein Viertel aller in Deutschland erzeugten landwirtschaftlichen Produkte gehen in den Export. Aktuell leidet die heimische Milchindustrie. Während der Absatz im Lebensmittelhandel enormen Zuwachs erfährt, verlieren die großen Molkereien und Milchviehbetriebe in der aktuellen Krise ihren internationalen Absatzmarkt und somit ihre Wirtschaftlichkeit, die ausschließlich auf Großstrukturen basiert. Dezentrale Strukturen sind jedoch in der Nahrungsmittelgrundversorgung und in der Lebensmittelverarbeitung elementare Stabilitätsfaktoren nicht nur in Krisenzeiten. Die politisch forcierte Exportorientierung und das Zerschlagen des regionalen Marktes mit dezentralen regionalen Wirtschaftskreisläufen zeigt hier deutlich das Marktversagen.
Rund zwei Drittel des in Deutschland verzehrten Gemüses werden dagegen laut Agrarmarkt Informations-Gesellschaft (AMI) importiert. Auch hier verlässt man sich auf den internationalen Markt, ohne eine systematische Entwicklungsstrategie regionaler Strukturen mit regionaler Wertschöpfung vor Ort voranzutreiben. Die unabdingbare "Luftbrücke" für osteuropäische Erntehelfer zeigt die fragilen Großstrukturen im Obst- und Gemüseanbau in Deutschland.
Eine Versorgung überwiegend aus regionalen Wirtschaftskreisläufen - und das weltweit - könnte Regionen in Krisensituationen resilienter machen und durch lokale Wertschöpfung auch Kleinst-, kleine und mittlere Wirtschaftsbetriebe vor Ort stärken. Daher drängen der Ernährungsrat Niedersachsen, die Ernährungsräte aus Frankfurt, Hannover und Köln, der Bundesverband der Regionalbewegung e.V., die Marktschwärmer Deutschland, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft e.V., Slow Food Deutschland und das Netzwerk Solidarische Landwirtschaft e.V. gemeinsam auf eine Regionalisierung und damit De-Globalisierung in der Ernährungswirtschaft. Bund und Länder sind hier gefragt, Regionalisierungsstrategien gemeinsam mit den relevanten Praxisakteuren der Land- und Ernährungswirtschaft zu entwickeln.
Jetzt besteht die Chance, den Aufbau von regionalen Nahversorgerstrukturen systematisch zu unterstützen. Die Resilienz der Kommunen und Regionen wird nicht nur im Medizinbereich eine tragende Rolle spielen müssen. Der Erhalt und Aufbau regionaler Wirtschaftskreisläufe für eine hohe Wertschöpfung in den Regionen und eine weitgehende Unabhängigkeit von globalen Handelsstrukturen sind Voraussetzung für eine zukunftsträchtige und krisenfeste Daseinsvorsorge - eine Pflichtaufgabe für Kommunen, für deren Rahmenbedingungen Bund und Länder sorgen müssen.
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Text: Gemeinsame Pressemitteilung von Ernährungsrat Niedersachsen, die Ernährungsräte aus Frankfurt, Hannover und Köln, der Bundesverband der Regionalbewegung e.V., die Marktschwärmer Deutschland, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft e.V., Slow Food Deutschland und das Netzwerk Solidarische Landwirtschaft e.V. (04.05.2020)
]]>Von Anfang an stand die Pandemie im Zusammenhang mit dem Verzehr von Wildtieren und den Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Ökosysteme. Seit dem Ausbruch hat Slow Food die vermutliche Rolle der industriellen Landwirtschaft und die Zerstörung von Ökosystemen bei der Entstehung von Coronaviren thematisiert. In der Zwischenzeit hat sich das Slow-Food-Netzwerk zusammengeschlossen, um auf die Krise zu reagieren und den betroffenen Unternehmen und Gemeinschaften auf der ganzen Welt zu helfen.
Die Auswirkungen von COVID-19
Die derzeitigen Kontakt- und Sperrmaßnahmen, die ergriffen wurden, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, haben sowohl kurzfristig als auch langfristig negative Auswirkungen auf die globalen Nahrungsmittelketten, wie im Bericht von IPES-Food dargelegt wird. Reisebeschränkungen hindern Saisonarbeiter*innen daran, die Felder zu erreichen, wodurch ganze Ernten gefährdet werden. Exportbeschränkungen, die in einigen wenigen Ländern eingeführt wurden, stoppen wichtige Ströme von Grundnahrungsmitteln: Da beispielsweise Vietnam seine Reisexporte gestoppt hat, verfügt Malaysia nur noch über Reisvorräte für zweieinhalb Monate.
Zu den ohnehin schon instabilen Lebensgrundlagen von Bäuer*innen und Landarbeiter*innen kommen weitere Unsicherheiten hinzu. Die Internationale Arbeitsorganisation der UN schätzt, dass über 50% der Landarbeiter*innen im globalen Süden unterhalb der Armutsgrenze leben. Migrant*innen und Landarbeiter*innen ohne Aufenthaltserlaubnis sind einem hohen Risiko ausgesetzt, da sie oft unter unhygienischen Bedingungen leben und arbeiten, in überfüllten Bussen zu den Feldern transportiert werden, sich nur schwer - wenn überhaupt - krankschreiben lassen können und eingeschränkten Zugang zu Informationen haben.
Die Schließung und Beschränkungen von Märkten schneiden wichtige Versorgungswege für die Gemeinden und Absatzmöglichkeiten für Bäuer*innen ab. Besonders besorgniserregend ist die Situation in den Ländern des globalen Südens, wo gefährdete Bevölkerungsgruppen für den Verkauf und Kauf von Nahrungsmitteln auf den informellen Sektor und Straßenmärkte angewiesen sind.
Verschärfung sozialer und ökonomischer Ungleichheiten
Die COVID-19-Pandemie verstärkt die bereits bestehenden Ungleichheiten drastisch. Bevor die Pandemie ausbrach, waren weltweit 820 Millionen Menschen unterernährt und 2 Milliarden Menschen waren von Ernährungsunsicherheit betroffen. Der in der vergangenen Woche veröffentlichte Globale Bericht über Lebensmittelkrisen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), des Welternährungsprogramms (WFP) und 14 anderer Organisationen warnt davor, dass die Corona-Krise dramatische Auswirkungen auf den Zugang zu Nahrungsmittel sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen sowie abgelegener Gemeinschaften, auf die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und auf das Einkommen der Haushalte haben wird, was wahrscheinlich dazu beitragen wird, mehr als eine Viertel Milliarde Menschen an den Rand des Hungers zu treiben, wenn nicht rasch Maßnahmen ergriffen werden, um den am stärksten gefährdeten Regionen Nahrungsmittel und humanitäre Hilfe zukommen zu lassen.
Mangelernährung in Form von Übergewicht, Fettleibigkeit und Unterernährung hat sich als wichtiger Risikofaktor für das Bekämpfen des Virus erwiesen. Benachteiligt im Überwinden der Krankheit sind dadurch Menschen, die aufgrund sozialer und kultureller Zugehörigkeit sowie dem Geschlecht eher zu den schwächeren Bevölkerungsgruppen gehören. In Zukunft wird die globale Wirtschaftsrezession die Zahl der Unterernährten wahrscheinlich noch weiter ansteigen lassen, da niedrigere Einkommen den Zugang zu gesunder Nahrung für viele noch schwieriger machen werden.
Kinder gehören zu den Verlierern der Pandemie
Überall auf der Welt hat die Schließung von Schulen dazu geführt, dass Millionen von Kindern der Zugang zu einer garantierten, täglichen kostenlosen Schulmahlzeit verwehrt bleibt, was für Familien mit niedrigem Einkommen von entscheidender Bedeutung ist. Allein in Lateinamerika wird die Zahl der Kinder, die dringend auf diese kostenlosen Mahlzeiten angewiesen sind, auf über 10 Millionen geschätzt.
Widerstandsfähige Gemeinschaften
Die COVID-19-Krise deckt nicht nur die Problemstellen des globalen Ernährungssystem auf sondern verdeutlicht gleichzeitig die starke Widerstandsfähigkeit lokal-basierter Lebensmittelsysteme und Kreislaufwirtschaften, die Anpassungsfähigkeit der Kleinproduzent*innen, Lebensmittelhandwerker*innen und Köch*innen und die unglaubliche Macht der Gemeinschaften. Solidarische Landwirtschaftsmodelle sind nach wie vor erfolgreich und verzeichnen in vielen Ländern eine steigende Nachfrage, wie z.B. in China, wo die Nachfrage nach SoLaWi-Ernteanteilen im Januar um 300% gestiegen ist. Die bargeldlosen Zahlungen im Voraus, fix zusammengestellte Körbe und die schnelle Lieferung oder Abholung spielen sicherlich eine Rolle bei der Gewinnung neuer Mitglieder.
Als Reaktion auf die COVID-19-Krise startete Slow Food International seine Kampagne #SlowFoodSolidarity, um die Aktionen der Slow Food Communities weltweit vorzustellen. In ganz Europa, Afrika, Asien, Lateinamerika, Australien und den USA haben Slow-Food-Gruppen Online-Einkaufs-Karten entwickelt, auf denen Kleinproduzent*innen und Hofläden, sowie Restaurants aufgelistet sind und die Menschen ermutigt werden, Unterstützung zu leisten. Gruppen in Mexiko, Spanien, Belgien, Südafrika und der Türkei haben mit Hauslieferungen begonnen, wobei sie sich vor allem auf die schwächsten Bevölkerungsgruppen konzentrieren. Slow Food nahe Köch*innen und Restaurants in Belgien, Italien, Großbritannien und anderen Ländern liefern auch Lebensmittel an Krankenhäuser, Kantinen und Obdachlose.
Über die Krise hinaus
Slow Food drängt die Entscheidungsträger*innen, jetzt das Fundament für ein zukunftsfähiges Ernährungssystem zu legen und nach der Covid-19-Krise nicht wieder auf den vorherigen Status quo zurück zu fallen.
Es ist unsere Kernüberzeugung, dass Entscheidungsträger*innen auf allen Ebenen eine Ernährungspolitik entwickeln sollten, die lokale agrarökologische Ernährungssysteme unterstützt - bei denen der Respekt für diejenigen, die Lebensmittel für die Gemeinschaft in Einklang mit den lokalen Ökosystemen produzieren, im Vordergrund stehen. Auch kurze Lieferketten und Agrarökologie gehören zur Basis zukunftssicherer und krisenfester Ernährungssysteme, da sich diese Modelle als widerstandsfähiger gegen die aktuellen wirtschaftlichen Schocks und die Erschütterungen der Lieferketten erweisen.
Angesichts der Krise setzt sich Slow Food für faire und nachhaltige Lebensmittelsysteme auf der ganzen Welt ein und fördert sie. Kurzfristig ruft Slow Food zu sofortigem Handeln auf, um sicherzustellen, dass alle Beschäftigten in der lokalen Lebensmittelwertschöpfungskette weiterhin die lokale Wirtschaft aufrechterhalten, frische und nahrhafte Lebensmittel liefern und widerstandsfähige Volkswirtschaften und Gemeinschaften für die Zukunft aufbauen können.
Slow Food USA setzt sich für ein Handeln auf föderaler Ebene ein und drängt den US-Kongress, kleine und mittlere Familienfarmen und Viehzüchter*innen, Fischer*innen, Landarbeiter*innen und Beschäftigte in der Lebensmittelproduktion sowie Millionen von Familien, die aufgrund der Pandemie zum ersten Mal mit Ernährungsunsicherheit konfrontiert sind, dringend zu unterstützen. Ebenso fordert Slow Food in Uganda die Entscheidungsträger auf, die Kleinbäuer*innen zu schützen und damit den Zugang zu Lebensmitteln für alle zu gewährleisten. Slow Food Europa drängt auf eine ehrgeizige "Farm to Fork"-Strategie und mahnt, ihre Einführung nicht weiter wegen des Coronavirus zu verschieben, wie es von agroindustriellen Lobbygruppen derzeit gefordert wird. Die Strategie, die Teil des Europäischen "Green Deals" ist, des Fahrplans, um die Wirtschaft der EU nachhaltig zu gestalten, ist die Gelegenheit, das Lebensmittelsystem der EU zu reformieren.
Die Ernährungssouveränität muss das treibende Prinzip in allen unmittelbaren und zukünftigen Strategien sein: Ein gerechteres und nachhaltigeres Ernährungssystem muss auf dem Recht der Menschen auf gesunde und kulturell angemessene Nahrung und auf ihrem Recht, ihr Ernährungs- und Landwirtschaftssystem selbst zu gestalten, basieren.
Die COVID-19-Krise hat die bestehenden Probleme innerhalb unseres Ernährungs- und Agrarsystems ins Rampenlicht gerückt. Die weltweite Slow-Food-Bewegung setzt sich mit allen Kräften dafür ein, dass wir eine solide Grundlage für nachhaltige Ernährungssysteme schaffen.
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Weiterführende Links:
]]>Nein, dieses Mal ist es nicht der Trinkmilchpreis, der die Milchbäuer*innen und die Milchbranche hart trifft. Aldi, der Preisführer für Trinkmilchpreise, hatte Mitte März sogar noch versprochen für Trinkmilch künftig einen besseren Preis zu bezahlen. Auch bei Butter und Käse zeigten sich die Verhandlungen mit dem Handel positiv. Es ist der Shutdown der Corona-Krise, der die Bäuer*innen und eine Milchbranche mit voller Wucht trifft. Eine Branche, die sich beharrlich weigert, für Krisen vorzusorgen.
Auf den Terminbörsen und im Großhandel stürzten Mitte März die Preise, rissen den Spotmarktpreis für Milch ins Bodenlose. Und dieses Überangebot an Milch hat wenig mit den jedes Frühjahr als Folge von Abkalbungen steigenden Milchlieferungen zu tun. Gleichzeitig bricht der Absatz weg und nicht nur durch geschlossene Gastronomiebetriebe und Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung. Der Export stockt. Arbeitskräfte fehlen. Die Quarantäne blockiert Lieferketten und es fehlt an Verpackungen. Ware kommt europaweit nicht ans Ziel und Molkereien sehen sich gezwungen das Angebot an Frischprodukten zu reduzieren und immer mehr Rohmilch zu Milchpulver zu verarbeiten.[1] Molkereien gehen ihrerseits dazu über, ihre Lieferant*innen aufzufordern, weniger Milch zu liefern.
Über ein Jahr lang hatte die Milchbranche um eine Sektorstrategie gerungen, die die Branche zukunftsfähig machen sollte. Unter Ausklammerung der Vorschläge des Bundesverbandes Deutscher Milchviehhalter (BDM) legt diese das Mengenmanagement in die Verantwortung der Marktakteur*innen. Kaum zeigt die Krise ihr Gesicht, schon rufen der Deutsche Bauernverband zusammen mit dem Milchindustrieverband MIV und der Bundeslandwirtschaftsministerin Klöckner nach Öffnung der subventionierten privaten Lagerhaltung. Der BDM und der European Milch Board EMB lehnen das ab. Und Slow Food Deutschland stimmt ihnen hier zu: Denn die Erfahrung zeigt: Der spätere Abverkauf von teuer eingelagertem Milchpulver und Butter drückt lediglich erneut den Preis auf den Weltmärkten.
Krisenmanagement ersetzt keine langfristige Strategie
Krisenmanagement ist jetzt wichtig und richtig. Die Gemeinsame Marktordnung (GMO) der Europäischen Union gibt ausdrücklich vor, dass im Fall von Marktkrisen – und darum handelt es sich bei der Corona-Krise auch – Regelungen getroffen werden können, um Milchmengen dort zu reduzieren wo sie entstehen: auf den Höfen und den Kühen. Slow Food unterstützt daher die Forderung des BDM, nach einer freiwilligen Mengenreduktion gegen Ausgleichszahlungen – so wie sie in der Milchkrise 2015, wenn auch spät aber dennoch wirksam eingesetzt worden ist. Auch gibt es inzwischen gute betriebliche Erfahrungen mit einer kurzfristigen Reduktion der Milchmenge: Reduzierter Einsatz von Kraftfutter, Verfütterung von Vollmilch an Kälber und auch eine verlängerte Zwischenkalbezeit- sodass keine zusätzlichen Kühe zum Schlachten gebracht werden müssen.
Jedoch warnt Slow Food davor, Krisenmanagement mit einem nachhaltigen Strategiewechsel hin zur Zukunftsfähigkeit der Milchwirtschaft zu verwechseln - weder in Deutschland noch in Europa und auch nicht weltweit. Von Krise zu Krise zu stolpern ist alles andere als nachhaltig. Diese wiederkehrenden Krisen sind kein Schicksal, sondern inhärenter Bestandteil der Logik dieses europäischen Wirtschaftssektors: Erzeugung von Milch unter Kostendruck und in Übermengen für den globalen Handel mit Billigkäse und Milchpulver. Mit den bekannten Folgen eines tiefen Strukturwandels in der Milcherzeugung. Seit 2009 haben 40 Prozent der Milchbäuer*innen das Melken aufgegeben. Die verbliebenen Kuhherden müssen Höchstleistung bringen, Weidehaltung wird zur Ausnahme und aus vielen intensiven Milchkuhhaltungen fließen nun auch Gülleüberschüsse.
Der Fokus muss auf regionalen Versorgungsketten liegen
Die Corona-Krise zeigt die Fragilität dieses Sektors (und noch vielen weiteren mehr) – gerade hier in Deutschland, dessen Milchbranche auf Export setzt. Wir dürfen diese für Tiere, Menschen und Umwelt zerstörerische Logik nicht mehr hinnehmen und nicht mehr fortsetzen. Schließlich gehören Milch und Milcherzeugnisse zu unserem europäischen Kulturgut. Sie bilden eine der wichtigen Einkommensquellen für bäuerliche Betriebe und Verarbeiter*innen. Vor allem auch sind sie ein wertvolles Grundnahrungsmittel. Die aktuelle Corona-Krise führt uns zu deutlich vor Augen, dass wir die folgende Wahrheit nicht vergessen dürfen: Die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln darf nicht internationalen Lieferketten überlassen werden. Sie muss – so weit wie möglich – lokal, regional und mindestens überschaubar bleiben. Erstaunlicherweise hat ausgerechnet Danone-Chef Emmanuel Faber in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) am 14. April 2020 davor gewarnt, zu alten Rezepten zurückzukehren, um die möglichen, durch die Corona- und Weltwirtschaftskrise ausgelösten, Hungernöte zu lindern. Heute gehe es um nachhaltige Wachstumsmodelle, um die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und vor allem um eine Rückbesinnung auf lokale Produktion.[2]
Resilienz in der Milchwirtschaft ist möglich
Was wir also dringend benötigen ist eine zukunftsfähige und damit resiliente Milchwirtschaft. Wie sieht die aus? Die Produktion muss sich an der Nachfrage ausrichten. Stattdessen aber waren bereits in der Milchquote 1984 20 Prozent Überproduktion eingeplant, um mit europäischer Milch die Weltmärkte zu „bedienen“. Dieser Logik, die Slow Food vollkommen widerstrebt, können wir nur dann entgegentreten, wenn wir sie auf der untersten Ebene – und das heißt bei unseren Milchkühen beginnend –durchbrechen: Gebt Kühen das zu fressen, was auf den Betriebsflächen erzeugt werden kann und schickt sie, wo es möglich ist, dazu auf die Weide! Und wo es nicht möglich ist, müssen wir uns dafür einsetzen, dass selbst angebautes Futter in den Trog kommt. Kein Soja aus Übersee! Kein negativer CO2-Fußabdruck! Keine Gülleüberschüsse! Weniger Milch pro Jahr! Alle profitieren davon!
Die Ernährung der Tiere mit Gras und Klee sowie ein nachhaltiges Weidemanagement bedeuten Verzicht auf Hochleistung. 5.000 bis 6.000 Liter statt 10.000 Liter pro Kuh und Jahr würde doch ausreichen. Dafür leben die Kühe länger, bleiben gesünder und bei der erzeugten Milch können wir dann auch wieder von Qualität sprechen. Beweidung fördert Biodiversität und erhält unsere Kulturlandschaften. Sie ist auch eine wichtige Maßnahme für den Klimaschutz, denn durch nachhaltige Beweidung tragen Rinder zur Bildung von Humus und so zur Speicherung von CO2 im Boden bei.
Und wenn es dann immer noch zu viel Milch gibt? Warum erhalten dann nicht alle Kälber Vollmilch statt Milchaustauscher (welch ein Unsinn angesichts der Überschüsse). Auch könnten sie in der ersten Lebenszeit mit der Mutter zusammen bleiben (muttergebundene Kälberaufzucht). Das ist keine reine Zukunftsmusik – viele Betriebe praktizieren das bereits. Sie verzichten auf Umsatz und erhalten ein stabileres, nachhaltigeres System der Milcherzeugung.
Ein Systemwandel, der sich auszahlt
In unserer letzten Studie zur „Umweltgerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der Milchwirtschaft“ konnten wir an vielen Praxisbeispielen zeigen, dass eine solche grundfutterbasierte und leistungsreduzierte Milcherzeugung nicht nur möglich ist, sondern auch ökonomisch sein kann sowie – was heute wichtig ist – gesellschaftlich gesehen keine Überschüsse erzeugt.
Wir benötigen nichts weniger als einen entschiedenen Systemwandel in der Milcherzeugung. Und Slow Food sieht sehr wohl, dass unser gesamtes Ernährungssystem nicht nachhaltig ist und wir als Verbraucher*innen darin eine große Rolle spielen und Verantwortung haben. Dies schließt ein, dass Verbraucher*innen auch lokale Milchbetriebe und Milchverarbeiter*innen unterstützen und diese wiederum durch den direkten Austausch ihre Erzeugung auf die Kund*innenwünsche hin ausrichten. Auch müssen wir weg vom Image der Milch als ‚Ramschprodukt‘, das billig in Massen gekauft und konsumiert werden kann. Es braucht mehr und echte Wertschätzung und einen reduzierten Genuss von qualitativ guter Milch, was sich durchaus in einem entsprechend höheren Preis widerspiegeln kann, darf und sollte.
Slow Food sieht es daher als seine Aufgabe an, die Verbraucher*innen in diesem Sinne aufzuklären, zu überzeugen und zu motivieren. Das ist unsere Aufgabe in der nun anstehenden Transformation unseres gesamten Ernährungssystems.
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Text: Andrea Fink-Kessler
[1] Olaf Zinke (2020): Milchmarkt und Corona: Erdbeben mit Folgen. In: agrarheute.com vom 15.4.2020.
[2] Christian Schubert: „Die Corona-Krise kann zu Hungersnöten führen. Der Danone-Chef warnt im Gespräch mit der FAZ vor Verwerfungen auf der ganzen Welt". In FAZ vom 14. April 2020, S. 22.
]]>„Hobbygärtnerin, 61 Jahre alt, Raum Nordhessen, würde gern auf freundlichem Bauernhof aushelfen. Zweimal je zwei Stunden die Woche“. Solche Anfragen trudeln jetzt regelmäßig auf den Jobbörsen und Vermittlungsplattformen ein. Die Solidaritätswelle für die coronagebeutelte Landwirtschaft ist eindrucksvoll, ebenso sind es die zu Tränen rührenden Geschichten von kleinen Hopfenbäuer*innen oder Spargelhöfen, denen Student*innen und Rentner*innen solidarisch unter die Arme greifen. Binnen fünf Tagen sind auf der Internetplattform „Das Land hilft“ 30.000 Inserate eingegangen. Täglich werden Tausende Arbeitskräfte an die Höfe vermittelt. „Das freut uns unheimlich, diese Solidaritätswelle“ heißt es beim Deutschen Bauernverband. Doch die vielen kleinen Erfolgstories können nicht verbergen, dass die Landwirtschaft vor gewaltigen Problemen steht. Bis Mai fehlen 80.000 bis 100.000 Saisonarbeiter*innen, die überwiegend aus osteuropäischen Ländern kommen. Ernteausfälle werden deshalb trotz der großen Solidaritätswelle nicht zu vermeiden sein. Die vielen ungelernten Erntehelfer*innen können die Lücken nicht schließen.
„Jetzt zeigt sich die fatale Abhängigkeit unseres Ernährungssystems von der Schattenarmee der Arbeitsmigrant*innen“, sagt die Slow-Food-Vorsitzende Ursula Hudson, „die Agrarindustrie hängt zu großen Teilen am Tropf schlecht bezahlter osteuropäischer Arbeiter*innen, die es überhaupt erst ermöglichen, dass die Masse und teils überproduzierte Ware zu so günstigen Preisen den Handel erreicht. Das Coronavirus legt auch beim Lebensmittel essentielle Strukturprobleme offen und zeigt was zukunftsfähig ist und was nicht. Wir werden daraus hoffentlich lernen, was wir brauchen, nämlich mehr kleinteilige Strukturen, diversifizierten Anbau und kurze Wertschöpfungsketten!“ Agrarexpertin Katrin Wenz vom BUND sieht das ähnlich: „Unser Ernährungssystem ist nicht krisenfest, das zeigt sich jetzt in aller Deutlichkeit“. Wenz verweist auf industrielle Agrarstrukturen mit Großbetrieben, denen nicht nur zwei, drei oder zehn Ernte- und Pflanzhelfer*innen fehlen, sondern Tausende. Die bäuerliche Landwirtschaft mit ihren kleineren, oft familiären Strukturen sei viel weniger betroffen, sagt Wenz, hier könnten fehlende Arbeitskräfte leichter ersetzt werden, während die Großbetriebe vor kaum lösbaren Personalnöten stünden.
Wer sticht 80 Tonnen Spargel am Tag?
Jetzt beginnt die Spargelzeit. Die größten Spargelbetriebe haben bis zu 100 Hektar unter Folie – etwa 100 Fußballfelder. Das Edelgemüse wird bei solchen Erzeuger*innen täglich von bis zu 1.000 Erntehelfer*innen aus Osteuropa gestochen: 50, 60 oder 80 Tonnen am Tag. Um die Armada der vor allem rumänischen Saisonarbeiter*innen auf solch einem Hof zu ersetzen, bräuchte es Tausende freiwilliger Hilfskräfte.
Nicole Spieß, Hauptgeschäftsführerin beim Gesamtverband der Land- und Forstwirtschaftlichen
Arbeitgeberverbände, macht eine realistisch klingende Gleichung auf. Die Arbeitsleistung eines einzigen gut eingearbeiteten professionellen Saisonarbeiters, der auch mal 12 oder 14 Stunden am Tag arbeite, entspreche der von drei bis vier Hilfskräften. Das Dilemma: Die vielen freiwilligen Helfer*innen sind zwar gutwillig und anfangs oft auch euphorisch, sie sind der schweren Arbeit in der Regel aber kaum gewachsen. Sie müssen zudem zuerst eingearbeitet werden, was wiederum Arbeitskräfte bindet. Viele Helfer*innen wollen aber nur wenige Tage helfen, manche sogar nur stundenweise. Die meisten Betriebe brauchen qualifizierte, belastbare und verlässliche Hände, die über Wochen und womöglich über Monate dauerhaft auf dem Acker unterstützen. Die wertvolle Einarbeitungszeit muss sich auch lohnen. Gerade beim Spargelstechen lässt sich viel Schaden anrichten. Und in wenigen Stunden lässt sich der Rücken ruinieren, orthopädische Komplikationen inbegriffen.
Der Wärmeschub sorgt für Arbeitsspitzen auf den Höfen
Noch ist die Ernte nicht in vollem Gange. Nicole Spieß hofft auf kühles Wetter. Die kalten Tage und Nächte Ende März seien gerade rechtzeitig gekommen, sagt sie. Pflanzarbeiten können jetzt noch ein wenig gestreckt werden. Spieß: „Was nicht unbedingt gesetzt werden muss, das wird verschoben.“ Ein warmes Frühjahr, wie es sonst von den Bäuer*innen gewünscht wird, wäre jetzt kritisch. Dann explodiert die Vegetation und es entstehen Arbeitsspitzen auf den Höfen. Vor allem der Spargel schießt dann heraus und muss schnell gestochen werden. Genau das könnte passieren, wenn die Temperaturen in den nächsten Tagen Richtung 20 Grad marschieren.
Die landwirtschaftlichen Betriebe haben aber noch ein ganz anderes Problem: das Virus. Mit den vielen Erntehelfer*innen holen sie sich auch unbekannte Menschen mit ebenso unbekanntem Gesundheitsstatus auf den Hof. Auch dort muss Abstand gehalten, müssen verschärfte Hygieneregeln befolgt werden. Mit ein paar Dixieklos am Feldrand ist das kaum zu machen. Und gerade beim Gemüsepflanzen arbeiten die Bäuer*innen und ihre Mitarbeiter*innen oft Kopf an Kopf. Vielleicht müsse jetzt auch das Handling mit den Pflanzmaschinen verändert werdenmutmaßt Antje Kölling, Leiterin für Öffentlichkeitsarbeit bei Demeter.
Kurzarbeiter*innen wechseln von der Firma aufs Feld
Auch Kölling findet es „phantastisch, wie viele Leute uns helfen wollen“ und berichtet von einem Brandenburger Hof, der innerhalb von Stunden gleich 60 Bewerbungen bekommen habe. Kölling beobachtet, dass an vielen kreativen Lösungen in den Regionen gebastelt wird. So könnten Industrie- und Handwerksbetriebe ihre Kurzarbeiter*innen zumindest befristet für die Feldarbeit abstellen. Solche regionalen Deals seien oft effizienter als Studierende und städtische Helfer*innen zu beschäftigen, die häufig kein Auto hätten und auf den Höfen auch nicht alle übernachten könnten.
Unterdessen wächst der Druck auf die Bundesregierung, die wegen Corona von Innenminister Seehofer ausgesperrten Saisonarbeiter*innen womöglich doch wieder ins Land zu lassen. Die EU-Kommission hat zu Wochenbeginn die Einreiseverbote für Erntehelfer kritisiert und die Mitgliedsländer eindringlich aufgefordert, die Grenzen für die Saisonkräfte wieder zu öffnen. Erntehelfer*innen werden von der EU-Kommission als „systemrelevante Arbeitskräfte“ bezeichnet, die in der Krise ähnlich wie medizinisches Personal, Sicherheitskräfte und Arbeitskräfte im Verkehrssektor behandelt werden müssten.
Auch andere EU-Staaten haben indes die Grenzen dicht gemacht. Die Volksrepublik Polen hat für Einreisende aus Deutschland Quarantänemaßnahmen verhängt. Tausende polnische Erntehelfer*innen in den Grenzregionen von Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Brandenburg können damit nicht mehr pendeln, weil sie bei der Rückkehr nach Polen 14 Tage in Quarantäne müssten. Für Tages- und Wochenendpendler*innen gibt es jetzt zwar Prämien, damit sie dauerhaft auf deutscher Seite bleiben, doch längst nicht alle Erntehelfer*innen nehmen diese Angebote an, weil sie damit auf längere unbestimmte Zeit von ihren Familien getrennt wären.
Soldat*innen als letzte Rettungsmaßnahme
Bleibt noch ein anderer Sektor der Ernährungswirtschaft, über den kaum geredet wird: die Schlachthöfe. Auch sie sind auf schlecht bezahlte osteuropäische Arbeitsmigrant*innen angewiesen, allerdings weniger auf Saisonkräfte, weil die Arbeit kontinuierlich anfällt. Auch in den Schlachthöfen arbeiten Wochenendpendler*innen, die sich jetzt entscheiden müssen, ob sie im Land bleiben. Die Personaldecke ist fast überall dünn geworden. In Österreich wird bereits darüber nachgedacht, in den Schlachthöfen Soldat*innen einzusetzen. 340 Uniformierte des österreichischen Bundesheers sind bereits in Rewe-Warenlagern im Einsatz, wie der Standard meldet.
Bauernhöfe, Agrarindustrie, Schlachthöfe, Logistikunternehmen – viele Betriebe fahren auf Sicht. Das gilt natürlich auch für die Gastronomie, die unter anderem versucht, mit Essen zum Mitnehmen und Lieferdiensten die Krise zu überbrücken. Einige Betriebe liefern unter dem Slogan „Kochen für Helden“ Mittagessen für Krankenhäuser. Doch die anfangs noch großzügigen Spenden des Großhandels an die Gastronomie laufen langsam aus. Bleibt das Prinzip Hoffnung und das Kreativpotenzial jedes einzelnen Betriebs, diese Krise zu meistern. Alles hängt jetzt davon ab, wann die Infiziertenkurve einknickt und der Lockdown zu Ende geht.
Text: Manfred Kriener
Copyrights:
Teaser (c) Sharon Sheets
Inline (c) Wolfgang Borrs
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