Neues Briefing von Slow Food International: Slow Food fordert die Europäische Kommission dazu auf, sich beim Tierschutz gegen Konzerninteressen durchzusetzen

19.06.2023 - Europäische Bürger*innen äußern zunehmend ihre Besorgnis über die ethischen und ökologischen Folgen industrieller Tierhaltung, was aus Slow-Food-Sicht eine umfassende Überarbeitung der geltenden EU-Vorschriften unausweichlich macht. Da die Europäische Kommission plant, ihren Vorschlag zur Aktualisierung der EU-Tierschutzvorschriften bis voraussichtlich September 2023 fertigzustellen, bündelt Slow Food International nun Empfehlungen an die zuständigen politischen Entscheidungsträger*innen, mit welchen Maßnahmen und politischen Prozessen sie die Haltungsbedingungen von Nutztieren entscheidend verbessern können.

Älteste Schafrasse Europas (c) Jens Witt.jpeg„Tierschutz ist in erster Linie eine Frage des Respekts. Tiere verdienen unseren Respekt, denn sie sind fühlende Wesen. Wir fordern die EU-Institutionen deshalb auf, einen One-Welfare-Ansatz zu verfolgen, der anerkennt, dass alles zusammenhängt und voneinander abhängt: das Wohlergehen der Tiere und Menschen, die biologische Vielfalt sowie Umweltfaktoren", kommentiert Ottavia Pieretto, Projektkoordinatorin für das Thema Protein Transition bei Slow Food.

Die Ausbreitung der industriellen Tierhaltung als vorherrschendes Modell, das auf selektive Zucht für schnelles Wachstum und hohe Erträge ausgerichtet ist, hat allein in der EU zur Ausbeutung von Millionen von Nutztieren geführt. Inzwischen sind Tierhaltungsbetriebe in der EU für 43 Prozent aller Methan- und 43 Prozent der Ammoniakemissionen verantwortlich; sie tragen zum Verlust der biologischen Vielfalt sowie zur wachsenden Antibiotikaresistenz beim Menschen bei.

Dennoch haben die Fleisch- und Milchlobby enormen Druck auf die EU-Verantwortlichen ausgeübt, um den Status quo zu erhalten. In Teilen der Zivilgesellschaft löste das die Sorge aus, dass der für dieses Jahr erwartete EU-Gesetzesentwurf verwässert wird. Slow Food fordert die EU-Institutionen auf, sich gegen den erbitterten Widerstand der Konzerne gegen Maßnahmen für eine nachhaltige Landwirtschaft zu behaupten. Der Übergang zu einer zukunftsfähigen und artgerechten Landwirtschaft erfordert einerseits die Umstellung unseres Lebensmittelsystems auf Agrarökologie, in der Nutztiere ein wertzuschätzender Teil von extensiven, zirkulären und gemischten Kreisläufen sind. Andererseits brauchen wir eine stärker pflanzlich basierte Ernährung, um das Lebensmittelsystem innerhalb der planetaren Grenzen zu halten und die Gesundheit zu fördern.

Die EU-Rechtsvorschriften zum Schutz von Nutztieren decken heute alle Stufen der Erzeugung ab, von der Haltung über den Transport bis zur Schlachtung. Viele Bereiche sind jedoch noch nicht geregelt, wie z. B. Tiertransporte über weite Distanzen, Kennzeichnung, das Wohlergehen von Milchkühen, die Haltung von Fischen und der Einsatz von Antibiotika.

Slow Food vertritt die Überzeugung, dass die Europäische Kommission einen weitreichenderen Ansatz für das Wohlergehen und den Schutz von Tieren sowie die Transparenz verfolgen muss, mit Schwerpunkt auf den folgenden Bereichen: Wohlergehen auf dem landwirtschaftlichen Betrieb, Transport, Schlachtung und Tierschutzkennzeichnung. Einige der Kernforderungen, die auch in unserem Briefing verankert sind, lauten:

- Tiere in industrieller Tierhaltung verbringen ihr gesamtes Leben unter teils leidvollen Bedingungen, die ihr Wohlbefinden und ihr natürliches Verhalten beeinträchtigen, etwa in Käfighaltung oder mit Verstümmelungen. Die EU muss ein System zur Bewertung des Tierschutzes in der Nutztierhaltung einführen, das auch in extensiven Systemen wirksam sein kann, d. h. auf tierbezogenen Parametern basiert und Schwellenwerte vorsieht, die an unterschiedliche Gegebenheiten angepasst sind. Der Weidegang muss so weit wie möglich gewährleistet sein, und Verstümmelungen müssen verboten werden.

- Schlechte Lebensbedingungen der Tiere in landwirtschaftlichen Betrieben setzen sich bei den oft stunden- oder gar tagelangen Transporten innerhalb und außerhalb der EU fort. Die EU muss die Ausfuhr von Lebendtieren in Länder außerhalb der EU deshalb beenden. Ferner müssten dieselben Tierschutznormen für tierische Importprodukte vorgeschrieben werden, die aus dem Ausland auf den EU-Markt gelangen (Spiegelvorschriften). Ebenso sollten strengere Vorschriften für Transporte innerhalb der EU erlassen werden sowie die Lebendtiertransporte auf notwendige und lokale Transporte beschränkt werden.

- Für die Verbesserung des Tierschutzes ist es unabdingbar, die Rahmenbedingungen der Schlachtung zu verändern: Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die EU die Einrichtung und Verbreitung kleiner, betriebseigener und/oder mobiler Schlachthöfe unterstützt, um das Leiden der Tiere während des Transports und den Stress am Ende ihres Lebens zu verringern.

- Die überarbeiteten EU-Tierschutzvorschriften sollten Maßnahmen zur Verbesserung der Verbraucherinformation über den Tierschutz enthalten. Eine klare Option könnte ein einheitlicher Kennzeichnungsrahmen sein, der sowohl für in der EU produzierte als auch für importierte Produkte gilt. Dies würde EU-Bürger*innen in die Lage versetzen, nachhaltige Entscheidungen treffen zu können, und den Erzeuger*innen Anreize bieten, zu respektvolleren Methoden der Tierhaltung überzugehen.

Die Europäische Kommission zeigt mit der angekündigten Überarbeitung der bestehenden Rechtsvorschriften ihren Einsatz für die Verbesserung des Wohlergehens von Nutztieren. Der geplante EU-Rechtsrahmen für nachhaltige Lebensmittelsysteme bietet eine weitere Chance für die Europäische Kommission, verbindlich anzuerkennen, dass die Gesundheit und das Wohlbefinden von Tieren, Menschen, Pflanzen und der Umwelt eng miteinander verbunden sind.

» Zum Forderungspapier „Policy Brief on Animal Welfare“ (in englischer Sprache)

» Mehr Informationen über den One-Welfare Ansatz

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