Vielfalt auf dem Teller, Vielfalt in der Natur: Slow Food und der Wert der biokulturellen Vielfalt

22.10.2020 - Ohne Vielfalt kein Genuss. Davon ist Slow Food überzeugt. Deswegen fördert der Verein die Vielfalt der Arten, die Vielfalt der Erzeugung und des Lebensmittelhandwerks und die Vielfalt regionaler Spezialitäten. Erst wenn alles ineinandergreift, sprechen wir von einer zukunftsfähigen Ernährung.
  • Murnau Werdenfelser Rind_Stefan Abtmeyer_DSF1991.jpgAlte Tierrassen und Pflanzensorten erhalten auch die Vielfalt an Lebensmitteln, Landwirtschaft und Handwerksbetrieben
  • Wer die Vielfalt schmecken und genießen möchte, muss sie retten.
  • Allein zwei Drittel der Nutztierrassen in Deutschland sind gefährdet. Auch viele Nutzpflanzen sind bedroht.

Manchmal beginnt Vielfalt auch im Suppentopf. Es war eine Rindssuppe – das weiß Slow-Food-Deutschland-Vorstandsmitglied Rupert Ebner noch genau – mit dem ein kleines Wunder für die Vielfalt vor einigen Jahren begann. In der Murnau-Werdenfelser Suppenküche begannen einige Aktive, das Fleisch von der gleichnamigen, einst im oberbayerischen Voralpenland beheimateten und dann fast ausgestorbenen Rinderrasse zu verarbeiten. Das Dreinutzungsrind hatte einst die Rinderhaltung im Voralpenland geprägt, weil es nicht nur Milch lieferte, sondern auch Fleisch und sich als Arbeitstier eignete. Zudem ist es von jeher an Böden und Klima in der Region bestens angepasst. Nur wie es nach dem Zweiten Weltkrieg Mode war: Irgendwann eroberten moderne Rinderzüchtungen die Ställe. Diese konnten entweder ganz besonders viel Milch oder ganz besonders viel Fleisch erzeugen, aber eben nicht beides.

Und die Zahlen der Murnau-Werdenfelser sanken und sanken, bis irgendwann nur noch wenige hundert Tiere lebten. Die Rasse war also vom Aussterben bedroht, als Rupert Ebner und einige Mitstreiter*innen sie wiederentdeckten. Seit 2005 ist sie Passagier in der Arche des Geschmacks von Slow Food. Die robusten Rinder aber wieder nennenswert in ihrer Heimat und anderen dafür geeigneten Regionen anzusiedeln erforderte Verwertungsmöglichkeiten. Denn wenn Landwirt*innen an einem Tier nichts verdienen, werden sie es auf Dauer auch nicht halten. 

 

Wichtiges Zusammenspiel von Landwirtschaft, Gastronomie und Handwerk

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Getreu dem Arche-Motto „Essen, was man retten will!“ suchten die Aktiven nach Verwertungsmöglichkeiten für das Fleisch. „Wir wussten ja gar nicht, wie das Murnau-Werdenfelser Rind als Fleisch vermarktet werden kann“, erzählt Ebner. „Also sind wir mit etwas gestartet, wo wir sicher waren, dass es Menschen noch als klassisches Rindfleisch-Produkt kannten: die Rindsbrühe.“ Schnell stellte sich heraus: Das Fleisch eignet sich auch als Braten. Und so verbreitete sich die Geschichte von dem regionaltypischen Fleisch bis nach München. Dort griff der Wirt des Hacker Pschorr Jürgen Lochbihler die Idee auf und bot fortan das Murnau-Werdenfelser-Fleisch in allen erdenklichen Formen an.

So legten Landwirt*innen, Verarbeiter*innen und Genussmenschen den Grundstein für ein besonders gelungenes Beispiel für den Schutz der biokulturellen Vielfalt: Erst entdecken engagierte Menschen eine Art, die vom Aussterben bedroht ist. Sie schaffen daraus ein Produkt. Und dieses Produkt kommt so gut an, dass immer mehr Lebensmittelhandwerker*innen es verkaufen. Folgerichtig kümmern sich immer mehr Landwirt*innen um die Aufzucht dieser Tiere. Heute jedenfalls gibt es statt weniger hundert wieder mehrere tausend Murnau-Werdenfelser Rinder. Das zeigt, wie umfassend und wirkungsvoll das Konzept der biokulturellen Vielfalt ist; dass sich nämlich nachhaltige Vielfalt  aus dem Zusammenspiel von biologischer, handwerklicher und genusskultureller Vielfalt ergibt. Slow Food Deutschland hat diese biokulturelle Vielfalt zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit im Jahr 2020 gemacht. Auch bei der virtuellen Ausgabe der größten internationalen Slow-Food-Veranstaltung, Terra Madre Salone del Gusto, die in diesen Tagen startete, spielt das Thema eine große Rolle.

 

So dramatisch steht es um die Vielfalt

Und den Wert dieser ganzheitlichen Vielfalt zu betonen, ist dringender denn je: Sowohl die ökologische als auch die handwerkliche und die genusskulturelle Vielfalt sind bedroht.

So wie einst das Murnau-Werdenfelser Rind stehen unzählige Rassen vor dem Aussterben, allein etwa zwei Drittel der Nutztierrassen in Deutschland. Dabei gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen biologischer Vielfalt und einer sicheren und nachhaltigen Ernährung. Die intensive Nutzung von Äckern und Grasland, der steigende Einsatz  chemischer Pestizide, aber auch die Verwendung uniformer Industrie-Sorten reduzieren die Biodiversität immer weiter. Der Schaden manifestiert sich unter anderem im Rückgang von Ökosystemleistungen um weltweit durchschnittlich 47 Prozent. Dabei hängt unser Essen ab von belebten und fruchtbaren Böden, von einem dank lebender Organismen funktionierenden Wasserkreislauf, von reiner Luft, Bestäubern und Nützlingen. Und auch landwirtschaftliche Ökosysteme leiden stärker unter Schädlingen, Krankheitserregern und Klimawandel, wenn die Artenvielfalt sinkt. Zugleich sinkt parallel zu der Zahl der Arten und Sorten auch die Zahl der Höfe und die Zahl der Lebensmittelhandwerksbetriebe. Seit Jahrtausenden wirkt sich die Art, wie Land genutzt und bewirtschaftet wird, auf den Lebensraum und die Zusammensetzung von Arten, auf die Vielfalt von Nutztierrassen und Kulturpflanzenarten aus.

 

Lebensmittel als Landschaftsgestalter

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Kulturelle und biologische Vielfalt sind durch die Anpassung der Menschen an das Leben in bestimmten Umgebungen untrennbar verbunden. Gesellschaften haben sich vertiefte Kenntnisse über lokale Arten, ökologische Beziehungen und Ökosystemfunktionen angeeignet und ihre kulturellen Praktiken und kulinarischen Traditionen auf ökologische Gegebenheiten zugeschnitten. Kulturleistungen sind der blühende Ackerrain ebenso wie die bodenfreundliche Fruchtfolge, die Züchtung des besonders trittsicheren und robusten Murnau-Werdenfelser Rinds ebenso wie die Zubereitung regionaler Spezialitäten.

Lebensmittel, die die biokulturelle Vielfalt fördern, sind geschmackliche Landschaftsvermittler, Landschaftsgestalter und Landschaftserhalter. Industrielle Lebensmittel werden in konventionellem Großflächenanbau und meist in Monokultur angebaut. Die Tiere werden meist in großen Stallungen und Mastanlagen gehalten. Althergebrachte Rassen wie das Murnau-Werdenfelser Rind dagegen stehen auf der Weide und gestalten so eine Landschaft, in der sich wiederum Vielfalt entfalten kann.

 

Kluges Zusammenspiel von Standort und Sorten

Denn Lebensmittel, Pflanzen wie Tiere, haben sich über Jahrhunderte durch die kluge Arbeit von Bäuer*innen an ihren Standort angepasst. Ihr echtes Potential entfalten sie nur an diesem besonderen Standort. Wie etwa das Murnau-Werdenfelser Rind, das wie gemacht ist für die mageren, bunten Frühsommerwiesen der Bergwelten und gleichzeitig die weichen, sauren Moor-Flächen im Alpenvorland. Dessen Fleisch und dessen Milch daraus wiederum einzigartige Geschmacksqualitäten entwickeln. Nimmt Biodiversität weltweit ab, betrifft dies die charakteristischen kulturellen Wissenssysteme, die mit der Artenvielfalt verflochten sind. Dieses regionaltypische Wissen gilt es zu bewahren, wiederzubeleben und weiterzuentwickeln. So wie es eben in Oberbayern mit den Dreinutzungsrindern gelungen ist. Und dennoch ist auch dort noch nicht alles perfekt: Denn das Murnau-Werdenfelser Rind ist bisher vor allem dank der Vermarktung seines Fleisches durch Gastronom*innen, Direktvermarkter*innen und Metzger*innen ‚gerettet‘. Dabei gibt diese Rinderrasse auch hervorragende Milch. Diese enthält etwa einen besonders hohen Anteil eines Kaseins, das für die Käseerzeugung hervorragend geeignet ist. „Es wäre ein Traum, aus einigen Betrieben die Milch zu sammeln und daraus ein Markenprodukt zu machen,“ so Ebner. Für Slow Food also ist die Rettung der Murnauer-Werdenfelser lang noch nicht abgeschlossen.

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Text: Nina Wolff, amtierende Vorsitzende von Slow Food Deutschland und Sven Prange, Journalist.

>>Themenseite von Slow Food Deutschland zur Biokulturellen Vielfalt 

>>Das Positionspapier zur Biokulturellen Vielfalt

>>Mehr Info zur Arche des Geschmacks

>>Mehr Infos zum Archepassagier Murnau-Werdenfelser Rind

>>Mehr Infos zu den Veranstaltungen im Rahmen von Terra Madre Salone del Gusto

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