Liebevoller Umgang

Liebevoller Umgang mit dem Lebensmittel

17.4.2011 - Auf der Slow Food Messe befasste sich die Podiumsdiskussion „Genießen zum Gesundwerden" mit Geschmacksbildung und Gesundheit. Was ist Geschmack? Wie verändert er sich? Welchen therapeutischen Stellenwert besitzt er? Diesen Fragen widmete sich eine hochkarätig besetzte Forumsveranstaltung.

Der Titel „Genießen zum Gesundwerden" war dabei — durchaus gewollt — auch als „Genießen zum Gesundbleiben" zu verstehen.  „Uneingeschränkte Völlerei tut nicht gut", sagte beispielsweise Hubert Hohler, Küchenleiter der Klinik Buchinger und Vorsitzender von Slow Food Bodensee. „Wenn man jeden Tag alles hat, wird es zur Normalität - dann muss man die Freude erst wieder suchen. Unsere Klinik ist eine Fastenklinik. Es geht darum, nach dem Fasten einen anderen Lebensstil zu finden und einen neuen Geschmack zu entdecken, der mehr kennt als das industriell Vorgegebene." Vielfalt im Mund entstehe nicht nur durch Schmecken, sondern auch durch verschiedene Temperaturen oder sensorische Wahrnehmung, wenn zum Beispiel etwas knusprig sei. „Geschmack ist Gewohnheit, Genuss Erfahrung."

Im heutigen Umgang mit Lebensmitteln sei es daher zunehmend wichtig, sich „eine Sinnlichkeit zu bewahren. Man muss sich Zeit nehmen, Dinge zu erfahren. In unserer Nahrung stecken nicht nur Zutaten, sondern auch die Zubereitung, der liebevolle Umgang mit dem Lebensmittel." Seine gesunden und schmackhaften „Klinikrezepte" hat Hohler in dem Buch „Buchinger RezeptBox" zusammengefasst.

Der Physiker Prof. Dr. Thomas Vilgis vom Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz präsentierte wissenschaftliche Fakten: „Geschmack ist etwas sehr Kompliziertes. Es gibt nur fünf oder sechs Geschmacksrichtungen, die wir tatsächlich mit der Zunge ‚schmecken‘. Die Hauptsache ist, was wir riechen. Beim Kauen werden flüchtige Aromen - Moleküle - freigesetzt, die wir im Nasen-Rachenraum wahrnehmen. Wenn man sich die Nase zuhält, ‚schmeckt‘ man beispielsweise von Zimt nichts mehr. Richtig schmecken zu lernen ist eine Lebensaufgabe." Manches allerdings werde buchstäblich mit der Muttermilch aufgesogen, sagte Vilgis, selbst leidenschaftlicher Hobbykoch, der nebenberuflich für verschiedene Medien über das Thema Kochen und Essen schreibt. „Einige Geschmacksrichtungen sind angeboren, etwa Süß, durch den hohen Milchzuckeranteil in der Muttermilch. Bitter ruft einen Abwehrreflex hervor, weil vieles Bittere giftig ist. Sauer hingegen muss erst erlernt werden." Essen sei „die letzte Stufe der Wahrnehmung, die im Leben möglich ist. Hier geht es um Würde. Wenn ein Patient zittert und seine Suppe nicht mehr selbst löffeln kann, muss man eben die Konsistenz der Suppe ändern."

Bei bestimmten Krankheitsbildern ist nicht die Motorik, sondern die Geschmackswahrnehmung des Patienten gestört, manche verlieren den Geschmack sogar vollständig. In diesen Fällen muss das Schmecken tatsächlich neu erlernt werden. „Geschmack kann bei einigen Krankheiten verfälscht werden oder ganz verloren gehen", erklärte Katharina Vogt, Ärztin an der Klinik Löwenstein. „Es gibt Medikamente, durch die sich die Geschmackswahrnehmung verändert. Es ist wichtig, in einem Gespräch zu erfahren, was dem Patienten schmeckt, damit er die für ihn notwendige Kalorienzufuhr bekommt. Wenn ein Patient sagt, ‚ich kann das nicht essen‘, kann das verschiedene Gründe haben." So könnten nicht nur krankheitsbedingte Geschmacksveränderungen, sondern auch traumatische Erlebnisse negative Kopplungen mit bestimmten Lebensmitteln hervorrufen, die bis lange nach der Genesung anhielten. Vogt: „Beatmete Patienten rühren ihr Lieblingsessen nicht mehr an, wenn sie sich daran mehrmals verschluckt haben. Oder der geliebte Erdbeerkuchen erinnert nach einer Chemotherapie an die Farbe der Medikamente. Dann kann es sein, dass sogar eine Lieblingsspeise verloren geht." Ein Arzt solle daher nicht nur fragen, „haben Sie denn gegessen?", sondern sich vielmehr Gedanken machen, wie er dem Patienten „eine schön präsentierte, Genuss anregende Nahrung" anbieten könne. „Ist Appetit Geschmack?", fragte Vogt. Darüber könne man ebenfalls diskutieren. Fest stehe, dass Appetit, die Lust auf Geschmack, nicht nur Anzeichen einer Genesung, sondern auch deren Voraussetzung sei — wer wieder genießen kann, gesundet schneller.

Inhaltspezifische Aktionen