Petrini-Kolumne

Kolumne: Carlo Petrini über den großen Wert der kleinen Krümel

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4.10.2010 - "Ich erinnere mich ganz genau an meinen Großvater, wie er bei den Familienfeiern mit uns am Tisch saß. War er mit dem Essen fertig, sammelte er sorgfältig die Brotkrumen ein, die auf die Tischdecke gefallen waren. Er bildete mit der Hand eine kleine Schale, legte alle bis zum letzten Krümel hinein und brachte die Hand an den Mund." – Lesen Sie Carlo Petrinis neue Kolumne jetzt online.

In Süditalien machen die Alten noch heu­te eine andere Geste, wenn ein Stück Brot auf den Boden fällt: Sie heben es auf und küssen es, bevor sie es wieder auf den Tisch legen. Diese Handlungen, die von einem tiefen Respekt für das Essen zeugen, als sei es etwas Heiliges, sind heute von un­seren Mahlzeiten verschwunden. Das Säubern der Tischdecke von den Brotkrümeln im Restaurant hat als einzigen Zweck, den Tisch sauber zu halten, auch um zu betonen, dass es sich um ein feines Restaurant handelt.

Die neue Generationen, die Kinder und die Enkelkinder jener Großeltern, an die ich mich erinnere, schmunzeln vielleicht über diejenigen, die Brotkrümel essen oder Brotstücke küssen, denn sie haben diese Achtung vor dem Essen in der Regel verloren. Mög­ licherweise haben auch ihre Eltern schon lange damit aufgehört. Das klingt vielleicht wie die alte Leier, aber es stimmt.

Das Warensystem braucht die Verschwendung


Was ist passiert? Warum hat das Essen für uns so viel an Wert verloren, dass es ohne jegliche Scham verschwendet wer­ den kann? Es ist eine Tatsache: Die Zahlen zeigen, dass mindes­tens ein Drittel der Weltproduktion weggeworfen wird, teilweise während der Ernte, der Verarbeitung und der Distribution und teilweise durch uns Verbraucher, die viel zu viele Reste in den Müll werfen. Wir kaufen zu viele Lebensmittel, gelockt durch Sonderangebote, sind faul oder Opfer eines Produktions­ und Distributionssystems, das schlicht und einfach vom Konsumis­mus geprägt ist. So wie bei jeder anderen Ware auf dem Markt braucht dieses System die Verschwendung, um sich selbst zu erschaffen und zu erhalten. Lebensmittel sind tatsächlich unter allen Aspekten Konsumgüter geworden, hauptsächlich auf der Nordhälfte des Globus, aber auch in vielen ärmeren Ländern.

Sie sind den Gesetzen der industriellen Produktion unterwor­fen, ähnlich wie Schrauben, Schuhe oder Einwegrasierklingen. Von wegen Einweg: Oft werden Lebensmittel sogar weggewor­fen, ohne dass sie überhaupt angefasst wurden. Da sie reichlich vorhanden und billig sind, haben sie für uns keinen Wert mehr.

Was ist zu teuer? Zucchini oder die Designerunterhose?

Eines unserer größten Probleme heutzutage ist gerade die Unfähigkeit, zwischen Preis und Wert zu unterscheiden, vor allem, wenn es um Lebensmittel geht. Wir verlangen nämlich, dass das Essen wenig kostet, immer weniger und dass über­mäßig viel davon produziert wird. Wir machen einen Aufstand, wenn Zucchini ein paar Cents pro Kilo teurer werden, nehmen aber einfach hin, dass die Handytarife steigen oder dass eine Designerunterhose ein Vermögen kosten kann. Das führt dazu, dass wir schlecht essen: Wenn das Essen keinen Wert hat, hat es auch keine Qualität mehr, verliert jede Bedeutung und jeden Bezug zu den Menschen und deren Verhältnis zur Na­tur. Lebensmittel kann man dann leichtsinnig verschwenden, ohne Reue. Die Leistung derjenigen, die gearbeitet haben, um sie zu produzieren, spielt keine Rolle mehr, ebenso wenig wie das ökologische Gleichgewicht der Region, in der sie herge­stellt wurden und nicht zuletzt die Tatsache, dass sie anderen Menschen den Hunger stillen würden.

Lebensmittel sind zu unserem „Sprit“ geworden, zu einem Treibstoff ohne Geschichte, ohne Geschmack und ohne Respekt für die Erde, und so lange sie billig und reichlich vorhanden sind, können wir sie auch ruhig wegwerfen. Die industrielle Lebensmit­telproduktion hat zwar zunächst den historischen Verdienst ge­habt, die Menschen in Europa, Nordamerika und zum Teil in Asien nach dem Zweiten Weltkrieg vom Hunger zu befreien. Heute ist sie aber zu weit gegangen: Sie hat die Bindung zwischen Men­schen und Lebensmitteln aufgelöst, und letztere um jede Bedeu­tung gebracht.

Das Essen hat immer ein unendliches Netz von Be­ziehungen zwischen Menschen, Umwelt und Regionen mit sich gebracht. Die Industrie beschränkt diese Beziehungen, weil sie sie nicht kontrollieren kann, also zentralisiert und nivelliert sie: Sie wendet serielle Verfahren für Dinge wie die Natur an, die al­les andere als seriell sind. Der Ausdruck „industrielle Landwirt­schaft“ ist, wenn man genauer darüber nachdenkt, eigentlich ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich, denn die Landwirtschaft sollte die Natur bewirtschaften und dabei die Menschen innig miteinbeziehen. Wie kann dieses komplexe, von der Wissen­schaft zum Teil unerforschte Netz von Beziehungen auf industriel­le Prozesse reduziert werden, die im Namen des Profits und der Produktivität bereit sind, jegliche Komplexität zu opfern?

Verschwendung zeigt die Entwertung der Nahrungsmittel

Wenn wir uns empören, weil so viel verschwendet wird, dann müssten wir uns auch über die Art und Weise empören, wie unse­re Lebensmittel behandelt werden, vom Feld bis zum Supermarkt­regal. Ich glaube, nichts zeigt besser als die Lebensmittelver­schwendung, welches Niveau des Wahnsinns dieses System, das leider in den letzten Jahrzehnten immer globaler geworden ist, er­reicht hat. Diese Verschwendung steht für all die Probleme, die mit dieser grenzenlosen Kommerzialisierung und Entwertung verbun­den sind.

Die Verschwendung ist nicht nur ein ethisches Problem in einer Welt, in der eine Milliarde Menschen unter Hunger und Un­terernährung leiden. Sie hat auch Folgen für die Wirtschaft und den Energieverbrauch und macht uns klar, wie viel von diesen Ressour­cen hätte besser verwendet werden können, um ein wirklich nach­haltiges Lebensmittelsystem zu schaffen. Ein System, das auf verantwortlichem, bewusstem Konsum basiert und lokale, land­wirtschaftliche Ökonomien fördert, die auch in die Vergangenheit schauen, um die Zukunft aufzubauen.

Essen ist sozial, angenehm und belohnend

Unter diesem Gesichtspunkt sind die traditionellen, ländlichen Gemeinschaften beispielhaft: Sie zollen den Lebensmitteln nicht nur den ihnen gebührenden Respekt, sie sind auch meisterhaft in der Kunst der Wiederverwendung und im Recycling. Sie zeigen uns vor allem eins: Wenn man den Dingen den richtigen Wert beimisst und ihnen Respekt zollt, dann wird auch der Genuss wichtig. Es geht dabei nicht um die Art Genuss, wie wir ihn heute begreifen und der Statussymbolen und dem Luxus viel näher steht als dem realen Wohlbefinden und der wahrhaftigen Fähigkeit, das Leben in vollem Umfang zu genießen.


In Italien z.B. haben die schmackhaftesten Rezepte alle den gleichen Hintergrund: Der Hunger, unter dem die Menschen ge­litten haben, hat sie erschaffen und entwickelt. Diese Gerichte lehren uns, das Essen zu respektieren, nicht nur weil noch heu­te in der Welt so viele Menschen hungern, sondern weil sie in genialer Weise aus dem Akt des Essens etwas machen, das an­genehm, sozial, identitätsstiftend und belohnend ist, für Kör­per und Seele. Nicht zufällig verwenden viele traditionelle regionale Rezepte Italiens Zu­taten, die eigentlich Essens­reste oder Produkte sind, die wir heute wegwerfen. Denken wir an das alte Brot, aus dem Brotsuppen wie die berühmte Ribolli- ta Toscana gemacht werden. Oder an die Fleisch­ und Gemüse­ reste, die fein gehackt in die Füllung von Agnolotti, Tortellini und andere Nudelsorten kommen. Oder die sogenannten Virtù Teramane, die „Tugenden“ der Stadt Teramos in der Region Abruz­zen. So nennt sich eine Suppe, die traditionell zum 1. Mai be­reitet wird, wenn der Winter zu Ende und der Frühling endlich da ist. Man verwendet für sie vieles vom dem, das vom Winter übrig geblieben ist – trockene Hülsenfrüchte, verschiedene tro­ckene Nudelsorten und Schinkenschwarten – zusammen mit dem frisch geernteten neuen Gemüse. Man nennt dieses Gericht „Tugenden“ nicht zuletzt deshalb, weil ihr Gelingen gerade in der Fähigkeit der Hausfrauen liegt, alles wieder verwenden zu können, ohne etwas wegzuwerfen. Diese Rezepte sind die Ah­nen unserer Gastronomie und werden heute in den besten Res­taurants angeboten.

Also, auch der Genuss kann die Verschwendung verhindern, denn er zeigt uns, dass das Essen in seiner Komplexität begriffen werden muss, um ihm seine Bedeutung und seinen Wert zurück­ zugeben. Fangen wir also bei uns zu Hause an: Denken wir jeden Tag an das, was wir essen und an das, was wir gerade wegwerfen. Das Leben wird schöner und sinnvoller, wenn wir begreifen, was alles hinter unserem Essen steht. Und das nutzt auch der Erde und denjenigen, die sie bewohnen – egal wo.


Autor: Carlo Petrini ist Gründer und Präsident der Internationalen Slow Food Bewegung
Übersetzung: Elisabetta Gaddoni
Foto: Margret Artzt

Diese Kolumne können Sie auch im neuen Slow Food Magazin 05/2011 lesen.

Die Kolumne im PDF-Format finden Sie hier.

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