200 Jahre Nestle

16.8.2014 - Im August 1814, heute vor 200 Jahren, wurde Heinrich Nestle (li.) geboren, der Gründervater des größten Nahrungsmittelkonzerns der Welt. Gemeinsam mit Justus Liebig, Julius Maggi und Carl Heinrich Knorr legte er den Grundstein für die Industriealisierung der Lebensmittelherstellung. In ihren Töpfen blubberte das erste Fast Food einer neuen Epoche. Von Manfred Kriener

Die Erfindung des Fast Food

aktuelles-aktuelles_2014-heinrich_nestle.jpg

Am Anfang war die Konserve. Nicolas-Francois Appert, der Zuckerbäcker und ehemalige Leibkoch des Herzogs von Pfalz-Zweibrücken, erhält im Jahr 1810 von Napoleon für die Kunst, „alle animalischen und vegetabilischen Substanzen in voller Frische zu erhalten“, die üppige Prämie von 12.000 Goldfrancs ausbezahlt. Appert hat die bereits bekannten Wirkmechanismen des Vakuums und des Dampfkochens kombiniert und damit die Hitzekonservierung erfunden. Das Erhitzen von Nahrungsmitteln in einem Gefäß tötet die Fäulnisbakterien. Beim Abkühlen entsteht ein Vakkuum, das den Deckel auf dem Gefäß abdichtet. Appert arbeitet noch mit Glasflaschen. Der britische Kaufmann Peter Durand testet die Methode erstmals an Blechkanistern und erfindet im selben Jahr die Konservendose, die am 25. August 1810 patentiert wird. Mit einem Lötkolben werden die Dosen verschlossen, mit Hammer und Meißel brachial geöffnet. Die Konservendose wird zur kulinarischen Zeitmaschine. „Indem sie uns den Mai in den Februar befördert, bewirkt sie die sanfteste Revolution in unseren Gaumen“, schreibt der französische Gastrosoph Grimod de la Reynière. Mit Hilfe der Dose können Lebensmittel unabhängig von Erntezeitpunkt und Herkunft haltbar gemacht, aufbewahrt und gehandelt werden. Und die Soldaten Napoleons bekommen für ihre Schlachtenzüge unverderblichen Proviant.

Die Erfindungen von Appert und Durand bilden den Auftakt für ein stürmisches Jahrhundert epochaler Erfindungen, die weltweit zu Meilensteinen in der Kulturgeschichte der Küche avancieren und die Ernährung der Menschen auf den Kopf stellen. Es ist die Geburtsstunde einer neuen Massenfabrikation von Lebensmitteln. Ihre Schöpfer heißen Henri Nestlé, Julius Maggi, Justus Liebig und Carl Heinrich Theodor Knorr. Mit Milchpulver, Erbswurst und Fleischextrakt wollen sie die Volksernährung verbessern, Armen und Arbeitern eine nahrhaftere Kost anbieten. Am Ende blubbert das erste Fastfood in ihren Töpfen. Die Industriealisierung und Standardisierung der Lebensmittel ist nicht mehr aufzuhalten. Was als großes Versprechen begann, nimmt im Verlauf der Geschichte eine ungute Wendung.

Der Apotheker brennt Schnaps und verkauft Steine

Henri Nestlé wird vor 200 Jahren, am 10. August 1814 als elftes von 14 Kindern und Sohn des Glashändlers Johann Ulrich Nestle in Frankfurt am Main geboren. Eigentlich heißt er in bravem Deutsch Heinrich Nestle. Nach einer Apothekerlehre wandert er nach Vevey ins Schweizer Kanton Waadt aus und passt seinen Namen der neuen Heimat an. Der Mann handelt mit Zement und Steinen, er vertreibt Düngemittel, Schnaps und Limonade, Flüssiggas und Petrollampen. Er erfindet eine Süßholzschneidemaschine und konstruiert eine Riesenstampfe zum Zerkleinern von Knochen. Doch seine multiplen Geschäfte machen ihn weder reich, noch glücklich. Bis ihm im Herbst 1867 der große Wurf gelingt.

Nestlé experimentiert mit den Grundzutaten Milch, Mehl und Zucker. Er will der Menschheit zur Ernährung von Kleinkindern „ein Präparat bieten, das alle nothwendigen Bestandteile in sich vereinige und dessen leichte und schnelle Herstellungsweise es jeder Mutter leichter macht, sich derselben in wenigen Minuten selbst zu benutzen.“ Grammatik ist nicht seine Stärke, aber unternehmerischer Elan und Erfindungsgeist. Den hat zuletzt der deutsche Chemiker Justus Liebig angestachelt. Am 16. Januar 1866 hat die Deutsche Reichszeitung eine aufregende Rezeptur Liebigs zur Zubereitung einer „Säuglingssuppe“ veröffentlicht, um damit Kleinkinder und Invaliden zu nähren. Apotheker in München und Stuttgart verkaufen die Liebigsche Stärkung frisch zubereitet in kleinen Portionen. Die Krux: Die Zubereitung ist „gar zu umständlich“, notiert Nestlé, sie erfordert „eine halbe Stunde complizierte Kocherei“, um aus Mehl, Malz, Milch und Pottasche den wertvollen Brei zusammenzurühren.

Nestlé hat verstanden, dass es schneller und einfacher gehen muss. Er dickt mit Zucker gesüßte Milch im Vakuumkessel „bei gelinder Wärme“ durch Verdampfung ein. Das Weizenmehl gibt er nicht direkt in die Milchpampe, er backt vielmehr kleine Zwiebäckchen daraus und zerbröselt sie staubklein. So wird der Weizen veredelt und verdaulicher gemacht. Dann rührt er das Zwiebackpulver unter die dicke Milch und trocknet die Mischung vollständig aus. Jetzt muss er zur besseren Bekömmlichkeit nur noch etwas Kaliumbicarbonat zugeben und schon ist das neue Nahrungsmittel fertig: Nestlés Kindermehl für Säuglinge und schwächliche Personen. Für die Zubereitung braucht es nur etwas Wasser, um das Konzentrat aus der Dose zu einem glatten Brei zu rühren.

Brühe als Fleischersatz für die darbenden Arbeiter

Nestlés Vorbild und chemischer Ziehvater, der Farbenhändlersohn Justus Liebig, verfolgt jenseits der Säuglingssuppe andere Pläne. Liebig ist schon mit 21 Jahren zum außerordentlichen Professor der Chemie ernannt worden. Mit seinem Standardwerk zur Chemie in der Anwendung auf Agricultur und Physiologie hat er 1840 die Grundlage der modernen Ernährungswissenschaften gelegt. Jetzt will er den Armen und Kranken einen nahrhaften Ersatz für das teure Fleisch liefern. Mit seinen Studenten extrahiert er das Fleisch verschiedener Tiere, mal mit kaltem, mal mit heißem Wasser. In der Brühe entdeckt er eine imposante Stoff-Gemengelage. Seine Vision: Der Extrakt mit den gelösten Inhaltsstoffen könnte vielleicht genauso wertvoll und nahrhaft sein wie das Fleisch selbst. Er kocht eine intensive Fleischbrühe und konzentriert sie immer weiter zu einem festen braunen Sirup: Liebigs Fleischextrakt – ein neues Nahrungsmittel für „außerordentliche Bequemlichkeit“ und „große Zeitersparnis im Haushalte“, so die Werbung.

Ähnlich liegt der Fall des 1846 geborenen Kaufmanns Julius Maggi, der Sohn eines italienischen Auswanderers und einer Zürcher Lehrerstochter. Ein Vortrag des Fabrikinspektors Fridolin Schuler im Jahr 1882 über die „Ernährung der Fabrikbevölkerung und ihre Mängel“ lässt ihn nicht mehr los. Maggi zeigt sich tief berührt, er will die Arbeiterfamilien und ihre Kinder durch eine bessere Ernährung vor Krankheit und Tod retten. Gemeinsam mit Schuler experimentiert er mit eiweißreichen Hülsenfrüchten, bis er 1884 auf der Basis eines gut verdaulichen Leguminosenmehls die erste Fertigsuppe entwickelt. Die Anwendung ist denkbar einfach. Wasser zugeben, erhitzen, umrühren und: Kinder, das Essen ist fertig! Maggi will vor lauter Begeisterung seine eigene Tochter auf den Namen „Leguminosa“ taufen, doch die Ernüchterung folgt. Der Suppenbrei aus Hülsenfrüchten schmeckt nicht und ist für die Arbeiter zu teuer. Maggi muss den Geschmack seiner Erfindung verbessern, eine kräftige Würzung soll sie delikater machen. Aus Sojabohnen und Weizeneiweiß, die er mit Salz- und Schwefelsäure versetzt, entsteht eine dunkelbraune Flüssigkeit mit kräftigem Aroma. Sie ist bis heute untrennbar mit dem Namen Maggi verbunden: die Maggi-Würze im markanten Vierkantdesign – die wohl berühmteste Flasche Deutschlands!

Maggi produziert aber auch Fleischbrühe in Kapseln, Suppenwürfel und -tabletten. Sein großer Gegenspieler ist die Familie Knorr in Heilbronn, die mit dem Handel von Dörrobst und Getreide ihr Geld verdient. Doch Carl Heinrich und seine Söhne tüfteln seit 1873 auch mit Hülsenfrüchten, Gemüse und Würzmischungen und bringen 1886 ihre ersten Fertigsuppen in neuer Verpackung auf den Markt – in Tafel- und Wurstform. 1889 kauft Knorr die Rechte an der schon damals legendären Erbswurst.

Erbswurst stärkt die Kampfkraft der Soldaten

Der Berliner Koch Johann Heinrich Grünberg hat 1866 Erbsmehl, Speck und Zwiebeln mit Gewürzen und einer großen Portion Nierenfett vermischt und diesen Teig zu einer schlanken Wurst gepresst. Die preußische Regierung kauft das Patent und versorgt einen militärischen Versuchstrupp ausschließlich mit Erbswurst und Brot. Die Kampfkraft nimmt keinen Schaden, die Soldaten bleiben fit und munter. Im Krieg gegen Frankreich 1870/71 wird die Wurst erstmals im großen Stil an die Soldaten verteilt. Nach 1889 stellt sie Knorr in industrieller Massenproduktion her.

Der philanthropische Geist der Erfinder beginnt sich da längst zu verflüchtigen. Immer stärker hätten Profitstreben und militärische Interessen die Entwicklung des frühen Convenience-Food vorangetrieben, schreibt Peter Peter in seiner Kulturgeschichte der deutschen Küche. An die Stelle der Ernährungsverbesserung sei »ein pseudomedizinischer Überbau« getreten, der die Produkte »zur gesunden, hygienischen und nahrhaften Kost« verklärt habe.

Ob Erbswurst, Kindermehl oder Suppenwürze: Die neuen industriellen Lebensmittel werden offensiv beworben. „Marketing gehört zur industriellen Massenherstellung wie das Huhn zum Ei“, schreibt der Historiker Gunther Hirschfelder in seiner „Geschichte der Ernährung“. Nestlé, Maggi und Co., analysiert die Historikerin Franziska Lampert („Unser täglich Brot – die Industriealisierung der Ernährung“) seien zugleich „Pioniere der Markenbildung, der Werbung und des Corporate Designs“. Auch bekannte Künstler werden für die Werbung eingespannt. Liebigs Fleisch-Extract Compagnie wirbt mit Haushaltskalendern und legt eine Sammelbildserie auf. Die hübschen Bildchen zeigen Stationen aus Liebigs Leben. Für Maggi erfindet der Dichter Frank Wedekind immer neue Werbesprüche: „Vater, mein Vater / Ich werde nicht Soldat / Derweil man bei der Infantrie / Nicht Maggi-Suppe hat!“ Henri Nestlé wählt das berühmte Nest mit dem fütternden Vogel, der seinen Jungen Nahrung bringt, als Blickfang und Markenzeichen. Von Nestlé zum Vogelnest – eigentlich ein eher schlichter Gedankengang und doch wird der Frankfurter Apotheker bis heute als marketingorientierter Pionierunternehmer besungen, der eines der ersten Markenprodukte erschaffen hat.

Die „kolossale Fabrik“ wächst immer schneller

Nach einem erfolgreichen und äußerst werbewirksamen Test seines Kindermehls an einem sterbenskranken Säugling, hat Nestlé 1869 eine „kolossale Fabrik“ mit einer Kapazität von täglich 1000 Dosen Kindermehl aufgebaut. Die Verkaufserfolge übertreffen alle Erwartungen. Doch die unregelmäßige Anlieferung der verderblichen Milch – ohne moderne Kühlketten – bringt ihn immer wieder in Bedrängnis. Mal gibt es zu wenig Milch, dann wieder so viel, dass Nestlé gezwungen ist, aus den Überschüssen Käse zu produzieren. Gehetzt vom großen Verkaufserfolg muss er im Herbst 1872 den Ausstoß seiner Fabrik durch weitere Investitionen auf 2000 Dosen täglich verdoppeln. Dennoch drohen immer wieder Lieferengpässe. Längst exportiert er sein Produkt auch ins Ausland und nach Übersee. Als die dritte Firmenerweiterung unausweichlich wird, um keine Marktanteile an die erwachte Konkurrenz zu verlieren, resigniert Nestlé, sein Familienunternehmen mit 30 Beschäftigten ist ihm über den Kopf gewachsen. „Ich gehe bei der Sache zu Grunde“, schreibt er dem Vetter in Frankfurt, „die ganze Einrichtung, die Fabrikation und die weitläufige Korrespondenz allein zu besorgen, kann ich auf die Länge nicht aushalten.“ 1875, als sich der Jahresausstoß der Millionengrenze nähert, beschließt der ausgelaugte Erfinder den Rückzug. Am 12. Januar berichtet das Nachrichtenblatt in Vevey vom „sensationellen Verkauf“ der Kindermehlfabrik für eine Million Franken. Nestlés Traum vom Millionär wird doch noch wahr.

Am 8. März 1875 gründen die Hauptaktionäre Pierre-Samuel Roussy, Jules Monnerat und Gustave Marquis die Aktiengesellschaft Henri Nestlé. Der alte Besitzer hat seinen Namen gleich mit verkauft, er muss den Namen seiner Ehefrau annehmen. Als reicher Mann von 60 Jahren flaniert er nun, ganz in Weiß gekleidet, in seiner Wahlheimat Montreux durch die Stadt. Seine Fabrik ist jetzt ein managergeführter moderner Betrieb. Die neuen Besitzer verdreifachen den Pulver-Ausstoß durch Investitionen in Maschinen und Fabriken mit Bahnanschluss. Die neugegründete AG verkauft jetzt 2,8 Millionen Dosen Kindermehl und als Zusatzprodukt 2,2 Millionen Büchsen Kondensmilch im Jahr. In Payerne, ebenfalls im Kanton Waadt, entsteht die erste Zweigfabrik. Das Werbebudget wird auf 100.000 Schweizer Franken erhöht und damit fast verzehnfacht. Wie erfolgreich Werbung neue Produkte in den Markt drücken kann, haben die Erfinder der Margarine gerade vorgemacht. 1869 sind in Frankreich die ersten Fettwürfel produziert worden. Das Produkt ist ebenso billig wie überflüssig, denn Butter und Öl sind reichlich verfügbar. Doch die Margarine wird als „Sparbutter“ geschickt vermarktet und kann sich tatsächlich durchsetzen.

Die erste Firmenfusion beendet den Preiskrieg Im Geschäft der Nestlé AG tobt währenddessen ein verbissener Preiskrieg um die Kondensmilch. 1905 wird er auf ebenso elegante wie richtungsweisende Art gelöst. Nestlé fusioniert mit dem härtesten Konkurrenten Anglo-Swiss Condensed Milk und erhöht damit die Schlagkraft auf 18 Fabriken. Es ist der Anfang einer endlosen Unternehmensgeschichte von Fusionen, Beteiligungen und Einverleibungen. Wie ein gefräßiges Tier schnappt sich Nestlé Brocken um Brocken, Wachstum durch stetes Verschlingen. 1929 wird der Schokoladenhersteller Peter, Callier, Kohler „eingegliedert“. Neun Jahre später besitzt Nestlé bereits 105 Fabriken.

Der alte Nestlé stirbt 1890 im schweizerischen Glion, Julius Maggis Leben endet 1912 in Küsnacht. 1947 kreuzen sich die Wege der beiden genialen Erfinder noch einmal. Der Nestlé-Konzern schluckt die schweizer Firma Alimentana, die unter der Marke Maggi Suppen, Brühwürfel und Würzmittel verkauft. Die beiden anderen Pioniere, Liebig und Knorr, enden in den großen Armen von Unilever, dem anderen riesigen Nahrungsmittelmulti. Von den vier großen Namen bleibt allein Nestlé als eigenständiges Unternehmen bestehen. Und wie! Der Konzern expandiert mit beinahe naturgesetzlicher Konstanz. Am 1. April 1938 wirft Nestlé eine echte Innovation auf den Markt: Ein Schweizer Forschungslabor hat im Auftrag des Konzerns eine Art Würfelkaffee hergestellt, der sich wie Zucker im heißen Wasser auflösen soll: Nescafé. Er erobert weltweit in rasendem Tempo die Regale. Berauscht vom Erfolg realisiert Nestlé weitere Akquisitionen: Neben Maggi werden auch Findus, Cross & Blackwell (Dosensuppen) Ursina (Bärenmarke, Thomy) und Libby übernommen. Der anschließende Einstieg beim Kosmetikhersteller l’Oreal markiert ein komplett neues Geschäftsfeld. Und mit Speiseeis, Tiefkühlkost, Mineralwasser, Weinen und Restaurants ist der Konzern in die letzten Nahrungsmittelmärkte eingedrungen.

Der heftige Rückschlag erfolgt ausgerechnet im Kerngeschäft des Gründervaters Henri: bei der Säuglingsnahrung. Nicht die Konkurrenten stellen Nestlé ein Bein und auch nicht die Kartellwächter. Der Schweizer Multi steht moralisch im Abseits. Die Anschuldigung klingt ungeheuerlich: „Nestlé tötet Babies!“. Der britische Journalist Mike Muller und die Schweizer „Aktionsgruppe Dritte Welt“ werfen dem Unternehmen vor, mit seiner aggressiven Werbung für künstliche Babynahrung Millionen Säuglinge umzubringen. Immer mehr Studien werden bekannt, die zeigen, dass Flaschenkinder sehr viel häufiger an Infektionen und Durchfall sterben als gestillte Kinder. „Breast is best!“, Muttermilch ist das Beste für den Säugling, sagt die Weltgesundheitsorganisation. Aber immer mehr Mütter in den Entwicklungsländern glauben „West is best“; das Milchpulver der Reichen garantiere pausbäckige gesunde Babies. Nestles Flasche als Fortschrittssymbol und Killer? Allmählich begreift die Konzernzentrale, was ihr Werbefeldzug anrichtet. Eine weltweite Boykottkampagne gegen den Multi beginnt; sie wird auch von den Kirchen unterstützt.

Nestlé verkauft täglich weltweit eine Milliarde Artikel

Heute bräuchten die Boykotteure einen langen Spickzettel. 200 Jahre nach der Geburt des Gründervaters verkauft Nestlé in 196 Ländern – täglich! – fast eine Milliarde Artikel. Zum Nestlé-Imperium gehören 447 Fabriken in 86 Ländern mit 330 000 Beschäftigten. Mehr als 2.000 Marken hat der Konzern durch Zukäufe und Übernahmen in seinem Portfolio vereint. Nestlé sammelt Firmen wie andere Leute Briefmarken. Der Schweizer Multi produziert einfach alles: Leberwurst und Hundefutter, Hautcremes und Brühwürfel, Smarties und Frosties, Fitnesskost und Kalorienbomben, Müsli und Mayonnaise, linksdrehenden Joghurt und rechtsdrehende Ideologie. Nescafé und Nespresso heißen die bekannten Cashcows, aber Nestlé das ist auch Contrex, Vittel, Perrier und San Pellegrino, das sind Spaghetti von Buitoni oder Pfefferminz-Plätzchen von After Eight. Selbst die Arbeiter in den Fabriken wissen nicht mehr, was da über die Fließbänder läuft. Alles Nestlé! Gerade verstärkt der Konzern seine Aktivitäten im Kosmetik- und Gesundheitssektor. Dazu gehört auch ein Einstieg in den boomenden Markt mit Botox-Spritzen – faltenfrei mit Nestlé.

Auch nach dem Ende des Boykottaktionen bleibt Nestlé der ungeliebte, unheimliche Riese: der Nahrungsmittelkonzern, der die Industriealisierung der Lebensmittel auf die Spitze getrieben hat. Den Armen und Kranken der Welt zu helfen, das war der Anspruch der vier Pioniere Nestlé, Liebig, Maggi und Knorr. Heute ist der übrig gebliebene „Gigant Nestlé“, so die Vorsitzende von Slow Food Deutschland, Ursula Hudson, „der weltweit größte Hersteller von Nahrungsmitteln, von Plastikfutter eher, jeglicher Art, das eigentlich niemand braucht und das doch das Leben und Essen von Abermillionen Menschen bestimmt."

Bild oben: Porträt von Firmengründer Heinrich Nestle aus dem Jahre 1867 © Nestlé, Quelle und Lizenz

Inhaltspezifische Aktionen