Kompettverwertung von Nutztieren

17.10.2014 - Schwein, Rind und Huhn bestehen nicht nur aus Kotelettsträngen und Filets. Was passiert mit den „unedlen“ Teilen von der Nase bis zum Ringelschwanz? Gewürzt mit etwas Wagemut und einer neuer Lebensmittel-Moral lassen sich daraus feine Speisen zubereiten – gleichzeitig wird so der Tierverbrauch verringert. Von Manfred Kriener

Nutztiere: Wer isst den Rest?

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Eigentlich ganz einfach: Man nehme einen ganzen Schweinekopf und platziere ihn in einen geräumigen Topf. Dort hinein kommen reichlich Wurzelgemüse, ein großer Kräuterstrauß, ein Beutelchen Pfefferkörner, eine halbe Flasche Weißwein und so viel Brühe, dass Stirn und Ohren gut bedeckt sind. Dann ein wenig mit der Nachbarin schmusen und den Topf drei Stunden simmern lassen. Jetzt das Fleisch vom Schädel zupfen und zusammen mit Kartoffeln, Salbei und Knoblauch in eine mit Mürbeteig ausgelegte Kuchenform packen. Obendrauf einen Teigdeckel setzen und den Schweinekopf-Kartoffelkuchen im Rohr goldbraun ausbacken. Dazu einen strammen Riesling.

Wer keinen XXL-Topf hat, in den ein ganzer Schweinekopf hineinpasst, fängt erst mal eine Nummer kleiner an. Vielleicht mit einer eleganten Erbsensuppe mit Schweineohr. Oder mit geröstetem Kalbsknochenmark zum Petersiliensalat. Die Klassiker Hirn mit Ei, Kutteln und Kalbsbacken wären außerdem noch im Angebot, aber auch Lamm- und Stierhoden, Carpaccio vom Schweinefuß mit Hummer oder eine kräftige Suppe von ausgekochten Hühnerfüßen und -kämmen.

All das und noch viel mehr gehört zu einem Küchenkonzept ohne Tabus, das sich aus Respekt vor dem Tier dazu verpflichtet, den Schlachtkörper komplett zu verwerten. Von der Rüsselschnauze bis zum Ringelschwanz. Geht nicht gibt’s nicht. Denn spätestens seitdem die Londoner Kochlegende Fergus Henderson 1999 das Kultbuch „Nose to Tail“ vorgelegt hat, liegen auch für – sagen wir mal – herzhaft-rustikalere Teile von Schwein, Lamm und Kälbchen Peter interessante Rezepte auf dem Küchentisch.

Hendersons Buch war ruckzuck ausverkauft und vergriffen, wurde dann aber neu aufgelegt und hat inzwischen eine regelrechte nose-to-tail-Bewegung ausgelöst. In diesem Jahr feiert Hendersons Restaurant St. John, das sich vor allem bei Künstlern großer Beliebtheit erfreut und mitten im alten Londoner Schlachthofviertel Smithfield liegt, seinen 20. Geburtstag. Der „Observer“ hat mit einer Magazin-Extranummer gratuliert, so enorm ist der Einfluss des Mannes, der eigentlich Architektur studiert hat. Sein Klassiker ist jetzt endlich auch auf Deutsch erschienen.

Gepaart mit der Idee der Nachhaltigkeit und dem Anspruch, weniger Abfall zu produzieren und so den Tierverbrauch zu reduzieren, ist eine neue Lebensmittelmoral entstanden. Dazu kommt die Neugier auf unbekannte und vergessene Genüsse, auf andere Texturen und Geschmäcker. „Bevor ich mir ein Rinderfilet brate, esse ich doch allemal lieber ein Stück Leber oder eine Portion Kutteln“, sagt der Berliner Koch Wolfgang Müller provokant. Müller weiß, wovon er spricht. Er hat sich schon vor Jahren auf Innereien und auf jene „unedlen“ Teile des Tiers spezialisiert, die es für ihn eigentlich gar nicht gibt. Unedel ist für einen wie Müller das trockene Schnitzel vom Turboschwein aus industrieller Massentierhaltung. Müller hat 19 Jahre in der Sterneküche gearbeitet und dort mit Innereien und Kalbsköpfen immer mal wieder die Konventionen gebrochen. Sein Trick: die Hochzeit von Bettler und Prinzessin. Derbe Kalbskutteln serviert er mit Champagnersauce, Langustinen und Perigord-Trüffeln. Sein lackierter Schweinebauch wird von Austern und Garnelen eskortiert. Und zu Törtchen von der Schweinenase darf’s ein duftiges Rosengelee sein. Die Begleitung des Rustikalen mit feinen Edelprodukten, so Müllers Erfahrung, senke die Hemmschwelle und es würden auch jene Gäste neugierig, die sonst einen weiten Bogen um Kalbsköpfe und Rüsselschnauzen schlagen. „Brücken bauen ist wichtig“, sagt Müller, der dem Borstenvieh ein ganzes Buch gewidmet hat.

Vom Hundefutter zum gastronomischen Highlight: die Bäckchen-Epidemie

Fortgeschrittenen Essern serviert er auch mal eine Schweineschnauze pur. Die mariniert er vier Tage mit allerlei Gewürzen und Essig, kocht sie dann schön weich und legt sie schließlich auf den Grill bis sie braun und knusprig ist – „die schmeckt richtig gut, da ist auch etwas Muskelfleisch dran!“ Für Müller ist Essen vor allem Kopfsache und der Geschmack von Kulturen und Moden geprägt. Warum ist in der Gastronomie plötzlich eine regelrechte Epidemie von Rinder-, Kalbs- und Schweinebacken entstanden, nachdem dieselben Gesichtsmuskeln zuvor jahrzehntelang nur zu Hundefutter verarbeitet wurden? Jetzt sind sie schick und in aller Munde.

Ob Lamm- und Stierhoden, Schweinenieren und Kalbskutteln ein ähnlicher Höhenflug bevorsteht? Anders als in Frankreich und Österreich, wo Innereien eine lange Tradition haben, sind die Hemmschwellen hierzulande bei vielen Essern hoch. Aber ist es wirklich nur der Ekel, der uns die Lust auf Hirn, saures Lüngerl oder Kalbsbries mit Bratkartoffeln verdirbt? Müller sieht noch andere Gründe: Metzger und Köche würden das Handling der vermeintlich unedlen Teile nicht mehr lernen, ihnen fehle schlicht das Knowhow. Zudem seien gerade die Innereien eine leicht verderbliche Ware, die man auch schlecht in den Froster packen könne, für Gastronomen nicht ganz einfach. Und ihre Verfügbarkeit ist begrenzt. Dann machen sie auch noch richtig Arbeit, während das Schnitzelbraten kaum fünf Minuten dauert. Der Arbeitsaufwand wird zum Teil durch die extrem niedrigen Produktkosten ausgeglichen. So bilden etwa Kutteln in vielen schwäbischen Restaurants traditionell das preisliche Schlusslicht auf der Karte.

Doch inzwischen wächst die Spezialitätengemeinde, wie Müller und sein Kollege Christoph Hauser beobachten. Hauser hat im Mai in Kreuzberg das Restaurant „Herz & Niere“ eröffnet. Auf der Speisekarte stehen ganz normale Gerichte von der Wildschweinschulter bis zu vegetarischen Kompositionen. Wer die Bedienung allerdings nach Innereien und Spezialitäten fragt, bekommt eine zweite Speisekarte am Tisch vorgetragen. Reh- und Lammleber werden häufig angeboten, aber auch mal Hoden und Nieren, Hirn und Kutteln. Um die Gäste nicht zu erschrecken und weil Innereien häufig nur tagesaktuell verfügbar sind, stehen sie nicht auf der regulären Karte.

„Wir sind nachhaltige Typen“, sagt Hauser über sich und seinen Kompagnon Michael Köhle. Hauser ist Schwabe, kommt von der rauen Alb, wo Muttern so selbstverständlich Kutteln kochte wie sie Spätzle schabte. Für sein Restaurant kauft er „aus der Decke geschlagene“, also enthäutete ganze Tiere, mit dem Anspruch, sie auch komplett zu verwerten. Abfälle: null! Sehnen und parierte Abschnitte wandern mit den Gemüseresten in den großen Topf für Fonds und Saucen. Hauser hat viel ausprobiert und einiges dazugelernt. Wie bereitet man eigentlich Stierhoden zu? Was stellt man am besten mit einem Lammhirn an? Inzwischen hat er Routine. Die „ewige Filet- und Rückenesserei“ sei ihm schon lange auf die Nerven gegangen, sagt der Kreuzberger Koch. Und wer isst den Rest? Hauser gelingt es, die Innereien mit feiner Küche zu vermählen, sein Restaurant gehört zu den besten Adressen für nose to tail-Begeisterte. Eine andere, wenn auch nur papierne Fundgrube ist Wolfram Siebecks „Kochbuch der verpönten Küche“, in dem der Altmeister die schönsten „Igittereien“ ausbreitet: verfemte Küchenzutaten von Hirn, Herz und Nieren, von Schweinefüßen und Kutteln.

Die größte Fangemeinde für solche Genüsse befindet sich übrigens 7.000 Kilometer östlich. China ist der größte Abnehmer von Schwänzen, Schnauzen, Pfoten, Klauen und anderen Abfällen der europäischen Fleischindustrie. Chinesen lieben sehnige, knorpelige und fettreiche Fleischpartien und sie zahlen gutes Geld dafür. In den großen Schlachthöfen von Tönnies oder Westfleisch wird deshalb vieles, was früher im Abfalleimer landete oder als Hundefutter endete, nach China exportiert. Um die Nachfrage nach Schweinefüßen im eigenen Land zu bedienen, heißt es, müssten die chinesischen Schweine schon auf sechs bis acht Pfoten stehen. Also schließen die Europäer die Lücke und exportieren Schweinefüße in großem Stil. Auf dem deutschen Markt sind sie fast ganz verschwunden. Die normalen Innereien wie Herz, Nieren oder Kutteln bekommt man dagegen in der Regel beim Metzger des Vertrauens auf Vorbestellung.

Verschwunden von unserem Teller ist noch ein anderes Gericht: das traditionelle Berliner Schnitzel. Wolfgang Müller kennt es noch: Es ist ein gekochtes, anschließend paniertes und ausgebackenes Stück Kuheuter. „Das kriegen Sie heute nirgends mehr!“

Text: Manfred Kriener

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Bild oben: Nierenzapfen vom Albbüffel 63° SLOWcooked mit Sauce Hollandaise, 3-mal Steckrübe cremig - knackig – rauchig und Thymianstreusel dazu Bamberger Hörnla. Nierenzapfen sind der Lendenteil des Zwerchfells beim Rind und Kalb. Gekocht wurde das Gericht in der "Kochwerkstatt" im Rahmenprogramm des Markts des guten Geschmacks - die Slow Food Messe 2014 in Stuttgart, unter der Leitung von Spitzenkoch Michael Oettinger. | © Markus Wagner

Bild links: Michael Oettinger mit rohem Nierenzapfen. Der Spitzenkoch ist Küchenchef in Oettinger’s Restaurant im Hotel Hirsch in Fellbach-Schmiden (www.Hirsch-Fellbach.de) und Mitglied bei den Jeunes Restaurateurs d'Europe. | © Markus Wagner

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