Systemwandel unabdingbar: Die Corona-Krise hebt die Probleme des Ernährungssystems hervor

28.04.2020 - Während die ganze Welt nach dem wirksamsten Weg zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie sucht, hat die Ausbreitung des Virus bereits tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Ernährungssysteme. Das Virus verschärft auch die wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeiten, die bereits vorher bestanden.

Von Anfang an stand die Pandemie im Zusammenhang mit dem Verzehr von Wildtieren und den Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Ökosysteme. Seit dem Ausbruch hat Slow Food die vermutliche Rolle der industriellen Landwirtschaft und die Zerstörung von Ökosystemen bei der Entstehung von Coronaviren thematisiert. In der Zwischenzeit hat sich das Slow-Food-Netzwerk zusammengeschlossen, um auf die Krise zu reagieren und den betroffenen Unternehmen und Gemeinschaften auf der ganzen Welt zu helfen.

Die Auswirkungen von COVID-19

Die derzeitigen Kontakt- und Sperrmaßnahmen, die ergriffen wurden, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, haben sowohl kurzfristig als auch langfristig negative Auswirkungen auf die globalen Nahrungsmittelketten, wie im Bericht von IPES-Food dargelegt wird. Reisebeschränkungen hindern Saisonarbeiter*innen daran, die Felder zu erreichen, wodurch ganze Ernten gefährdet werden. Exportbeschränkungen, die in einigen wenigen Ländern eingeführt wurden, stoppen wichtige Ströme von Grundnahrungsmitteln: Da beispielsweise Vietnam seine Reisexporte gestoppt hat, verfügt Malaysia nur noch über Reisvorräte für zweieinhalb Monate.

Erntehelfer (c) pexels.jpgZu den ohnehin schon instabilen Lebensgrundlagen von Bäuer*innen und Landarbeiter*innen kommen weitere Unsicherheiten hinzu. Die Internationale Arbeitsorganisation der UN schätzt, dass über 50% der Landarbeiter*innen im globalen Süden unterhalb der Armutsgrenze leben. Migrant*innen und Landarbeiter*innen ohne Aufenthaltserlaubnis sind einem hohen Risiko ausgesetzt, da sie oft unter unhygienischen Bedingungen leben und arbeiten, in überfüllten Bussen zu den Feldern transportiert werden, sich nur schwer - wenn überhaupt - krankschreiben lassen können und eingeschränkten Zugang zu Informationen haben.

Die Schließung und Beschränkungen von Märkten schneiden wichtige Versorgungswege für die Gemeinden und Absatzmöglichkeiten für Bäuer*innen ab. Besonders besorgniserregend ist die Situation in den Ländern des globalen Südens, wo gefährdete Bevölkerungsgruppen für den Verkauf und Kauf von Nahrungsmitteln auf den informellen Sektor und Straßenmärkte angewiesen sind.

Verschärfung sozialer und ökonomischer Ungleichheiten

Die COVID-19-Pandemie verstärkt die bereits bestehenden Ungleichheiten drastisch. Bevor die Pandemie ausbrach, waren weltweit 820 Millionen Menschen unterernährt und 2 Milliarden Menschen waren von Ernährungsunsicherheit betroffen. Der in der vergangenen Woche veröffentlichte Globale Bericht über Lebensmittelkrisen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), des Welternährungsprogramms (WFP) und 14 anderer Organisationen warnt davor, dass die Corona-Krise dramatische Auswirkungen auf den Zugang zu Nahrungsmittel sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen sowie abgelegener Gemeinschaften, auf die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und auf das Einkommen der Haushalte haben wird, was wahrscheinlich dazu beitragen wird, mehr als eine Viertel Milliarde Menschen an den Rand des Hungers zu treiben, wenn nicht rasch Maßnahmen ergriffen werden, um den am stärksten gefährdeten Regionen Nahrungsmittel und humanitäre Hilfe zukommen zu lassen.

Mangelernährung in Form von Übergewicht, Fettleibigkeit und Unterernährung hat sich als wichtiger Risikofaktor für das Bekämpfen des Virus erwiesen. Benachteiligt im Überwinden der Krankheit sind dadurch Menschen, die aufgrund sozialer und kultureller Zugehörigkeit sowie dem Geschlecht eher zu den schwächeren Bevölkerungsgruppen gehören. In Zukunft wird die globale Wirtschaftsrezession die Zahl der Unterernährten wahrscheinlich noch weiter ansteigen lassen, da niedrigere Einkommen den Zugang zu gesunder Nahrung für viele noch schwieriger machen werden.

kokusnuss (c) pexels.jpgKinder gehören zu den Verlierern der Pandemie

Überall auf der Welt hat die Schließung von Schulen dazu geführt, dass Millionen von Kindern der Zugang zu einer garantierten, täglichen kostenlosen Schulmahlzeit verwehrt bleibt, was für Familien mit niedrigem Einkommen von entscheidender Bedeutung ist. Allein in Lateinamerika wird die Zahl der Kinder, die dringend auf diese kostenlosen Mahlzeiten angewiesen sind, auf über 10 Millionen geschätzt. 

Widerstandsfähige Gemeinschaften

Die COVID-19-Krise deckt nicht nur die Problemstellen des globalen Ernährungssystem auf sondern verdeutlicht gleichzeitig die starke Widerstandsfähigkeit lokal-basierter Lebensmittelsysteme und Kreislaufwirtschaften, die Anpassungsfähigkeit der Kleinproduzent*innen, Lebensmittelhandwerker*innen und Köch*innen und die unglaubliche Macht der Gemeinschaften. Solidarische Landwirtschaftsmodelle sind nach wie vor erfolgreich und verzeichnen in vielen Ländern eine steigende Nachfrage, wie z.B. in China, wo die Nachfrage nach SoLaWi-Ernteanteilen im Januar um 300% gestiegen ist. Die bargeldlosen Zahlungen im Voraus, fix zusammengestellte Körbe und die schnelle Lieferung oder Abholung spielen sicherlich eine Rolle bei der Gewinnung neuer Mitglieder.

slowfoodsolidarity (c) Slow Food Mexico.jpgAls Reaktion auf die COVID-19-Krise startete Slow Food International seine Kampagne #SlowFoodSolidarity, um die Aktionen der Slow Food Communities weltweit vorzustellen. In ganz Europa, Afrika, Asien, Lateinamerika, Australien und den USA haben Slow-Food-Gruppen Online-Einkaufs-Karten entwickelt, auf denen Kleinproduzent*innen und Hofläden, sowie Restaurants aufgelistet sind und die Menschen ermutigt werden, Unterstützung zu leisten. Gruppen in Mexiko, Spanien, Belgien, Südafrika und der Türkei haben mit Hauslieferungen begonnen, wobei sie sich vor allem auf die schwächsten Bevölkerungsgruppen konzentrieren. Slow Food nahe Köch*innen und Restaurants in Belgien, Italien, Großbritannien und anderen Ländern liefern auch Lebensmittel an Krankenhäuser, Kantinen und Obdachlose.

Über die Krise hinaus

Slow Food drängt die Entscheidungsträger*innen, jetzt das Fundament für ein zukunftsfähiges Ernährungssystem zu legen und nach der Covid-19-Krise nicht wieder auf den vorherigen Status quo zurück zu fallen. 

Es ist unsere Kernüberzeugung, dass Entscheidungsträger*innen auf allen Ebenen eine Ernährungspolitik entwickeln sollten, die lokale agrarökologische Ernährungssysteme unterstützt - bei denen der Respekt für diejenigen, die Lebensmittel für die Gemeinschaft in Einklang mit den lokalen Ökosystemen produzieren, im Vordergrund stehen. Auch kurze Lieferketten und Agrarökologie gehören zur Basis zukunftssicherer und krisenfester Ernährungssysteme, da sich diese Modelle als widerstandsfähiger gegen die aktuellen wirtschaftlichen Schocks und die Erschütterungen der Lieferketten erweisen. 

Angesichts der Krise setzt sich Slow Food für faire und nachhaltige Lebensmittelsysteme auf der ganzen Welt ein und fördert sie. Kurzfristig ruft Slow Food zu sofortigem Handeln auf, um sicherzustellen, dass alle Beschäftigten in der lokalen Lebensmittelwertschöpfungskette weiterhin die lokale Wirtschaft aufrechterhalten, frische und nahrhafte Lebensmittel liefern und widerstandsfähige Volkswirtschaften und Gemeinschaften für die Zukunft aufbauen können.

markt (c) unsplash.jpgSlow Food USA setzt sich für ein Handeln auf föderaler Ebene ein und drängt den US-Kongress, kleine und mittlere Familienfarmen und Viehzüchter*innen, Fischer*innen, Landarbeiter*innen und Beschäftigte in der Lebensmittelproduktion sowie Millionen von Familien, die aufgrund der Pandemie zum ersten Mal mit Ernährungsunsicherheit konfrontiert sind, dringend zu unterstützen. Ebenso fordert Slow Food in Uganda die Entscheidungsträger auf, die Kleinbäuer*innen zu schützen und damit den Zugang zu Lebensmitteln für alle zu gewährleisten. Slow Food Europa drängt auf eine ehrgeizige "Farm to Fork"-Strategie und mahnt, ihre Einführung nicht weiter wegen des Coronavirus zu verschieben, wie es von agroindustriellen Lobbygruppen derzeit gefordert wird. Die Strategie, die Teil des Europäischen "Green Deals" ist, des Fahrplans, um die Wirtschaft der EU nachhaltig zu gestalten, ist die Gelegenheit, das Lebensmittelsystem der EU zu reformieren.

Die Ernährungssouveränität muss das treibende Prinzip in allen unmittelbaren und zukünftigen Strategien sein: Ein gerechteres und nachhaltigeres Ernährungssystem muss auf dem Recht der Menschen auf gesunde und kulturell angemessene Nahrung und auf ihrem Recht, ihr Ernährungs- und Landwirtschaftssystem selbst zu gestalten, basieren.

Die COVID-19-Krise hat die bestehenden Probleme innerhalb unseres Ernährungs- und Agrarsystems ins Rampenlicht gerückt. Die weltweite Slow-Food-Bewegung setzt sich mit allen Kräften dafür ein, dass wir eine solide Grundlage für nachhaltige Ernährungssysteme schaffen.

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