Lebensmittelsicherheit: Ursula Hudson weitet den Blickwinkel

10.02.2020 - Mein grundsätzlich und nahezu immer vorhandenes leises Unbehagen, wenn es um das Thema Lebensmittelsicherheit geht, ist spät im Jahr 2019 gleich durch zwei Fälle bestätigt worden: Es ging um den Fleischverarbeiter Wilke und die größte deutsche Molkerei, DMK. Zwei Fälle, die dazu beitrugen, dass die Zahl der Lebensmittelwarnungen und -rückrufe 2019 aufgrund von Verunreinigungen etwa durch Keime und Bakterien oder im Produkt vorhandene Fremdkörper wie Plastik- oder Metallteilchen insgesamt weiter zunahmen. Dabei wird den Verbrauchern doch gerne und häufig gesagt, dass Lebensmittel heute so sicher seien wie nie. Was aber ist es, dass diese Sicherheit in Fällen wie den oben genannten immer wieder ins Wanken bringt?

Dr. Ursula Hudson_(c) MISEREOR.JPGEs ist unser Lebensmittelsystem selber und die Tatsache, dass wenige und große Unternehmen mit immer längeren und unüberschaubareren Zulieferketten und Produktionsschritten dominieren; sie produzieren für immer größere Märkte – für den bundesweiten ebenso wie für den globalen Markt – und tun das oft in der Absicht, mit möglichst wenig Aufwand möglichst hohe Gewinne zu erzielen.

Das kann zur Falle werden. Denn jeder Fehler im Prozess der technisch-maschinellen Erzeugung und Weiterverarbeitung kann in Folge ein kaum mehr überschaubares Ausmaß annehmen und eine große Anzahl von Verbrauchern in allen Teilen Deutschlands oder auch Europas betreffen – wie bei dem »Pferdefleisch-Skandal«. Eine der sicherlich gewichtigsten Ursachen für diese »Skandale« ist der drastische Rückgang kleiner, regionaler Infrastrukturen für die Lebensmittelerzeugung und -versorgung, der einen quantitativen und auch flächenmäßigen Risikozuwachs in sich birgt. Denn kleine, überschaubare Strukturen sind entscheidende Voraussetzung für Transparenz, sinnige Lebensmittelkontrolle und -sicherheit.

Ebenso trägt dazu auch die Nähe zu Erzeugern bei, die handwerklich arbeiten, und das, was sie tun, mit gesundem Menschenverstand und Verantwortung kontrollieren. Diejenigen also, die ihren Blick bestenfalls noch auf ihre zumeist von Hand geleisteten Arbeitsschritte werfen statt nur auf Maschinendisplays und mögliche Verunreinigungen frühzeitig(er) erkennen. Das also ist eine Seite der Sicherheitsmedaille.

Noch komplexer und widersprüchlicher wird es, wenn wir uns ganz grundsätzlich fragen, was es mit der heutigen Lebensmittelsicherheit und der von vielen propagierten Aussage »Lebensmittel so sicher wie nie« auf sich hat. Ich meine, dass es eine solche Sicherheit im Bereich guter Lebensmittel – also solcher, die auch noch »lebendig« sind, wie guter Käse, luftgereifte Wurst- und Schinkenwaren, Fermentiertes u.v.a. – nicht geben kann, weil das Leben nicht sicher ist. Höchstens das »wie nie« in solchen Äußerungen mag richtig sein, wenn man an »vor-hygienebewusste« Zeiten, Wasserverunreinigung usw. denkt.

Aber Lebensmittel sicher? Die amerikanische Ernährungswissenschaftlerin Marion Nestlé ist eine der lautesten Kritikerinnen eines einseitigen Sicherheitsbegriffs. Sie stellt klar fest: Lebensmittelsicherheit ist höchst politisch, weil es dabei um die Interessen großer und höchst einflussreicher Industrien geht, deren Hauptanliegen es ist, Gewinne zu maximieren und Ausgaben zu reduzieren. Das wird ihr zufolge in nahezu allen Diskussionen außen vorgelassen. Im Vordergrund stehen die wissenschaftlichen Aspekte: Erkrankungsrisiken, die Anzahl der Erkrankten usw. Argumente also, die keinesfalls außer Acht gelassen werden dürfen, die aber um eine wertebasierte Wahrnehmung von Lebensmitteln ergänzt werden müssen.

Marion Nestlé schlägt vor, ein Lebensmittel dann als sicher zu definieren, wenn es ein bestimmtes und akzeptierbares Maß an Risiko nicht übersteigt. Und Entscheidungen über ein solches Maß dürften nicht ausschließlich auf wirtschaftlichen Motiven basierend getroffen werden, sondern müssten, so Nestlé, auf wissenschaftlichen Aspekten, Werten, Wahrnehmungen und Meinungen gleichermaßen beruhen.

Mir erscheint das als ein außerordentlich praktikabler Ansatz. Denn die wertebasierte Sicht vertritt auch Slow Food. Bestes Beispiel für den Konflikt zwischen wissenschafts- und wertebasierter Wahrnehmungsweise sowie industrieller Interessen sind Lebensmittel aus unbehandelter Milch wie Käse: Aus wissenschaftsbasierter Sicht ist das Risiko, das sie darstellen, nicht akzeptabel. Aus wertebasierter Sicht sehr wohl, denn sie gehören vielerorts zu unserer kulinarischen Tradition. Und es gibt Erzeuger, die wissen, was es braucht, um gute, bekömmliche Rohmilcherzeugnisse herzustellen. Sie hantieren gekonnt mit Wissen von Milchqualitäten, Klima und Erzeugung, das über lange Zeiträume erworben und weitergegeben wurde und oft für bestimmte Käse ganz lokalspezifisch ist.

Das gilt es aus meiner Sicht wertzuschätzen. Dass dies wiederum im Konflikt mit den Interessen der Industrie steht, mag nicht verwundern: Rohmilch passt nicht in Prozesse und Verarbeitungsstrukturen, die Millionen von Verbrauchern erreichen – und mittlerweile sind auch viele Verbraucher vom Umgang mit unbehandelter Milch überfordert. Führe ich mir all das vor Augen, so wird mein Unbehagen größer und fordert ein verantwortbares Verständnis von Sicherheit im Bereich der Lebensmittel. Wir brauchen faire und intelligente Bedingungen – fair für Verbraucher sowie Erzeuger verschiedener Betriebsgrößen.

Text: Ursula Hudson, Vorsitzende Slow Food Deutschland

Erschienen im Slow Food Magazin 1/2020

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