„Nicht alles dem Individuum aufhalsen“ - Interview mit Prof. Achim Spiller

Ernährung ist ein gesellschaftliches und politisches Thema. Professor Achim Spiller spricht im Slow-Food-Interview über das von ihm mitverfasste Gutachten zur nachhaltigen Ernährung, über Nutri-Score, Schulverpflegung und über mögliche Steuern auf zuckerhaltige Getränke und Fleisch. Die Fragen stellte Manfred Kriener.

Herr Prof. Spiller, der wissenschaftliche Beirat hat ein fulminantes Gutachten vorgelegt. Er verlangt eine neue, andere, nachhaltigere Ernährungspolitik, im Grunde eine echte Ernährungswende. Welche Reaktionen gab es?

Foto Prof Achim Spiller, privat.pngProf. Achim Spiller: Von den Kollegen aus der Wissenschaft kam viel Zustimmung, das Interesse ist groß. Bei der Politik muss man auf langfristige Wirkung setzen. Nach der nächsten Bundestagswahl, so hoffen wir, wird unser Gutachten im neuen Koalitionsvertrag hoffentlich seine Spuren hinterlassen. Man sollte realistischer Weise nicht erwarten, dass in dieser Legislaturperiode noch viel passiert.

Die Steuerung von Ernährungsverhalten ist bei den politischen Parteien ohnehin unbeliebt. Die Bauchlandung der Grünen mit dem harmlosen Veggieday haben alle noch im Hinterkopf.

Das stimmt und das haben wir in unserem Gutachten auch herausgearbeitet. Deutschland steht ernährungspolitischen Maßnahmen eher skeptisch gegenüber. In unserer kulturellen Tradition wird die Verantwortung für Ernährung an Familie und Individuum delegiert. Auch um das wichtige Thema Schulverpflegung kümmert man sich nicht sehr intensiv. Staatliche Einmischung ist also schwierig, der Veggieday hat auch bei den Grünen Blessuren hinterlassen. Immerhin scheint die Angst vor politischem Schiffbruch langsam zu schwinden, zumal die Bevölkerung ein riesiges Interesse am Thema Ernährung hat und die Herausforderungen groß und unübersehbar sind.

Wie soll nun aktive staatliche Ernährungspolitik konkret aussehen? Was hat erste Priorität?

Wir müssen das stark von Werbung und Marketing beeinflusste Ernährungsumfeld neu gestalten und wir müssen zweitens Ernährungspolitik als eigenständiges Politikfeld besser verankern. Das sind die wichtigsten Punkte. Das komplexe Thema einer wirklich nachhaltigen Ernährung beruht auf den „Big Four“: Umwelt, Tierwohl, Gesundheit, Soziales. Das sind die zentralen Ziele, die wir angehen müssen. Wie wichtig dabei das Soziale ist, haben wir diesen Sommer bei Tönnies gesehen. Um die vier Ziele anzugehen, müssen die Ministerien zusammenarbeiten: das Landwirtschafts-, aber auch das Umwelt-, das Gesundheits- und das Wirtschaftsministerium. Beim Thema Schulverpflegung gehören auch die Kultusministerien dazu.

Ist die Ernährung bei der Landwirtschaft überhaupt richtig aufgehoben? Oder sollte sie zur Gesundheit übersiedeln? Gerade baut auch das Umweltministerium eine eigene Abteilung Ernährung auf.

Das haben wir intensiv diskutiert. Klar ist, dass die Ernährung innerhalb des Ernährungs- und Landwirtschaftsministeriums eine größere Bedeutung bekommen muss. Wenn man sich die Mitarbeiterzahlen ansieht und das Budget, dann ist klar, dass dieses Haus viel stärker von der Landwirtschaft geprägt ist. Leider hat auch das Gesundheitsministerium das Thema Ernährung in den letzten Jahren eher vernachlässigt. Und die Zusammenarbeit von Frau Klöckners Haus mit dem Umweltministerium ist bekanntermaßen schlecht. Ernährungspolitik ist eine große Aufgabe, die Bundesregierung muss sie ressortübergreifend anpacken.

Sie haben im Gutachten viele konkrete Forderungen gestellt: ein Neuanfang bei der Kita- und Schulverpflegung, Werbeeinschränkungen und -verbote, den Fleischkonsum reduzieren und vieles mehr. Als Instrument wollen Sie unter anderem Steuern für Gemüse und Obst senken und für tierische Produkte erhöhen.

Wenn man das vernünftig begründet und wenn die Steuereinnahmen gezielt eingesetzt werden für mehr Tierwohl und Klimaschutz, dann steigt auch die Akzeptanz und dann gibt es wohl politische Mehrheiten dafür. Wichtig ist, dass wir die Ernährungsarmut im Blick behalten, die wir in Deutschland haben. Wir leben in einer gespaltenen Gesellschaft mit massiver Ernährungsarmut, gegen die wir etwas tun müssen. Wenn wir mit den Steuern die sozial Schwachen treffen, wäre das fatal. Diesen Menschen müssen wir helfen, weil sich in unteren Einkommensgruppen gesundheitliche Ernährungsprobleme ballen.

Sie verlangen ein Hilfsbudget, um den Betroffenen unter die Arme zu greifen?

Die Einnahmen aus den Steuererhöhungen für tierische Produkte und zuckerhaltige Getränke sollten zum Teil dafür verwendet werden, sozial schwache Haushalte zu unterstützen, das heißt, Preiserhöhungen durch eine jährliche Rückerstattung auszugleichen. Die Regierung sollte auch über eine Erhöhung der Hartz IV-Sätze für Ernährung nachdenken, die nicht ausreichend sind.

Ihr Gutachten moniert, dass die Verantwortung für gute Ernährung auf die Verbraucher*innen abgeschoben wird. Warum sind die damit überfordert?

Weil sie keine faire Ernährungsumgebung haben, wie wir sie fordern. Mit welchen Werbebotschaften werden sie konfrontiert? Wie unübersichtlich sind die mehr als 200 Nachhaltigkeitslabel? Das wirkt sich stark auf eine ungesunde Ernährung und Lebensweise aus. Auch Kinder sind dem ausgesetzt. Beworben werden nämlich viel stärker problematische Lebensmittel.

Die Verbraucher*innen als Opfer des Marketings?

Es werden Milliarden für die Bewerbung ungesunder Lebensmittel ausgegeben, zum Beispiel von der Süßwarenindustrie, weil dort die Margen am höchsten sind. Mit Obst und Gemüse verdient die Lebensmittelindustrie sehr viel weniger Geld. Zur schlechten Ernährung gehört aber auch das Angebot. Schauen Sie doch mal, was Sie auf einer Autobahnraststätte essen können. Überall werden Snacks angeboten, meistens »Snacks to go«, damit werden wir überhäuft. Und: Wie werden welche Lebensmittel wo platziert? Wie sind sie gekennzeichnet?

Sie wollen den Kompass der Verbraucher*innen neu eichen, damit sie Snacks und Co. und den vielen falschen Werbebotschaften widerstehen?

Das fängt bei Kindern und Jugendlichen an. Für uns ist eine hochwertige und beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung ein zentraler Punkt. Wenn die Kinder mit einer qualitativ guten Ernährung aufwachsen, mit kleinerem Fleischanteil, mit gesunden Lebensmitteln, dann sind sie daran gewöhnt, das prägt das spätere Ernährungsverhalten. An vielen Schulen wird überhaupt keine oder keine vernünftige Schulverpflegung angeboten, es gibt große Qualitätsprobleme. Häufig wird das Essen stundenlang warmgehalten, furchtbar! Schulverpflegung darf auch nicht sozial diskriminierend wirken, wenn sie nur den ärmeren Kindern angeboten wird. Wir brauchen sie für alle und für alle beitragsfrei nach skandinavischem Vorbild in einem schönen Ambiente, damit das Essen auch wertgeschätzt wird. Das müssen uns unsere Kinder wert sein. Also raus aus dunklen stickigen Kellerräumen.

Kinder und Jugendliche trinken besonders viel Limo, Cola, Fruchtsäfte und andere Zuckerdrinks. Das sind Treiber für Fettleibigkeit und Diabetes.

Wir empfehlen eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke. Gerade Jugendliche sind sehr preissensitiv, da kann man viel bewegen. Wir brauchen außerdem eine klare Kennzeichnung durch den Nutri-Score. Und wir brauchen im öffentlichen Raum den Aufbau einer Trinkwasserversorgung mit Leitungswasser, dem nachhaltigsten und gesündesten Getränk.

Sie fordern einen verbindlichen Nutri-Score, der nach Plänen von Ministerin Klöckner nur auf freiwilliger Basis kommt. Sie wollen aber auch ein Klimalabel und ein Tierwohllabel einführen. Sind die vielen Label nicht eine erneute Überforderung der Verbraucher*innen?

Wir haben schon jetzt mehr als 200 Label in Deutschland, die das Thema Nachhaltigkeit adressieren. Wir wollen keine komplizierte Labelflut. Wir brauchen für die Ernährung vier Label: Nutri Score, ein staatliches Tierwohllabel, ein neues Klimalabel zusammen mit Bio und das Label für Fair Trade.

Wer baut für all Ihre Vorhaben den politischen Druck auf und welche Rolle spielt dabei die Zivilgesellschaft?

Die Zivilgesellschaft ist ein wichtiger Player. Freiwillige Selbstbeschränkungen der Wirtschaft, das zeigen viele Studien, bringen uns nicht entscheidend voran. Es bedarf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion und des politischen Drucks, um zu erreichen, dass die Verantwortung für Ernährung nicht allein den Individuen aufgehalst wird. Was zum Beispiel dazu führt, dass die stark Übergewichtigen stigmatisiert werden. Ernährung ist eine gesellschaftliche und politische Herausforderung, das müssen wir begreifen. Und wir müssen anfangen, neue politische Instrumente einfach mal auszuprobieren. Eine Steuer kann man, wenn man sie einführt, auch nachjustieren, das ist lernende Politik.

Die Zeit drängt, Klimaveränderung und Biodiversitätsverluste erfordern Tempo auch in der Ernährungspolitik. Haben Sie keine Angst, dass wir zu langsam sind oder, dass Ihr Gutachten in den Schubladen verschwindet und wieder nichts passiert?

Wir wissen von früheren Gutachten, dass sie keine unmittelbare Wirkung auf die Tagespolitik haben. Unser Gutachten von 2015 zum Tierwohl hat dennoch viel bewegt. Wir brauchen einen langen Atem, aber wir haben gute Hoffnung. In der Bevölkerung hat sich viel getan. Das Thema Ernährung, Fleischkonsum, Nachhaltigkeit interessiert Millionen, es gibt kaum ein anderes Thema, das die Menschen so stark beschäftigt.

Das Gutachten:

Mit seinem im Sommer 2020 vorgelegten Gutachten* hat der wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und Verbraucherschutz deutliche Kritik an der gegenwärtigen Ernährungspolitik formuliert. Er verlangt eine komplette Neuausrichtung und Stärkung des vernachlässigten Politikfelds Ernährung. Um unsere Gesundheit, Umwelt und Klima zu schützen, Ernährungsarmut zurückzudrängen, Sozialstandards einzuhalten und das Tierwohl zu erhöhen, müsste ein ambitionierter Neustart hingelegt werden. Kernsatz des Gutachtens: »Eine umfassende Transformation des Ernährungssystems ist sinnvoll, sie ist möglich und sie sollte umgehend begonnen werden.«

*Das Gutachten »Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten« ist als Kurzfassung oder in voller Länge per Download >> hier abrufbar.

Prof. Achim Spiller ist Ökonom an der Universität Göttingen, spezialisiert auf Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte, Verbraucherverhalten und die Ernährungsindustrie. Er ist zudem Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE), von dem das Gutachten »Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten« erarbeitet und im August 2020 an Ministerin Klöckner übergeben wurde.

Erschienen im Slow Food Magazin Ausgabe 6, 2020

Inhaltspezifische Aktionen