Tag der indigenen Völker - ein Interview mit Dali Nolasco Cruz

Dali Nolasco Cruz ist Mitglied des internationalen Vorstands von Slow Food und indigene Aktivistin. Sie ist eine Nahua und stammt aus Tlaola Puebla in Mexico. Mit ihr hat Slow Food Deutschland über die Sitaution indigener Völker und ihre wichtige Rolle im Kampf für faire Ernährungssysteme und die Bewahrung der Biodiversität gesprochen.

Dali_Nolasco_Cruz_(c)_Slow_Food.jpgSlow Food Deutschland: Wofür steht ITM und was ist die Aufgabe dieses Netzwerks?

Dali Nolasco Cruz: Das Akronym ITM steht für Indigenous Terra Madre Network (ITM), das sich aus Gemeinschaften zusammensetzt, die zu einem indigenen, afro-deszendenten oder Stammesvolk gehören und Teil unserer großen Slow-Food-Bewegung sind. Dieses thematische Netzwerk wurde ins Leben gerufen, um die Stimmen der indigenen Völker in den Vordergrund der Debatte um Nahrungsmittel und Kultur sowie traditionelles Wissen zu rücken und um die Beteiligung der indigenen Völker innerhalb der Slow-Food-Bewegung als grundlegenden Bestandteil ihrer Arbeit zu institutionalisieren.

Warum beschäftigt sich Slow Food mit diesem Thema? Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach indigene Völker beim Schutz der Nahrungsmittelvielfalt und damit der Ernährungssicherheit im Allgemeinen?

Für Slow Food ist klar, dass die Bewahrung indigener Gemeinschaften und ihrer traditionellen Lebensmittelsysteme gleichbedeutend ist mit dem Erhalt der biologischen Vielfalt in der Welt. Es ist kein Zufall, dass 80 % der biologischen Vielfalt der Erde von indigenen Völkern bewahrt wird. Daher bedeutet der Schutz der biologischen Vielfalt auch die Verteidigung der kulturellen Vielfalt der indigenen Völker, die Verteidigung ihres Rechts auf Landbesitz, die Pflege ihres Landes, den Anbau von Nahrungsmitteln, die Viehzucht, das Jagen, Fischen und Sammeln gemäß ihren eigenen Bedürfnissen und Entscheidungen. Der Schutz der Lebensweisen indigener Völker ist fundamental für die Bewahrung autochthoner Pflanzen- und Tierarten und den Erhalt der biologischen Vielfalt.

Indigene Völker gibt es in vielen verschiedenen Teilen der Welt. Können Sie trotz ihrer Vielfalt die wichtigsten Herausforderungen und Bedrohungen nennen, mit denen sie konfrontiert sind und auf die wir Antworten finden müssen?

In unserer Geschichte haben indigene Völker immer wieder unter Gewalt, Diskriminierung und Vertreibung gelitten, und die Bedrohung ist immer dieselbe gewesen: hegemoniale wirtschaftliche und politische Modelle, die unsere Existenz bedrohen, weil sie ein Interesse an den natürlichen Ressourcen haben, die wir seit Tausenden von Jahren bewahren, pflegen und lieben.
Diese Interessen sind die größte Bedrohung, der wir als indigene Völker ausgesetzt sind. Sie verurteilen uns seit Jahren zu Armut und Ausgrenzung, zur Verletzung unserer individuellen und kollektiven Rechte und zur Nichtanerkennung unseres angestammten Wissens. Und das sind nur einige der Klagen, die indigene Völker an die Welt richten, denn die Gewalt und die Bedrohungen, denen wir ausgesetzt sind, sind unendlich. Und ich glaube nicht, dass wir eine Zauberformel finden müssen, um all diese Herausforderungen zu lösen. Wir indigenen Völker wollen nur in Frieden, in Respekt und Harmonie mit Mutter Erde und mit allen Menschen auf ihr leben, wir bitten die Regierungen und die großen Wirtschaftsakteure, unsere individuellen und kollektiven Rechte zu respektieren, wir fordern die Anerkennung unseres indigenen Wissens, die Achtung unseres Rechts auf Land, die gegenseitige Verantwortung für die Pflege unserer Mutter Erde, die Pflege und Erhaltung des einheimischen Saatguts, den gerechten Zugang zu den natürlichen Ressourcen. Ich denke, dass die indigenen Völker die Welt nicht um eine Sonderbehandlung bitten, sondern um eine andere Behandlung, denn unsere ganzheitliche Sicht des Kosmos ist einzigartig, unsere Liebe zur Erde und zur Natur ist einzigartig, unsere Liebe zum Leben ist stark, unser Überleben wird unser Kampf sein.

Sie sind seit Juli Mitglied des Internationalen Slow Food Vorstands. Welche Ziele haben Sie sich gesetzt, um den Schutz der indigenen Völker voranzutreiben?

Die erste indigene Frau im internationalen Slow Food Vorstand zu sein, war einer meiner größten Träume und eine Herausforderung, denn in einem politischen Raum dieses Niveaus zu sein, hat viel persönliche und kollektive Arbeit erfordert. Es ist eine große Verantwortung, für mich und meine indigenen Schwestern und Brüder auf der ganzen Welt, denn für uns als indigene Völker war es nicht einfach, auf diesen Entscheidungsebenen mitzuwirken und Einfluss zu nehmen. Wir haben viel Lobbyarbeit geleistet, damit wir überhaupt gehört werden. Mein Hauptziel ist es daher, die Beteiligung indigener Völker, insbesondere von Frauen und Jugendlichen, innerhalb unserer großen Bewegung und in anderen Entscheidungsgremien und Dialogen mit Regierungen und Entscheidungsträgern weiter zu fördern. Ich möchte auch Räume für den Austausch von Wissen und die Ausbildung von Indigenen durch Indigene zu schaffen, die es uns ermöglichen, die Führungsrolle zu stärken, indigene Frauen und junge Menschen zu ermächtigen, damit sie selbst in ihren Umgebungen einen politischen Einfluss ausüben können, der es ihnen ermöglicht, ihre individuellen und kollektiven Rechte sowie das "buen vivir", das gute Leben, der indigenen Völker der Welt zu achten.

Welchen Einfluss haben die Menschen in den westlichen Industrienationen, insbesondere in einem Land wie Deutschland, auf die Lebensbedingungen der indigenen Völker? Wie können wir sie unterstützen, sowohl individuell als auch kollektiv?

Ich möchte diese Frage mit einer Aufforderung an die Gesellschaften der Industrieländer, die sich selbst als Erste Welt bezeichnen, beantworten. Ich lade Sie ein, sich zu fragen, auf wessen Kosten und zu wessen Lasten sie einen so hohen Lebensstandard im Vergleich zu den armen Ländern haben? Ich lade Sie ein, zu lesen, zu recherchieren, tief und mit dem Herzen über die Kosten Ihres Lebensstandards nachzudenken. Meiner Meinung nach ist das der einzige Weg, um eine Antwort auf die Frage nach dem Einfluss und nach der Verantwortung zu finden, die sie auf und für die Lebensbedingungen der indigenen Völker haben.... Wenn sie diese Antworten finden, bin ich mir sicher, dass sich ihre Sichtweise auf das Leben und die indigenen Völker ändern wird. Sie werden dadurch die wirtschaftlichen und politischen Ansätze in Frage stellen, die die natürlichen Ressourcen, die uns unsere Mutter Erde schenkt, verletzen, zerstören, verschwinden lassen und ausbeuten. Sie werden in der Lage sein, die Bedeutung der Ressourcen, Landschaften, des Wissens und der biologischen Vielfalt, die wir indigenen Völker pflegen und sogar mit unserem Leben schützen, zu erkennen. Sie werden erkennen, dass sie Weltbürger*innen sind. Ich glaube, wenn es ihnen gelingt, diese Idee zu entwickeln, werden ihre politische Rolle und ihr Ruf nach Veränderung, die gleichen sein wie unsere, unser Kampf wird ihr Kampf sein, denn sie werden verstanden haben, dass indigene Völker immer, wirklich immer das Leben, die Liebe zur Mutter Erde und das Teilen mit den anderen verteidigen. Ich glaube, der beste Weg die indigenen Völker bei der Verteidigung der Erde und des Lebens auf ihr zu unterstützen, ist es, sich dem kollektiven Kampf anzuschließen und nicht nur Beobachter, sondern Protagonist bei der Verteidigung des Lebens auf dem gesamten Planeten zu sein, bis wir ein gutes, sauberes und gerechtes Leben für alle erreichen.

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Über Dali Nolasco Cruz: Dali ist eine indigene Nahua-Frau aus Tlaola Puebla, Partnerin und Gründerin des Netzwerks indigener Frauenorganisationen von Tlaola, Mopampa, Timo'Patla und Yoltika. Sie engagiert sich seit ihrer Jugend in der Gemeindearbeit, insbesondere in Gruppen indigener Frauen. Sie ist Absolventin der Fakultät für Psychologie der Autonomen Universität Puebla und hat außerdem einen Abschluss in indigenen Völkern, Menschenrechten und internationaler Zusammenarbeit der Universität Carlos III in Madrid erworben. Seit 2008 ist Dali ein aktives Mitglied von Slow Food International. Im Jahr 2016 wurde sie Mitglied des Beirats des Indigenen Netzwerks Terra Madre, um die internationale Bewegung zu indigenen Themen zu begleiten. Im Jahr 2017 wurde sie zur Koordinatorin des Terra Madre Indigenous Network für Lateinamerika und die Karibik ernannt. Dali hat eine umfassende Ausbildung in den Bereichen Menschenrechte, Frauenrechte, Gender, Interkulturalität, Sozialwirtschaft und Ernährung. Sie hat dieses Wissen durch Schulungsprozesse in verschiedenen indigenen Frauenorganisationen weitergegeben.

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