Geschichte des Huhns

3.4.2014 - Vom braven Haustier zur gequälten Kreatur: Die Geschichte der Geflügelzucht ist ein besonders finsteres Kapitel in der Chronik der Massentierhaltung. Ein Blick in den historischen Hühnerstall – von den ersten Dschungelhühnern bis zur geschundenen Turbohenne in der Legebatterie – von Manfred Kriener.

Hühner, wollt ihr ewig legen?

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Der Urahn, das wilde Bankivahuhn Südostasiens (Gallus gallus), ist von schlanker Schönheit und trägt die Farben des Rebhuhns. Das Federkleid wechselt von Kupferbraun bis Zimt, dazu gelb-orange Einsprengsel. Aus diesen Dschungelhühnern, die Samen, Beeren und Kleingetier fressen, entstand unser Haushuhn. Der Bankivahahn ist größer und schöner als die Henne, hat einen roten Kamm und zwei ebenso rote Glöckchen unterhalb des Schnabels; er misst von der Schnabelspitze bis zum hinteren Schweifwirbel exakt 31 Pariser Zoll (64 Zentimeter), wie Wilhelm Wegener, vortragendes Mitglied der wissenschaftlichen Gesellschaft Dresden 1861 berichtet. Bakivahühner sind kleiner als Haushühner, die Hähne scharen einen Harem von vier, fünf Hühnerdamen um sich, die jeweils zwei bis drei Gelege mit maximal zehn Eiern ausbrüten. Das entspricht genau der Menge, die sie als Glucke unter ihrem Gefieder warmhalten können. Im ganzen Jahr legt das Bakivahuhn etwa 20 Eier. Nach fünf Jahrtausenden Domestikation und Züchtung sind daraus verhaltensgestörte Turbohennen geworden, die heute 300 Eier im Jahr legen – eine formidable Performance.

Bild oben: Ein Bankivahuhn (Gallus gallus) in Kaziranga/Assam/Indien.  | ©  Lip Kee, Singnapur, Wikimedia Commons (Lizenzbestimmungen)

Der Hahn als historische Lichtgestalt

Hühner gehören zu den ältesten Haustieren überhaupt. Gesichert sind ihre Spuren als Begleiter des Menschen in der bronzezeitlichen Indus-Kultur im dritten Jahrtausend vor Christus. Auch bei den Phöniziern, Chaldäern und Persern haben sie sich ihre Nester gebaut. Persische Gebete rühmen den „siegreichen Vogel“, der nachts die Schlafenden behütet und den Satan bekämpft. „Wer von diesen Vögeln ein Paar in Reinheit und Güte einem Manne gibt, der gibt ebenso viel, als ob er einen Palast schenkte.“ Hühner liefern Fleisch, Eier, Federn – und göttliches Licht. Der Hahn ist der Bote des Lichts, sein morgendlicher Schrei kündet den Sonnenaufgang und ruft die Menschen zu Arbeit und Gebet. So wird der Kräher zur verehrten Lichtgestalt, zum Symbol von Licht und Feuer, im Sonnenkult verehrt. Viele Perser sind verpflichtet, einen Hahn im Haus zu halten.

Die Griechen hingegen schätzen die Vögel als Kampfmaschinen. Hahnenkämpfe, bei denen die Kontrahenten messerscharfe Sporen tragen, sind so beliebt, dass sie von der Stadtverwaltung Athens organisiert werden. Auch in den asiatischen Kulturen ließ man die Tiere aufeinander los. Waren die Hahnenkämpfe, so fragte 1958 das Wissenschaftsmagazin Scienc, für die Verbreitung des Huhns am Ende wichtiger als Eier und Fleisch?

Von der Kampfmaschine zum Kastraten

Doch schon bei den Römern wird im Hühnerstall abgerüstet. Statt Hahnenkampf interessieren Zucht, Haltung, Fütterung. Die besten Hühner legen 60 Eier, bevor sie brüten, Hähne werden kastriert, um sie zu fetten Kapaunen zu mästen. Unterschiedliche Rassen tauchen auf, werden gekreuzt oder in Linie gezüchtet, und erstmals erwähnt der römische Chronist und Landwirtschaftsexperte Columella die Wirtschaftlichkeit der Hühnerhaltung – 2.000 Jahre bevor der Effizienzterror in die industrielle Massenhaltung mündet.

Nach der römischen Blüte jedoch verfällt die Kunst der Hühnerhaltung. Immerhin verfügt Karl der Große 800 Jahre später, dass auf seinen Landgütern mindestens 100 Hühner zu halten seien. Und das Ei bleibt als religiöses Symbol der Wiedergeburt und Auferstehung eine nicht nur zur Osterzeit geschätzte Gabe Gottes, wie Hühnerfleisch eine beliebte Speise. Unvergessen das Wohlstandsversprechen des guten Königs Henri Quatre zu Beginn des 17. Jahrhunderts, jeder Bauer solle am Sonntag sein Huhn im Topf haben.

Frauen sind in Geflügelzuchtvereinen nicht zugelassen

Mit dem Beginn der Reformen in der Landwirtschaft – gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein Lieblingsprojekt der Aufklärung – steht die Optimierung der Tierhaltung auf der Tagesordnung. Hühner spielen dabei keine tragende Rolle. Die Landwirtschaftsvereine des 19. Jahrhunderts lassen das Federvieh links liegen. Das Huhn wird zum missachteten Straßenkehrer der Bauernhöfe, mit ihm ist kein Geld zu verdienen. Oder doch? Im Goldenen Buch des Landwirts wettert Autor Cäsar Rhan 1890 gegen das schlechte Image der Hühnerhaltung: Dem Nationalvermögen gingen durch Unterlassung der Geflügelzucht „Hunderte von Millionen verloren“. Anders als in deutschen Landen „holt Amerika aus dem Geflügel mehr heraus, als aus dem Weizenanbau, der Schweinehaltung, den Silberminen und der Baumwollzucht.“ Doch den neu gegründeten Geflügelzuchtvereinen, in denen Frauen laut Versammlungsrecht von 1887 ausgeschlossen sind, gelingt kein Imagewandel. Immerhin wächst die Legeleistung von 50 Eiern im Jahr 1800 auf 80 vor dem ersten Weltkrieg.

Im Deutschen Reich soll der Rassenwirrwarr im Hühnerstall beseitigt und die Inzucht eingedämmt werden. Die hatte teilweise zu doppelköpfigen und vierfüßigen Hühnern geführt. Am 1. Dezember 1927 leben im Reich 61.427.266 Legehennen – heute sind es in der Bundesrepublik 38,4 Millionen. Neue Fallnester ermöglichen internationale Wettbewerbe im Eierlegen. 1930/1931 liegen die USA vorn, deren Tophühner bereits 198 Eier im Jahr aus sich herauspressen.

Eine Hausfrau begründet die Revolution im Hühnerstall

Zur selben Zeit kommt es in den US zu einer Revolution, die alle Betriebsmodelle radikal über den Haufen wirft. Ein kleiner Irrtum sorgt 1923 für den großen Umsturz. Die Hausfrau Wilmer Celia Steele aus dem Küstenort Ocean View im US-Bundesstaat Delaware besitzt ein bescheidenes Hühnerhaus und braucht Nachschub; sie bestellt 50 Eintagsküken. Doch statt 50 werden 500 geliefert.

Steele will die sonnengelben Junghühner nicht zurückschicken und beschließt, alle 500 Tiere über den Winter in ihrem kohlebeheizten Hühnerhaus aufzuziehen. 387 Tiere überleben auf engstem Raum. Steele verkauft die schlachtreifen Hühner im Frühjahr für je 1,40 Dollar und macht ein gutes Geschäft. Schon im nächsten Jahr bestellt sie 1.000 Küken, zwei Jahre später besitzt sie 10.000 Hühner, 1935 sind es 250.000. Steeles Aufstieg von der Hausfrau zur Hühnerbaronin begründet die erste Massentierhaltung.

Steel ist die Mutter der Massentierhaltung. Der Vater heißt Thomas J. Hulpin, ist Professor der Universität Wisconsin. Schon 1911 hat Hulpin weitgehend geräuschlos eine ganz andere Revolution eingeleitet: Er sperrt erstmals Legehennen in Käfige. So hat er sie besser unter Kontrolle, und die Tiere brauchen weniger Futter. 1924 werden Hulpins Käfige in der Ohio Agricultural Experimental Station übereinander gestapelt, die erste Käfig-Batterie nimmt Gestalt an. Sie ist Tortur und neues Geschäftsmodell zugleich, sie quält die Kreatur und füllt das Portemonnaie. Schon in den 1930er Jahren kann sich die Batteriehaltung in den USA allmählich durchsetzen. Die Industriealisierung der Eierproduktion beginnt, das Huhn verlässt den Bauernhof.

Die Schnabelspitzen werden weggeätzt

Die ökonomischen Vorteile sind durchschlagend: Die Hühner bewegen sich kaum noch und fressen tatsächlich sehr viel weniger. Auch der Parasitenbefall lässt sich besser beobachten, die Eier sind sauberer. Das ganze System ist effizienter, zumal das neu erfundene Fließband die Fütterung übernimmt. Das Kürzen der Schnäbel, der empfindlichen Tastwerkzeuge des Huhns, wird ebenfalls automatisiert. Mit abgetrennten Schnabelspitzen können sich die Tiere in der Enge nicht gegenseitig tothacken. Tierwohl und artgerechte Haltung sind unbekannt, für das „dumme Huhn“ gibt‘s kein Pardon.

Dafür klopfen neue Spieler den Takt. Arthur Perdue gründet in den USA sein Eierimperium. A.W. Perdue & Son nimmt 1925 die erste Brüterei in Betrieb und erzielt bald Milliardenumsätze. 1935 startet der amerikanische Geschäftsmann John W. Tyson sein Unternehmen Tyson-Foods. Tyson hat gehört, dass mit Hühnerfleisch gutes Geld zu verdienen ist. Die Firma steigt schnell zum weltweit größten Dealer auf. Heute produziert Tyson-Foods Woche für Woche in 54 Stallkomplexen 42 Millionen Hähnchen. Tyson unterstützt die religiöse Rechte in den USA und fordert seine Kunden auf, von der Homepage Gebetsbücher runter zu laden und daraus vorzulesen, wenn nach dem Mahl die Hähnchenkeulen abgenagt sind.

Schöner wohnen – in der Legebatterie

Erstaunlicherweise dauert es zwei Jahrzehnte bis Europa nachzieht. Noch 1957 sind, wie die Agrarexpertin Anita Idel 2004 in ihrer „Fallstudie Huhn“ schreibt, nur zwei Prozent des gesamten deutschen Hühnerbestandes in gewerblicher Hand. Großbritannien und Dänemark werden zu Vorreitern der neuen Hühnerhaltung. Nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 ist viel von Grüner Revolution die Rede, von Technik, Chemie und der Modernisierung von Ackerbau und Viehzucht. Im selben Jahr eröffnet Friedrich Jahn in München sein erstes Wienerwald-restaurant, Grundstein einer Backhendlkette nach dem Vorbild von Kentucky Fried Chicken.

Jetzt geht es rasend schnell: 1972 sind bereit 80 Prozent der Hennen agrarindustriell eingestallt. Die Ställe sind fensterlos, von der Öffentlichkeit abgeschottet. Ihre Insassen erleben weder Jahreszeit noch Tageslicht. Die Lampen brennen 18 Stunden und simulieren bei Dämmerlicht ewigen Sommer, damit die Legeleistung bei kürzer werdenden Tagen nicht zurückgeht. Die Käfige sind aus Draht: 40 Zentimeter breit, 45 Zentimeter tief. Mit vier Hennen besetzt, bieten sie jedem Tier 450 Quadratzentimeter Platz. Ein Din-A-4 Blatt misst 630 Quadratzentimeter. Der Kot der Hühner fällt durch den leicht schrägen Gitterrost auf Transportbänder. Durch die Schräge rollen die Eier ab und bleiben sauber. So bekommt der Verbraucher ein hygienisch untadeliges Produkt, während das schweinische Bauernhuhn, so die damalige Flüsterpropaganda, „Jauche säuft und ekelhafte Würmer frisst“.

In den modernen Hühnerfarmen werden Futter und Wasser automatisch in die Käfige befördert, eine einzige Aufsichtsperson betreut bis zu 50.000 Legehennen. Mit dem Hochstapeln der Käfige können mehr als 100 Hennen je Quadratmeter gehalten werden. Die Produktivität galoppiert, das Batteriehuhn braucht nur noch 170 Gramm Futter pro Ei.

Zoodirektor Grzimek wettert im Fernsehen

Doch in den neuen Ställen häufen sich Gesundheits- und Verhaltensstörungen. Gefieder, Knochen- und Krallenschäden gehören zum normalen Erscheinungsbild des Käfighuhns, ebenso sein panischer Blick. „Reizarmut“ diagnostizieren die Tierschützer, dazu ständiges Federpicken und „Kannibalismus“ unten den eingepferchten Tieren. Die Beklommenheit wächst, prominente Tier- und Naturschützer protestieren gegen eine als barbarisch empfundene Haltungsform. An ihrer Spitze steht der Fernsehstar und Frankfurter Zoodirektor Bernhard Grzimek, bekanntester Zoologe der Bundesrepublik. Er wettert im November 1973 in seinem legendären ARD-Magazin Ein Platz für Tiere mit knarrendem Timbre, den Schimpansen Chita auf der Schulter, gegen „grausame Tierquälerei“ und „niederträchtige KZ-Käfighaltung“. Obwohl sich jeder Vergleich mit den Mord- und Schreckenslagern der Nazis verbietet, gehört dieser fortan zum festen Inventar der Auseinandersetzung.

Der umstrittene Wiener Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz nennt die Batterien eine „Kulturschande“. Hühner würden genötigt, mitten im Gedränge Eier zu legen, ihre Hemmung sei „ebenso groß wie die von Kulturmenschen in einer analogen Situation zu defäkieren.“ Und der geniale Naturfilmer und Journalist Horst Stern grummelt: „Wer zum ersten Mal im Leben diese Tiermaschinerie sieht, der möchte nach der Polizei rufen.“

Doch die rückt allenfalls aus, um die Monsterställe gegen militante Tierschützer zu schützen. Die Eigentümer der Hühnerfabriken kommen aus illustren Branchen. Der Spiegel bringt am Jahresende 1973 ein wenig Licht ins Dunkel: „Der westfälische Strumpfwirker „Nur die“ baut Silos für mehr als 500.000 Hühner, Bertelsmann-Junior Johannes Mohn für rund 970.000 Hühner, die Brüder Schockemöhle ließen gar Quartiere für über zwei Millionen Hennen errichten.“

Die Politik gerät unter Druck. Im Juli 1974 veröffentlicht Landwirtschaftsminister Josef Ertl (FDP) ein Gutachten zur Nutzgeflügel-Haltung. Zu den Gutachtern gehört auch der Präsident des Zentralverbands der Geflügelwirtschaft, Prof. Hans Schlütter. Erheiternder Tenor der Expertise: „Der als nachteilig empfundenen Bewegungseinschränkung der Tiere (in dem Käfigen) stehen zweifelsohne auch eine Reihe von Vorteilen gegenüber: ganzjähriger Schutz der Tiere vor den Unbilden der Witterung und vor natürlichen Feinden.“ Die Batterie als trautes Heim? Die drei Verhaltensforscher Glarita Martin, Paul Leyhausen und Jürgen Nicolai weigern sich, das tendenziöse Gutachten zu unterschreiben und legen ein eigenes vor. Fazit: „Die derzeit üblichen Praktiken der Käfighaltung erfüllen den Tatbestand der Tierquälerei in hohem Ausmaß.“

Hühnerleichen auf dem Berner Bundesplatz

Wie elend die gern als „legefroh“ bezeichneten Käfighühner tatsächlich dran sind, ist 1976 in Bern zu erleben. Aus Protest gegen niedrige Eierpreise setzen einige Käfighalter tausend Hühner auf den Bundesplatz der Schweizer Hauptstadt aus. Die Tiere sind weder an Bewegung, noch an Sonne und Freiheit gewöhnt. 400 krepieren vor Schreck auf der Stelle, 400 weitere beim Abtransport.

Die Politik zieht den Kopf ein und erkennt 1978 erneuten Forschungsbedarf. Eine groß angelegte Vergleichsstudie der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft – das bis heute aufwändigste Projekt zur Hühnerhaltung – soll endlich Klarheit bringen. 2.304 Legehennen werden am Celler Institut für Kleintierzucht in wissenschaftlicher Mission eingestallt. Freiland-, Boden- und Käfighaltung im direkten Vergleich. Drei Jahre später kommen die Forscher mit ihrer 700 Seiten dicken Celler Hühnerbibel nieder. Das vorgelegte Ergebnis ist wenig überraschend: Mit dem Käfig ist am meisten Geld zu verdienen, aber er verringert „das Komfortverhalten“, führt zu „Frustrationserscheinungen“ und „sozialen Auseinandersetzungen“ unter den Insassen. Mit der Gesamtbewertung wird der Schweizer Ethologe Beat Tschanz beauftragt. Er erkennt beim Käfighuhn „relevantes Leid“ und resümiert: „Es bedarf keiner weiteren Erhebung, um das Verbot dieses Haltungssystems zu begründen.“ Der Knockout für die Legebatterie?

Und die Eierlobby marschiert

Kurz darauf greift endlich die Justiz ein. Das Landgericht Darmstadt stellt im Oktober 1983 fest, dass Legebatterien dem Huhn „anhaltende und sich wiederholende erhebliche Leiden zufügen“ und gegen das Tierschutzgesetz verstoßen. Zuvor hat schon das Oberlandesgericht Düsseldorf ein Herz für Hühner gezeigt: Die Tiere würden „auf Lebensdauer nicht nur am Scharren, Laufen, Fliegen und Flattern gehindert, sondern auch an so einfachen Lebensbetätigungen wie Flügelstrecken und Fortbewegung.“ Doch die Eierlobby marschiert durch die Instanzen, sie erreicht in einer juristischen Dauerfehde immer wieder Zeitverzögerungen und hat stets das Bonner Landwirtschaftsministerium auf seiner Seite.

Auch in der Reproduktion triumphieren längst Technik und „Machbarkeit“, Inzwischen ist aus dem beschaulichen Hühnervolk Big Business geworden. Legehennen werden in riesigen Brutkammern „hergestellt“, wie ZEIT-Autor Dieter E. Zimmer 1983 schreibt. Nach dem Ausschlüpfen werden die Tiere „gesext“ – nach Geschlecht sortiert. Die unnützen Hahnküken werden mit Kohlendioxid vergast, heute werden sie teilweise auch im Schredder vermust, 35 Millionen Geschöpfe im Jahr.

Langsam begreift selbst der ahnungsloseste „Verbraucher“ das Ausmaß des Horrors. Im Januar 1990 votieren in einer Allensbach-Umfrage 85 Prozent für ein sofortiges Verbot der Legebatterien. Im März 1998 zeigen sich bei Infas 37 Prozent der Befragten „häufig“ und 38 Prozent „manchmal bedrückt“, wenn sie an die Käfighühner denken. Die Industrie selbst tut alles, um den Schrecken zu verstärken. Die Skandale häufen sich. Jahrelang verarbeiten deutsche Nudelhersteller Flüssigei-Pampe, die reichlich mit Kükenembryos und Hühnerkot verunreinigt ist, dazu Dioxin-Spuren im Ei, Salmonellen, Rückstände von Pestiziden, Antibiotika, Antiparasitika und anderen Arzneimitteln. Vor allem der berüchtigte Hühnerbaron Anton Pohlmann sorgt mit seinen 28 Großfarmen regelmäßig für Proteststürme in den Medien. Er lässt Hühnergülle ins Trinkwasserschutzgebiet kippen, zieht Schwarzbauten hoch, fälscht Frischedaten. Oder er vergiftet Hühner und Angestellte mit Nikotinbrühe – am Ende nimmt nicht mal mehr Aldi von ihm noch ein Ei.

Karlsruhe greift endlich durch

Der Befreiungsschlag kommt am 6. Juli 1999. „Es ist der Tag“, kommentiert das Slow Food-Magazin, „an dem das Haushuhn mit kräftigen Flügelschlägen die Gitterstäbe seines Käfigs verbog, aus seinem Gefängnis herausflatterte und dem deutschen Eieradel ins Gesicht hackte.“ In Karlsruhe verkündet das Verfassungsgericht sein Urteil zur modernen Hühnerfabrik und weist der chronisch unwilligen Politik den Weg: Die Legebatterie ist rechtswidrig. Sie verstößt gegen das Tierschutzgesetz. Einem Tier darf ohne vernünftigen Grund kein Leid zugefügt werden. Wirtschaftliche Überlegungen aber, so die Richter, sind kein vernünftiger Grund.
Zwei Jahre später, im April 2001, legt die grüne Verbraucherschutzministerin Renate Künast erstmals eine Hennenhaltungsverordnung vor, die den Tieren einen halbwegs artgerechten Lebensraum zubilligt. Zuvor hat die EU die Richtlinie 1999/74/EG über „Mindestanforderungen zum Schutz von Legehennen“ erlassen. Danach ist die alte Käfighaltung – bei langen Übergangsfristen – europaweit ab 2012 endgültig verboten. Jetzt hat die Legehenne etwa 800 Quadratzentimeter Platz und lebt in WG-ähnlicher Kleingruppenstruktur inklusive abgedunkeltem Nest, Sitzstange und Einstreu. Griechenland und Italien haben das 1999 verfügte Käfigverbot bis heute nicht umgesetzt und sind deshalb von der EU-Kommission am 25. April 2013 vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt worden.

Weit mehr Hühner leben allerdings in der Boden- und in der Freilandhaltung. Aber ob im Käfig oder befreit: Ihr aller Schicksal liegt heute in den Händen der drei Konzerne Wesjohann-Lohmann, Hendrix Genetics und Natexis, die mit ihren Hybrid-Turbohennen den globalen Hühnerstall bestücken. Es liegt allein an uns, ob das so bleibt.


Text: Aus der Wochenzeitung "Die Zeit", erschienen am 31. März 2014, Nr. 14, Seite 23.
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Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

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