Tag der indigenen Völker: Ernährungssouveränität bedeutet Saatgutfreiheit

11.8.2017 – Am 9. August, dem internationalen „Tag der indigenen Völker“, lud Slow Food Deutschland e. V. im Rahmen des 25-jährigen Vereinsjubiläums gemeinsam mit dem Schamanischen Netzwerk Europa auf das Demeter-Gut Wulfsdorf in Ahrensburg ein, um über die zentrale Rolle von Saatgutfreiheit für unsere Ernährungssouveränität zu sprechen. Ein Bericht von Sharon Sheets, Slow Food Deutschland e. V.

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Warum es wichtig ist, alte und samenfeste Sorten zu erhalten, schmeckten die Teilnehmer während der Verkostung von Tomaten und Zucchini deutlich heraus. Aus geschmacklicher, aber auch ernährungsphysiologischer Sicht liegen Welten zwischen den ökologischen samenfesten Sorten und den standardisierten, für die industrielle Erzeugung geeigneten Sorten, so das Fazit des Abends.

Im Bild links: Tomatenvielfalt aus biodynamischem Anbau für die Tomatenverkostung.

„Indigene Völker sind die Hüter der biokulturellen Vielfalt“

„Es bot sich an, mit einer Veranstaltung zum Thema Saatgut an den Tag der indigenen Völker anzuknüpfen und hierzu mit dem Schamanischen Netzwerk Europa zu kooperieren, denn die indigenen Völker halten den Schlüssel in der Hand zum Erhalt der Biodiversität. Sie sind die Hüter der biokulturellen Vielfalt,“ sagte die Vorsitzende von Slow Food Deutschland Ursula Hudson bei der Einführung in die Veranstaltung. Wenn man sich die Geografie der Orte anschaut, in denen noch die größte biologische Vielfalt vorherrscht, dann stimmen diese im Wesentlichen mit den Lebensräumen indigener Völker überein. In den westlichen Ländern können wir sehr viel von indigenen Völkern lernen, denn sie leben in Einklang mit der Natur und respektieren sie. Ein schonender und nachhaltiger Umgang mit den Ressourcen der Erde sind für sie selbstverständlich.

„Ungleich unserem wirtschaftlichen Handeln und unserer weitgehend industriellen Lebensmittelproduktion heutzutage, die auf schnellen Umsatz und Gewinn zielt, ist die Ausrichtung der Lebensweise indigener Völker auf Zukunftsfähigkeit gerichtet: Die Bewahrung der Lebensräume wird mehrere Generationen voraus gedacht, um sicherzustellen, dass ihre Lebensweise enkeltauglich ist. Wenn wir mehrere Generationen vorausdenken, so sind das mindestens hundert Jahre. Das ist sehr viel, wenn wir bedenken, dass wir es mit der industriellen Lebensmittelproduktion so weit getrieben haben, dass wir nur noch eine sehr begrenzte Anzahl von Ernten – 60 laut Maria Semeda von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen – vor uns haben werden und die Zukunft unserer Enkel somit auf dem Spiel steht“, so Hudson weiter.

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Geschmackvolle, nahrhafte Lebensmittel

Die Allmende Wulfsdorf in Ahrensburg ist ein selbstverwaltetes Dorfprojekt mit über 100 Wohnungen. Teil davon ist das Gut Wulfsdorf, ein biodynamischer Betrieb, der vor über 25 Jahren auf Demeter umgestellt hat. Er beheimatet unter anderem 60 Milchkühe, eine eigenständige Fleischerei und eine Bäckerei und vertreibt 2.000 Gemüsekisten. Christina Henatsch, Gärtnerin und Saatgutzüchterin, selektiert und züchtet hier mit ihrem Team samenfestes – also natürlich vermehrbares - Saatgut und erstellt zusammen mit weiteren Erzeugern das biologisch dynamische Sortiment für Bingenheimer Saatgut.

Gespannt lauschten die Teilnehmer des Abends dem Beitrag von Christina Henatsch, als sie erklärte, wie sie aus dem ihr zur Verfügung stehenden Saatgut durch Geschmacksselektion das beste geschmackliche und ernährungsphysiologische Ergebnis für das Saatgutsortiment gewinnt. Henatsch und ihr Team haben es sich zur Aufgabe gemacht alte Sorten und konventionelles Saatgut weiterzuentwickeln, um daraus das beste Ergebnis zustande zu bringen. Also: Ausprobieren lohnt sich, nicht zuletzt, weil sich dahinter eine ganz neue Welt guten Geschmacks auftut. Die vielen verschiedenen Tomatensorten während der Verkostung des Abends kamen jedenfalls sehr gut an. Die Teilnehmer waren sich einig: „Das ist echter Geschmack“, „so schmecken Tomaten eigentlich“, „diesen Geschmack findet man heutzutage kaum noch“, „ich hatte vergessen, wie Tomaten eigentlich schmecken können“.

Bild oben: Auf dem Acker lernen die Teilnehmer mehr über Geschmacksselektion für die Saatgutherstellung.

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Auch beim Saatgut gilt: Bio ist nicht gleich Bio

Was das Saatgut angeht, gibt es selbst innerhalb von biologischem Saatgut große Unterschiede. Differenzieren muss man hier zwischen konventionell, bio und samenfestem biologischem Saatgut. Erstaunt waren die Teilnehmer, unter ihnen viele Bio-Verbraucher, als es um die Tatsache ging, dass bio nicht gleich bio ist und dass die Richtlinien von EU-Bioprodukten sich stark von zum Beispiel Demeter bio-dynamsicher Qualität unterscheiden. Das Supermarkt Bio-Obst und Gemüse etwa stammt mit ziemlicher Sicherheit aus Hybriden. Über 90 Prozent der Biodprodukte im Handel seien nicht samenfeste, vielmehr auf Genmanipulation zurückzuführende Hybride, betonte Henatsch. Verbraucher, die sichergehen möchten, GVO-freie Produkte zu konsumieren, müssen auf vertrauensvolle Bezugsquellen wie Demeter oder Bioland zurückgreifen oder sich beim Erzeuger des Vertrauens vergewissern.

Unsere ernährungspolitische Aufgabe als Verbraucher ist es deshalb auf dem Markt, im Bioladen etc. nach samenfesten Sorten zu fragen, damit sich auch immer mehr Erzeuger darüber Gedanken machen. Denn nur was gekauft wird, kann auch weiterhin erzeugt werden. Bei vielen Erzeugern fehlt das Bewusstsein für diesen Unterschied vielleicht noch gänzlich, also lohnt es sich den Reflexionsprozess anzustoßen und somit zur Veränderung beizutragen. Zur Sensibilisierung der Verbraucher wäre es nicht zuletzt sehr sinnvoll, Gemüse so zu kennzeichnen, dass der Verbraucher sieht, ob es aus samenfester Herkunft stammt oder nicht. Deshalb plädiert Slow Food Deutschland dafür eine Kennzeichnungspflicht für Hybride und samenfeste Sorten einzuführen.

Bild oben: Auf Gut Wulfsdorf wachsen auch gelbe Zucchini.

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Saatgutfreiheit als Schlüssel zu Ernährungssouveränität

Wenn man zukunftsfähig handeln möchte, muss man sich dem Thema Saatgut widmen und dieses wertschätzen. Denn Saatgutfreiheit bedeutet Ernährungssouveränität, bedeutet die Möglichkeit selbst über die Vermehrung des Saatgutes und der Sorten zu verfügen, die man anbauen und essen möchte. Durch den Erhalt von Saatgutvielfalt stellen wir sicher, dass Kulturgüter erhalten werden und Menschen lokaltypische Lebensmittel, angepasst an den jeweiligen Standort, sein Klima, die Bodenbeschaffenheit etc., zu sich nehmen können. Ziel sollte sein, dass wir unser kulinarisches Erbe bewahren – d.h. uns hierzulande zum Beispiel eine reiche Vielfalt an regionaltypischen Kartoffeln und Äpfeln zur Verfügung steht, statt auf wenige standardisierte Sorten des internationalen Handels beschränkt zu werden. Wie wichtig der Erhalt und auch die Weiterentwicklung der Vielfalt von beispielsweise Gemüsesorten ist, wurde im Gespräch und bei der Besichtigung auf dem demeter Gut Wulfsdorf unter der Leitung von Christina Henatsch deutlich. „Momentan sind wir im globalen Norden in keinster Weise ernährungssouverän, es herrscht eine vermeintliche Fülle an Vielfalt und Lebensmitteln in unseren Supermarktregalen vor. Gleichzeitig liegt das Saatgut – und damit die Souveränität über unsere Lebensmittel – schon weitgehend bei den Multinationalen Konzernen,“ fügte Hudson bei der Diskussion hinzu.

Bild oben: Ursula Hudson, Vorsitzende von Slow Food Deutschland (1. v. li.), im Gespräch über Zukunftsfähigkeit und Ernährungssouveränität.

Schamanisches Netzwerk Europa

Das Schamanische Netzwerk Europaist ein Verein zur Entwicklung und Förderung einer schamanischen Heilkunde in Europa. Das alte Wissen traditioneller SchamanInnen ist nicht nur Teil ferner, exotischer Kulturen, sondern es ist das universelle menschliche Wissen, das in alle - auch in alten europäischen Kulturen existiert. Die modernen Industrieländer haben dieses Erbe verworfen. Der Verein will mithelfen, das Verborgene und oft scheinbar nicht mehr Zugängliche wieder in seiner Kostbarkeit nutzbar zu machen. www.schamanisches-netzwerk-europa.de

Internationaler Tag der indigenen Völker.

Weltweit werden laut den Vereinten Nationen rund 370 Millionen Menschen indigenen Bevölkerungsgruppen zugerechnet. Ihre Lebensgrundlage ist bedroht: durch den zunehmenden Abbau natürlicher Ressourcen, die Folgen des Klimawandels und die fehlende Anerkennung ihrer Rechte. Darauf macht jedes Jahr am 9. August der UN-Tag der indigenen Bevölkerungen aufmerksam. www.unric.org/de/pressemitteilungen/25337

Indigenes Terra Madre

Das Indigene Terra Madre ist ein Netzwerktreffen der indigenen Gemeinschaften im Terra-Madre-Netzwerk von Slow Food, das vom dritten bis siebten November 2015 zum zweiten Mal stattgefunden hat. Nach dem ersten Treffen 2011 in Jokkmokk in Schweden fand es dieses Mal in Shillong (Meghalaya) in Nord-Ost-Indien statt (siehe Bild). 650 Delegierte aus 150 Terra-Madre-Lebensmittelgemeinschaften und 58 Ländern kamen dort eine Woche zusammen, um sich über ihr tradiertes Wissen und ihre Sichtweise auf Lebensmittel, Ernährung, Landwirtschaft und den Erhalt der Artenvielfalt auszutauschen.
Indigeneous People: Slow Food Engagement (Link zur englischen Website von Slow Food International)

25 Jahre Slow Food Deutschland

Unter dem Motto „25 Jahre Slow Food Deutschland – Weil uns die Zukunft des Essens und unserer Lebensmittelerzeuger wichtig ist“ feiert Slow Food Deutschland gemeinsam mit den rund 14.000 Mitgliedern das 25-jährige Vereinsjubiläum. Veranstaltungen in ganz Deutschland rücken Erzeuger und Produkte in den Fokus, die schon heute im Zeichen eines zukunftsfähigen Lebensmittelsystems und ökologischer Nachhaltigkeit stehen.
Veranstaltungen im Jubiläumsjahr

Mehr Informationen:

Slow Thema: Saatgut

Alle Bilder: © Sharon Sheets

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