Please say that you’re a dreamer - von Nina Wolff

Schwarzmalerei nervt. Gerade, wenn es ums Essen geht. Der Einkaufskorb will gut gefüllt, der Tisch gedeckt und der Mensch gesättigt sein. Das sind ebenso archaische wie mannigfach beobachtete Instinkte. Und doch legt eine nüchterne Betrachtung der Gegenwart und Zukunft von Landwirtschaft und Ernährung viele Stirnen in Sorgenfalten.

Zum Ende unseres ersten Jahrhundertquartals sind die zahlreichen Krisen ebenso global wie hautnah, Konflikte und kontroverse Lesarten der Wirklichkeit vermehren sich, und inmitten der Informations- und Meinungsflut erscheint die Ernährungswelt als enormes Durcheinander und gespalten: Urban Farming, Labornahrung, regenerative Landwirtschaft und Veganuary, oder doch besser Agrarökologie? Interessengetriebene ebenso wie gut gemeinte Lösungsansätze multiplizieren sich. Wir sind live dabei beim Babel 2.0 des Essens, und die Politik tut ein Übriges, mit einer zähen und kontroversen Handhabung von Problemen der Umsetzung eines glaubhaften Zukunftsmodells für Landwirtschaft und Ernährung im Weg zu stehen. Nicht selten verliert sie sich dabei im Klein-Klein - Stichwort »Glyphosat«, »Kinderwerbung« oder »Dieselsubvention«. Nur wird es nicht einfacher, im Gegenteil: Während die Klimaforschung zu großer Eile mahnt, sagt die Zukunftsforschung uns in Anbetracht von Omnikrise und gesellschaftlichem Dauerclinch eine länger andauernde Periode der Instabilität voraus und analysiert, ein wenig lüstern, das Phänomen der Wirklichkeitsspaltung.

Ebenso fest steht aber laut Transformationsforschung, dass wir Stabilität und Kraft nur durch die gemeinsame Vorstellung einer positiven Zukunft erreichen werden! Das ist doch mal eine gute Botschaft, die unterstreicht, dass es sich weiterhin lohnt, die Welt in unseren bunt-geschneckten Farben zu denken. Uns bei Slow Food ist klar: Mit unserer Überzeugungs-, Projekt- und Netzwerkarbeit verbreiten wir nicht nur die Vision einer Welt, in der Ernährung auf fairen Beziehungen basiert und die biologische Vielfalt, das Klima und die Gesundheit fördert. Wir liefern auch praktische Ansätze und Anregungen, wie das gelingen kann. In unserer Zukunftsvorstellung ist es allen Menschen möglich, ihr Recht auf eine kulturell angemessene, nachhaltige und gerechte Ernährung auszuüben. Bei der Verwirklichung des Menschenrechts auf gutes, sauberes und faires Essen sind wir noch nicht. Nein. Aber wir könnten und sollten umso mehr Respekt vor Träumen haben, als wir schon einige haben Wirklichkeit werden sehen. Mit vielen kleinen und mitunter größeren Schritten nähren wir ihre Ausgestaltung – auch in 2024. Etwa, indem wir mit dem Aufbau eines neuen landwirtschaftlichen Netzwerks, den Slow-Food-Höfen, beginnen und zeigen, dass die Transformation unserer Landwirtschaft sehr wohl möglich ist und von uns Verbraucher*innen als Ko-Produzent*innen geschätzt wird. Indem wir ein großes, zahlreiche gesellschaftliche Gruppen und Vereinigungen integrierendes Projekt zur Lebensmittelverschwendung in unseren privaten Haushalten ausbauen. Nicht zuletzt indem wir weiter öffentlichkeitswirksam auftreten, unsere Stimme erheben, in direkten Beziehungen, bei Veranstaltungen sowie in starken Allianzen, um agrar- und ernährungspolitische Prozesse sowie das Denken und den Genuss jedes und jeder Einzelnen zum Positiven zu beeinflussen und bei aller Herausforderung Räume für Gemeinschaft und Freude schaffen! Denn wir brauchen eine slowe Landwirtschaft, tragfähige Ernährungssysteme und immer mehr Menschen, die das mit einer inneren Haltung und gelebten Praxis mitgestalten. 

Ich gebe zu, es hat mich umgetrieben in den vergangenen Monaten: Wie kommen wir, als Individuen und als Slow Food, durch diese überaus wirre Zeit? Ich habe umfassend recherchiert, in alle denkbaren sozialwissenschaftlichen, psychologischen, historischen und futurologischen Richtungen. Die Quintessenz und Schlussfolgerung meines Lesens, Lauschens und Lernens ist eine durchaus frohe. Optimismus ist – auf den Punkt gebracht – in diesen Zeiten die erste Bürgerpflicht! Die Vorstellung, dass eine sozial wie ökologisch gerechte und genussvolle Welt eines Tages Wirklichkeit wird, ist eine Haltung, die Halt gibt und uns dieser positiven Vorstellung entgegentreibt. Jeder Schritt dahin bestätigt und beschleunigt uns. Und das Wissen, dass wir nicht allein sind, bestärkt uns. Sagen Sie also gern, dass ich eine Träumerin bin – aber bitte auch, dass ich nicht allein bin! Die Transformation braucht Slow Food und uns, gerade jetzt.

Autorin: Nina Wolff, Vorsitzende von Slow Food Deutschland

Erschienen im Slow Food Magazin 01/2024

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