Die Meereskrise erfordert Visionen und neue Kompetenzen - von Carlo Petrini

18.12.2025 - Das Meer ist kein Supermarkt. Überfischung, problematische Aquakultur und Klimakrise setzen seine Ökosysteme massiv unter Druck. Warum wir Fisch neu denken, Fischer*innen stärken und Algen als Zukunftslebensmittel ernst nehmen sollten.

Als Kind, das auf dem Land im Süden des Piemont aufgewachsen ist, war Fisch aus dem Meer eine Besonderheit, ein Festessen nach einer stundenlangen Autofahrt nach Ligurien. Heute ist Fisch überall erhältlich, sodass manche Kinder glauben, er stamme aus dem Kühlregal des Supermarkts und sei von Natur aus ein Fischstäbchen. Der steigende Verzehr von Fisch ging einher mit einem abnehmenden Bewusstsein für dieses wertvolle Lebensmittel. Der Fisch von heute ist auch nicht mehr derselbe wie früher. Genauso wie das Meer nicht mehr das gleiche ist, und das sage ich nicht aus Nostalgie, sondern aus einer Reihe von konkreten Gründen.

Innerhalb von zehn Jahren haben wir allein in Italien 8000 Fischer verloren, vor allem weil die Meere fast leer gefischt sind. Das sind 8000 Menschen, die keine Netze mehr auswerfen, ihr Wissen nicht mehr weitergeben und die marine Artenvielfalt nicht mehr bewahren. Das Problem ist: Einerseits haben wir das Meer jahrelang wie ein unendliches Warenlager behandelt, andererseits sozusagen das Meer aus dem Meer geholt – in Form von Fischfarmen, auch Aquakulturen genannt. Diese haben den Meeresboden aufgekratzt, die Ökosysteme zerstört und wahllos viele Arten an die Oberfläche gespült, um dann nur wenige auszuwählen: Thunfisch, Schwertfisch, Wolfsbarsch und Goldbrasse.

Insbesondere die Fischfarmen, aus denen heute 43 Prozent der weltweit konsumierten Fischprodukte stammen, verursachen negative Externalitäten. Die Betriebe bevorzugen fleischfressende Fischarten – allen voran Lachs – die zur Ernährung wiederum große Mengen an Fisch benötigen. Sie produzieren umweltschädliche und schwer zu entsorgende Abfälle in Form von Exkrementen, Futterresten und Antibiotika. Sie zerstören auch die natürlichen Ökosysteme, in denen sie angesiedelt sind – so, wie etwa die Garnelenzucht, die die Mangrovenwälder beeinträchtigt. Und sie gefährden die einheimische Artenvielfalt, wenn sie aus den Zuchtbetrieben entkommen und zu gefräßigen Raubtieren werden.

All dies geschieht vor dem Hintergrund der offensichtlichen Klimakrise. Die Gewässer haben sich erwärmt. Einheimische Arten werden gezwungen, sich zu verlagern und Platz für fremde Arten zu machen – die Blaue Krabbe, den Kaninchenfisch, den Makrelenhecht – von denen einige auf unseren Tellern landen, während andere das Gleichgewicht tiefgreifend verändern und die Artenvielfalt zerstören. Die jährliche Rückgangsrate der sogenannten Posidonia-Wiesen, der unterseeischen Wälder aus Neptungras, beträgt bereits 1,5 Prozent. Das ist eine alarmierende Zahl, wenn man bedenkt, dass die Gesamtheit der Arten, aus denen sich die Meeresflora zusammensetzt, die wahre (und oft unbekannte) Lunge des Planeten ist. Sie produziert mehr als 50 Prozent des Sauerstoffs, also viel mehr als Regenwälder!

»Vielleicht bauen die Fischer von Morgen auch Algen an.«

Das Meer ernährt, schützt und heilt uns, und wir trocknen es im Gegenzug mit unseren Netzen aus, überschwemmen es mit Plastik und verschmutzen es mit unserer Nachlässigkeit. Da es kein Zurück mehr gibt, müssen wir mit mehr Weitsicht voranschreiten, den Beruf der Fischer*innen mit Kreativität neu erfinden und uns mit Neugierde alternativen Nahrungsmitteln wie Algen zuwenden. Es sind neue Kompetenzen und Visionen gefragt. Die Fischer von morgen werden ein bisschen Wissenschaftler, Reiseleiter und Umweltpädagoge sein. Und vielleicht werden sie auch Algen anbauen, die für viele von uns zwar meist fremd, aber seit Jahrhunderten Teil der gastronomischen Kultur vieler asiatischer Länder sind. Algen wachsen ohne Düngemittel, ohne Süßwasser zu verbrauchen, absorbieren CO₂ besser als Bäume, produzieren Sauerstoff und bieten Meereslebewesen Schutz. Außerdem sind sie lecker, nahrhaft und vielseitig verwendbar. Spirulina, Wakame sowie rote und grüne Algen könnten eines Tages zu einem normalen Bestandteil unserer Ernährung werden.

Bevor dies geschieht, müssen wir Verbraucher*innen jedoch umdenken. Wir brauchen einen bewussten, slowen und tief verwurzelten Konsum. Das Meer ist kein Supermarkt! Es ist ein lebendiges, pulsierendes, empfindliches Ökosystem, das uns alles geben kann: Sauerstoff, Nahrung und Kultur – und das wir deshalb schützen müssen!

Mehr Informationen:

www.slowfood.de/was-wir-tun/vielfalt/fischerei

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Text: Von Carlo Petrini, Gründer von Slow Food International

Quelle: Erschienen im Slow Food Magazin 06/2025

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