Biologische Vielfalt als Schlüssel zur Ernährungssicherheit - ein Standpunkt von Carlo Petrini
Der 22. Mai ist jedes Jahr der »Welttag der biologischen Vielfalt«. Ein Datum, das jeder kennen sollte, denn die biologische Vielfalt ist viel mehr als nur die bloße Summe der lebenden Arten; sie ist unsere Lebensversicherung und ein Verbündeter im Kampf gegen die Klimakrise. Von den etwa acht Millionen bekannten Arten sind heute eine Million vom Aussterben bedroht. Klimakrise und Krise der biologischen Vielfalt gehen Hand in Hand, verstärken sich gegenseitig und bedrohen unser Überleben, wenn wir nicht umsteuern. Wissenschaftler bezeichnen das Geschehen als das sechste Massenaussterben in der Geschichte unseres Planeten. Es ist jedoch das erste, das von einer einzigen Art verursacht wird: dem Menschen.
Der große Genetiker Cavalli-Sforza definierte den Homo sapiens als »den Tyrannen«: Wo er hinkommt, will er etwas verändern. Wir sind Störenfriede, weil wir die Erde immer weiter verbiegen, um sie unseren eigenen Zielen anzupassen, und dabei vergessen, dass jede Veränderung des Gleichgewichts Auswirkungen auf alle hat. Der Hauptverantwortliche für den Verlust der biologischen Vielfalt ist das derzeitige Agrar- und Ernährungssystem, das für 80 Prozent der Verluste verantwortlich ist. Das einseitig auf Höchstleistung getrimmte Agrarsystem hat nicht nur abhängig von chemischen Düngemitteln und Pestiziden gemacht, die die Ökosysteme verschmutzen und schädigen, sondern auch anfällig für Klima- und Gesundheitsschocks.
In diesem düsteren Szenario ist die gute Nachricht, dass die biologische Vielfalt auch eine wirksame Antwort auf die aktuellen Krisen sein kann. Jüngste UN-Studien bestätigen, dass gesunde, artenreiche Öko-Systeme in der Lage sind, viel Kohlenstoff zu absorbieren, den Wasserkreislauf zu regulieren, vor Überschwemmungen zu schützen und die Bodenfruchtbarkeit zu erhalten. Wälder, Feuchtgebiete, Grasland und Ozeane fungieren als natürliche Schutzschilde gegen klimatische Instabilität. Dieses Wissen kann genutzt werden: Im Lebensmittelbereich bedeutet der Anbau lokaler Sorten, die an spezifische Mikroklima und Böden angepasst sind, den Aufbau widerstandsfähigerer Böden, die weniger anfällig für Dürre, Krankheiten und Schädlinge sind. Es bedeutet aber auch, gesündere Lebensmittel mit weniger chemischen Mitteln zu produzieren und die Arbeit von Kleinbauern und ländlichen Gemeinschaften zu würdigen. In diesem Sinne ist die biologische Vielfalt in der Landwirtschaft ein Schlüssel zur Gewährleistung von Ernährungssicherheit, sozialer Gerechtigkeit und öffentlicher Gesundheit. Ein Agrar-Nahrungsmittelsystem, das die biologische Vielfalt schützt, ist auch ein System, das die Rechte von Bauern, handwerklichen Fischern und indigenen Völkern anerkennt und verteidigt.
Um die biologische Vielfalt wirksam zu schützen, reicht es jedoch nicht aus, sich auf Schutzgebiete und Nationalparks zu berufen, wie es oft der Fall ist. Auch Schaufensterlösungen wie die Kompensation von Emissionen durch den Kauf von zig Hektar Tropenwald sind wenig zielführend. Stattdessen müssen wir die Artenvielfalt in unser Leben zurückholen, indem wir den Gebieten, in denen biologische und kulturelle Vielfalt seit Jahrtausenden koexistieren, ihre Würde und ihren Stellenwert zurückgeben.
Zitat: »In einer von Ungewissheit geprägten Gegenwart, ist die biologische Vielfalt die konkreteste Hoffnung, die wir haben«
Italien ist in dieser Hinsicht ein lebendiges Labor: Es ist ein Hotspot der biologischen Vielfalt und auch kulturell sehr unterschiedlich. Diese Vielfalt muss nicht aus Nostalgie, sondern aus ökologischer Intelligenz heraus geschätzt werden. Dies zu tun, ausgehend von unseren Tellern, Märkten und Konsumentscheidungen, ist ein ebenso demokratischer wie auch einschneidender Ansatzpunkt im Hinblick auf einen Paradigmenwechsel. Nicht mehr Wettbewerb um jeden Preis, sondern Zusammenarbeit, Dialog und Teilen sind angezeigt. Wir müssen ein neues Entwicklungsmodell aufbauen, das auf Dauerhaftigkeit und auf einer harmonischen Beziehung zwischen Mensch und Natur beruht. In einer von Ungewissheit geprägten Gegenwart ist die biologische Vielfalt die konkreteste Hoffnung, die wir haben. Sie zu verteidigen bedeutet, unsere Heimat, unsere Gemeinschaften, unsere Zukunft zu verteidigen. Dies ist keine reine Rhetorik, sondern pragmatische Realität. Und wir brauchen heute mehr denn je Realitäten, die uns zu Veränderungen inspirieren!
Text: Von Carlo Petrini, Gründer von Slow Food International