Geschmacksvielfalt sinnlich erfahren - ein Standpunkt von Jens Herion
Zitat: »Stärken wir weiter gemeinsam die Vielfalt auf unseren Tellern.«
Vor einigen Jahren ging eine irritierende Meldung aus den USA durch die Medien. Eine Person, die ihren Lebensunterhalt ausschließlich durch Computerarbeit verdiente, meinte, sie benötige zu viel Zeit für die Zubereitung von Mahlzeiten und auch für das Essen selbst. Sie fand, die ganze Kocherei und Esserei würde nur von der Arbeit abhalten, und dies bedeute natürlich, dass in dieser Zeit kein Geld verdient werden könne. Die Person informierte sich deshalb darüber, was an Nährstoffen der Körper zum Überleben benötige und wie diese in möglichst kompakter Form zugeführt werden könnten, zum Beispiel in Form von Pasten aus der Tube oder, noch besser, intravenös.
Wollen wir wirklich nur noch Nährstoffpasten essen, um »Zeit zu sparen«, und um mehr Geld zu machen? Sicher nicht! Ein wichtiger Gründungsimpuls von Slow Food vor Jahren war das Abhandenkommen der geschmacklichen Vielfalt bei Gemüse. Verschiedene regionale, zum optimalen Reifezeitpunkt geerntete und in der eigenen Region zeitnah vermarktete Tomaten, unter anderem aus dem Piemont, waren einheitlich schmeckenden und aussehenden Sorten aus der industrialisierten, europäischen Landwirtschaft gewichen. Der Anteil an Tomaten mit gleichförmigem und fadem Geschmack nahm zu, und die geschmacklichen Folgen des Verlustes von Sortenvielfalt waren unmittelbar auf dem eigenen Teller sinnlich erfahrbar.
Wer diesen geschmacklichen Verlust der Vielfalt wahrnehmen möchte, muss allerdings auch die Erfahrung machen, dass unterschiedliche Sorten, egal, ob es sich um Tomaten, Äpfel oder Kartoffeln handelt, unterschiedlich schmecken. Und dass dies eine Bereicherung auf dem Teller ist. Wer vor allem hochverarbeitete Produkte isst, kann diese Erfahrung hingegen kaum machen. Leider gibt es viele Kinder, deren Eltern gar nicht mehr kochen können. Auch wird die Nahrungszubereitung hierzulande an allgemeinbildenden Schulen kaum noch gelehrt. So fehlt diesen Kindern die Fähigkeit, sich später mit einfachen Mitteln aus unverarbeiteten Produkten wie Gemüse und Obst, Hülsenfrüchten und Getreideprodukten selbst eine schmackhafte Mahlzeit zuzubereiten.
Dies sind wichtige Gründe, warum wir bei Slow Food vielfältige Formen der Bewusstseins-, Geschmacks- und Ernährungsbildung betreiben. So gehen wir in Schulen und Kochen dort mit Schüler*innen in unseren Slow Mobilen. Beim gemeinsamen Kochen und anschließenden Essen lernen sie auf spielerische Weise mit den eigenen Sinnen Sortenvielfalt kennen. Handwerkliche Grundfertigkeiten und die Erfahrung, dass gemeinsames Essen auch eine kulturelle und soziale Seite hat, wirken zudem bereichernd. Interessante Möglichkeiten bieten zudem Besuche auf Höfen, die bäuerliche Landwirtschaft betreiben, sowie in Betrieben mit handwerklicher Lebensmittelverarbeitung. So lernen die Besucher*innen, was alles notwendig ist, damit eben dieses eine Lebensmittel entstehen kann. Umgekehrt erfährt der Betrieb, was die Kundinnen und Kunden von einem bestimmten Produkt erwarten. Darüber hinaus schafft so ein Besuch Wertschätzung für die Arbeit und die Produkte, die dort entstehen. Am Ende fördert dies die Bereitschaft, für hochwertige Produkte einen fairen Preis zu zahlen. Schließlich wollen wir bei Slow Food ja nicht nur wissen, was wir essen, sondern auch gutes, sauberes und faires Essen für alle ermöglichen.
Nach rund 20-Jähriger aktiver Mitgliedschaft bei Slow Food habe ich festgestellt, dass das Mitwirken an dieser Art von Ernährungsbildung nicht nur sehr sinnvoll ist, sondern auch viel Spaß macht und immer wieder neue Erkenntnisse mit sich bringt. In diesem Sinne: Stärken wir weiter gemeinsam die Vielfalt auf unseren Tellern!
Text: von Jens Herion, Beisitzer im Vorstand von Slow Food Deutschland
Quelle: erschienen im Slow Food Magazin 05/2025