Endlich wieder ein neuer Genussführer!

26.07.2022 - Am 6. September ist es so weit – der Slow Food Genussführer 2023/2024 kommt in die Buchläden. Mit Wieland Schnürch, Leiter des Herausgeber-Teams, hat Martina Tschirner über Neues im »Gastroguide der nachhaltigen Gastronomie« und Gründe für die lange Wartezeit gesprochen.

Slow Food Magazin:

Die vielen Fans mussten lange auf die neue, mittlerweile fünfte Ausgabe des Slow Food Genussführers warten, der letzte erschien im Herbst 2018. Welche Gründe gibt es, dass der ursprüngliche Zwei-Jahres-Rhythmus nicht mehr eingehalten wurde?

Wieland Schnürch:

Das Genussführerbuch, das turnusmäßig im Herbst 2020 erscheinen sollte, war schon weitgehend fertig. Dann hat uns Corona eiskalt erwischt. Nach dem Lockdown der Gastro nomie ist uns nicht nur das Objekt unserer Restaurantkritik abhanden gekommen. Es ließ sich auch bei Redaktionsschluss im Frühjahr wegen der Auswirkungen der Pandemie schlicht und ergreifend nicht voraussagen, wie die Gastronomielandschaft im Herbst aussehen würde. Und tatsächlich hielten viele Genussführerlokale auch nach der Aufhebung des Lockdowns weiterhin geschlossen. Aber selbst nach der schrittweisen Lockerung der Kontaktbeschränkungen waren viele unserer Tester noch vorsichtig und haben keine Lokale besuchen wollen. Eine seriöse Bewertung der Gaststätten war deshalb zwei Jahre lang nicht möglich. Dies hat sich erst seit Jahresbeginn 2022 wieder zum Besseren gewendet.

Ist das mit ein Grund, dass der »Neue« mit 688 Seiten etwas an
Umfang verloren hat? Auf wie viele Empfehlungen können wir uns diesmal freuen?

Corona hat auch die Genussführer-Landschaft gehörig durcheinandergewirbelt. Wir können im neuen Buch deshalb nur ca. 450 Lokale empfehlen, also etwa 100 weniger als in der letzten Ausgabe. Das hat nicht in erster Linie seinen Grund darin, dass es überdurchschnittlich viele Schließungen gegeben hätte, denn unsere Genussführer-Lokale sind im Großen und Ganzen besser durch die Krise gekommen als der Durchschnitt der Gastronomie. Aber die Verschärfung unserer Aufnahmekriterien hat uns einige Einträge gekostet, und vor allem bleiben die Neuaufnahmen diesmal weit hinter unseren Erwartungen zurück.

Wie viele neue Restaurants sind dazugekommen?

Nur rund 70 Neueinträge in vier Jahren gegenüber regelmäßigen Zuwächsen von über 100 Lokalen von Buch zu Buch im Zwei-Jahres-Rhythmus spiegeln einerseits die Vorsicht wider, mit der Wirtinnen und Köche auf die Krise reagieren: Wenig Neugründungen, kaum Experimente und Neuorientierungen. Man setzt halt in der Krise eher auf Konventionelles. Andererseits konnten unsere über 500 Tester wegen des beständigen Auf und Ab auch nicht in dem Umfang recherchieren, wie dies vor Corona der Fall war.

Was charakterisiert den Slow Food Genussführer verglichen mit anderen Gastroguides?

Mit dem Slow Food Genussführer wollen wir eine neue Form der Restaurantkritik etablieren. Es geht nicht allein um Geschmack, Textur und Komposition einzelner Speisen. Wir untersuchen, ob Wirtinnen und Köche in Einklang mit unserer Philosophie arbeiten: gut, sauber, fair. Das bedeutet: regional, saisonal, authentisch, transparent. Damit erhält Restaurantkritik einen komplexeren Sinn. Es geht bei der Beurteilung von Lokalen nicht mehr um den reinen Gaumenkitzel. Wir versuchen vielmehr, ein ganzheitliches Bild zu zeichnen. Wir wollen die Speise auf dem Tisch in ihrem Kontext sehen, im Verhältnis zu den Menschen, die die Grundprodukte erzeugen, zur kulinarischen Tradition, zu handwerklichen Verarbeitungstechniken. Wenn sich andere Gastroguides weiterhin nur auf die Beschreibung von Geschmack und Zusammenspiel der Speisen beschränken, ist dies aus unserer Sicht nicht mehr zeitgemäß.

Unterscheidet sich die am 6. September erscheinende Ausgabe von den früheren?

Der neue Genussführer stellt wieder einen Snapshot der nachhaltigen Gastronomie im Jahre 2022 dar. Durch die Corona-Krise wurde alles durcheinandergewirbelt und deshalb ist die letzte Ausgabe natürlich längst nicht mehr aktuell. Die Gefahr, mit dem alten Buch vor verschlossenen Restauranttüren zu stehen oder etwas ganz anderes vorzufinden als noch 2018 beschrieben, ist sehr groß. Wer sich das neue Buch kauft, kann sicher sein, eine aktuelle und repräsentative Bestandsaufnahme der Lokale in den Händen zu halten, die nach Slow-Food-Kriterien kochen.

Sind frühere Empfehlungen rausgeflogen, weil sie den Slow-Food-Ansprüchen nicht mehr genügen? Was sind aktuell Ausschlusskriterien für in den Lokalen angebotene Gerichte?

Wir haben bei den Aufnahmekriterien nachgeschärft und alle Lokale daraufhin überprüft, ob dort Produkte aus Qualzucht, wie Gänsestopfleber oder bedrohte Fischarten, wie Aal, aber auch intransparentes Rindfleisch aus Übersee angeboten werden. Deshalb mussten wir uns von einigen Kandidaten tatsächlich verabschieden, die trotz oft intensiver Diskussionen der Tester mit ihnen über diese Themen nicht auf solche Produkte verzichten wollen. Die allermeisten Genussführerlokale gehen aber unseren Weg mit und begrüßen, dass wir auf diesen umstrittenen Themenfeldern Flagge zeigen.

Gibt es neue Trends in der Restaurantwelt Deutschlands, die sich auch im Genussführer entdecken lassen – vielleicht interessante vegane Adressen? Lieblingsteller bzw. -gerichte?

Der Trend geht in der Tat zu einer Ausweitung des vegetarischen und veganen Angebots. Weniger Fleisch, dafür in exzellenter Qualität bei transparenter Herkunft ist eine Richtung, die auch unsere Genussführerlokale immer stärker einschlagen. Und auf deren Speisekarten finden sich nicht nur die früheren Alibi-Salate oder die notorischen Kässpätzle für Vegetarier, sondern eine enorme Breite von kreativen fleischlosen Gerichten. Da lese ich im neuen Genussführerbuch in Hannover von einem Rotkohlrisotto mit Wurzelspinat und Sauce hollandaise oder in einem Genussführerlokal bei Ingolstadt von einer Ziegenkäse-Creme-Brulée mit Kräuter-Mandelpesto. In Berlin bietet ein junger Chefkoch seinen Gästen eine Sellerie-Mille-Feuille mit Beurre blanc, Tannennadeln, Walnuss und Ponzu-Vinaigrette an und in Bremen wagt sich ein Wirt an Onsen-Ei mit Pilzhaschee, Spargel, Topinambur und Liebstöckel. Zunehmend bilden auch junge Genussführer-Köchinnen eine Liga für sich und mischen die Küchenlandschaft nicht selten mit überraschenden Kreationen auf. Andererseits ist als Folge der Pandemie auch festzustellen, dass sich manche Lokale mehr Planungssicherheit wünschen und deshalb verstärkt feste Menüs anbieten. Da solche mehrgängigen Angebote oft unsere selbst gesetzte Preisgrenze sprengen, müssen wir hier genau hinsehen. Allerdings soll eine besonders nachhaltige und handwerklich saubere Küchenleistung nicht am Preis scheitern. Hier wollen wir in Zukunft flexibler sein. Bereits in der letzten Ausgabe wurde der Regionalitätsbegriff von den Testgruppen etwas »liberaler« interpretiert. Da ich selbst zu der Münchener Testgruppe gehöre, weiß ich, dass es nicht mehr nur um den regionalen Bezug der angebotenen Gerichte geht, sondern vor allem darum, dass die verarbeiteten, möglichst saisonalen Zutaten aus der näheren Umgebung kommen sollen.

Hat auch internationale Küche den Einzug in den neuen Genussführer geschafft?

Wir wollen unseren Horizont beständig erweitern und auf veränderte Kochstile, Gästeerwartungen und Innovationen bei den Gaststätten reagieren. So haben wir in den letzten Jahren eine vorsichtige Öffnung in Richtung ausländischer Küchen vorgenommen, wenn dort auf außerordentliche Weise nachhaltig gekocht wird. Erstmalig haben wir zum Beispiel in Berlin ein indisches Restaurant in den Genussführer aufgenommen, weil die Speisen dort fast zu 100 Prozent aus Bioprodukten – noch dazu aus eigener Erzeugung – hergestellt werden. Hohe regionale Kompetenz von Köchinnen und Wirten bei den Grundprodukten soll nicht durch die ethnische Herkunft der Speisen ausgebremst werden.

In der letzten Ausgabe waren neu das »ABC der regionalen Spezialitäten« sowie die Beschreibung einiger Grundnahrungsmittel. Sind diese Kapitel wieder enthalten? Kommt etwas Neues hinzu?

Das ABC wurde wieder beträchtlich erweitert und dadurch, dass wir Stichworte nicht löschen, selbst wenn das betreffende Lokal aus dem Genussführer ausscheidet, entsteht mit der Zeit ein richtiges kleines Kompendium regionaler Speisen und Getränke. So lernen auch Menschen, die nicht aus der Rhön kommen, was eine »Krempelsopp« ist oder können darüber staunen, warum ausgerechnet in Oldenburg eine Mockturtle-Suppe als regionale Spezialität gilt. Bei den Grundnahrungsmitteln haben wir nun endlich auch für einen Artikel über Obst und seine Verarbeitungsprodukte mit Johannes Geng einen kompetenten und engagierten Autor gewinnen können.

Seit 2021 gibt es auch eine App mit ausgewählten Genussführer-Adressen von Slow Food Deutschland. Bestehen Bedenken, dass er sich in Zukunft möglicherweise schlechter verkauft?

Natürlich bestehen solche Bedenken immer, wenn ein Konkurrenzprodukt auf den Markt gebracht wird. Wir sind aber der Ansicht, dass für beide Varianten genügend Nachfrage vorhanden ist. Und es wird auch nicht wenige geben, die ihre Liebe zum Buch mit der Praktikabilität der App verbinden und auf beide Produkte gleichzeitig zurückgreifen.

Was spricht für den Kauf des Buches, was für den Kauf der App?

Ich bin von meiner ganzen Sozialisation her jemand, für den Bücher unentbehrlich sind. Den Genussführer als gedrucktes Werk in Händen zu halten, ist für mich schon ein bibliophiles Erlebnis an sich. Und natürlich haben Bücher eine stärkere Wirkung in der Öffentlichkeit und eine längere und nachhaltigere Präsenz als Computerprogramme.
Allerdings habe ich nach anfänglicher Skepsis auch die Bequemlichkeiten der App entdeckt: Man muss das Buch einfach nicht mehr überall hin mitschleppen. Und man hat Funktionen in der App, wie Umkreissuche und Routenplanung, die einem beim Reisen das Auffinden unserer großartigen Lokale sehr erleichtern. Ich bin also genau einer von denen, die beides nutzen werden. Ich freue mich schon auf die kommenden Entdeckungen.

Quelle: Interview veröffentlicht im SF Magazin 4/2022

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