Die Ziege ganz denken

So lautet das Thema, das die Chef Alliance von Slow Food für den diesjährigen Tag der nachhaltigen Gastronomie am 18. Juni gewählt hat. „Fleisch!?“, hören wir schon die ersten entsetzten Rufe, haben wir doch in den letzten Jahren so viel darüber geredet, wie wichtig es ist, unseren Fleischkonsum zu reduzieren. Richtig. Genau darüber wollen wir reden.

Seit den 1990er Jahren ist Ziegenkäse in Deutschland keine exotische Delikatesse mehr, sondern immer und überall zu haben und voll im Trend. Weil sein Ruf, streng zu riechen, sich verflüchtigt hat, weil viele Menschen Kuhmilch nicht mehr vertragen und wegen der romantischen Vorstellung, dass es bei Ziegen keine Massentierhaltung gäbe. Alle wollen Ziegenkäse. Der Denkschritt, dass Käse aus Milch gemacht wird und dass es Milch nur geben kann, wenn ein Muttertier gelammt hat, wird dabei ausgelassen. Wo Milch entsteht, entsteht auch Fleisch - denn die Hälfte der Kitze sind männlich.

„Die Nachfrage nach Ziegenkäse steigt weiter“, so Hiob Schmitt von der Ziegerei in Asendorf, „wir haben immer zu wenig“. Anders sieht es beim Zickleinfleisch aus. „Wir verkaufen es auf den Wochenmärkten, aber am erfolgreichsten als verarbeitete Ware wie Salami oder Bratwurst aus 100% Ziegenfleisch. Das ist zugänglicher, gerade für junge Menschen, die nicht genau wissen, wie sie zum Beispiel eine Keule verarbeiten sollen. Aber ein Ertragsgeschäft ist es nicht – aus steuerlichen Gründen sind diese Produkte wirtschaftlich für uns kaum anzubieten. Besser wäre, wenn wir viertel, halbe oder ganze Tiere verkaufen könnten, aber wer kann die heutzutage noch zubereiten?“ Wäre die Gastronomie eine mögliche Lösung? Hiob ist skeptisch. „Das sind schon viele auf einmal. Wir haben nur eine kleine Herde von 90 Tieren, eine Multikulti-Truppe aus fünf verschiedenen Rassen, die wir auch kreuzen, um die Milchqualität zu optimieren. 250 Kilogramm Zicklein nimmt dir keiner auf einmal ab. Und es ist natürlich auch nicht viel Muskelfleisch dran, weil es eben eine Milchziegenrasse ist“.

Die Ziege braucht Netzwerke

Eine Plattform müsste her, das wünscht sich auch Ziegenbäuerin und Netzwerkerin Schirin Oeding vom Demeterhof Michlbauer in Oberfranken. „10.000 männliche Zicklein kommen jährlich in Deutschland zur Welt, ein Großteil davon wird nach Südeuropa geliefert und endet als Hundefutter. Es müsste gebündelte Abnahmen geben, sowohl für den Einzelhandel als auch für die Gastronomie.“ Das sei nicht nur mit dem Wohl der Tiere unvereinbar; ebenso wenig für die kulinarische Tradition, die Ziegenfleisch in der Region um Nürnberg und Regensburg hat. Nur wenige Wirt*innen haben heute noch Ziegenfleischprodukte auf der Karte. „Wir unternehmen hier viele Versuche, Brücken zwischen Köchen und Landwirten zu bauen. Zum Beispiel in Form von Workshops, in denen es um das Zerlegen und die Verwendungsmöglichkeiten in der Küche geht. Aber oft finden die dann wegen der zu geringen Anzahl an Teilnehmenden nicht statt.“ Woran liegt das? Trauen sich die Köch*innen nicht? Oder fremdeln auch die Bäuer*innen mit der Gastro? „Ja“, sagt Marlene Hinterwinkler von der Genussgemeinschaft Städter und Bauern. Gemeinsam mit ihren Mitstreiter*innen ist sie Teil des Terra-Madre-Netzwerks, bringt landwirtschaftliche Erzeugnisse in die Stadt und arbeitet eng mit Slow Food München zusammen.

Die Vermarktung von Ziegenfleisch spielt hier schon seit Jahren eine Rolle. „Restaurants haben den Ruf, nur die Edelteile abnehmen zu wollen, also Rücken und Keule. Bernhard Wolf in Holzkirchen war der erste, den unsere Produzenten als Abnehmer akzeptiert haben“. Inzwischen nimmt er regelmäßig Kitzfleisch ab und verarbeitet es von Kopf bis Fuß; genauso wie Manuel Reheis, einem weiteren Pionier in Sachen Ziege. Während der Corona-Krise entstand ein neuer Geschäftszweig : Bernhard füllt Ziegengerichte in Gläschen ab, die dann in seinem Regionalladen mit Bistro und auf den Hofläden der Bäuer*innen selbst zum Verkauf stehen. „Sein Zickleinragout und die Ziegenbolognese sind zum Reinlegen!“ sagt Marlene Hinterwinkler.

Auch ‚Tierisches‘ hat Saison

Bernhard Wolf macht das, was planetengesunde Küche überhaupt erst möglich macht: er hat sich von dem starren Konstrukt der festen Speisekarte verabschiedet und kocht täglich drei verschiedene Gerichte mit dem, was gerade am schönsten ist. Nur so kann man auch außerhalb von Menüveranstaltungen radikal regional mit einem saisonalen Tier wie der Ziege arbeiten, die – sofern sie in ihrem natürlichen Rhythmus leben darf, auch nur bis November Milch gibt. Sie lebt nach den Jahreszeiten, klassisch gab es früher die Lämmer nur zu Ostern, heute wird bei größeren Herden der Bock nicht zu allen gleichzeitig gelassen, um die Arbeit etwas zu entzerren. Auf Höfen, die auch Gemüse anbauen, kann es sinnvoll sein, dass die Ablammung erst im Juli stattfindet, wenn die meiste Feldarbeit getan ist. In Großbetrieben in Frankreich und den Niederlanden gibt es inzwischen Methoden, das jahreszeitliche Empfinden der Tiere zu unterdrücken, zum Beispiel durch ganzjähriges Melken mehrere Jahre am Stück ohne Trockenzeit (so entstehen auch weniger Bockkitze) oder die Haltung bei künstlichem Licht und gleichbleibender Temperatur.

In Asien, Nordafrika und Ost- und Südeuropa ist der Verzehr von Ziegenprodukten ganz normal, als Festtagsessen aber auch im Täglichen. Warum nicht bei uns? Wo sind die Berührungsängste, besonders wenn es ums Fleisch geht? Hiob Schmitt beschreibt die verschiedenen Faktoren so: „Die Milch und auch das Fleisch bockelt nur, wenn sich der Bock am selben Ort wie die Damen aufhält - die Milch nimmt seinen Geruch auf. Das Futter spielt eine große Rolle, wir füttern zum Beispiel nur Heu und keine Silage. Und die Melkhygiene, Ziegenmilch reagiert empfindlich auf Luftkontakt und auf Mechanik, zu viele Pumpvorgänge können die Qualität mindern. Die Standzeit spielt auch eine Rolle, gerade bei kleineren Betrieben - wie oft pro Woche kommt die Molkerei, um die Milch abzuholen und wie lange wird sie unterwegs sein? Auch Kühlung unter 3 Grad schädigt den Ursprungszustand der Milch irreparabel. Wir als Hofkäserei haben den Vorteil, die Milch direkt zu verarbeiten, nur so kommt man zu bester Qualität.“ Und das Fleisch? Kitzfleisch ist mild, sehr mager und unfassbar zart, ein ehrliches Produkt, das einfach ganz besonders schmeckt.“

Und die Chef Alliance Deutschland? Die möchte am Tag der nachhaltigen Gastronomie kein „Fleisch-Spektakel“ veranstalten. Im Gegenteil: Sie möchte Bewusstsein dafür schaffen, dass mit wenig Fleisch und fantasievoll verantwortlicher Ganztierverwertung viele Menschen satt und glücklich zu machen sind, sofern pflanzliche Produkte quantitativ die Hauptrolle spielen. Wenn Tiere essen, dann so!

Autorin: Luka Lübke

Der Tag der nachhaltigen Gastronomie wurde durch die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen ins Leben gerufen. Er findet jährlich am 18. Juni statt.

Zur Übersicht über die Aktionen und Veranstaltungen zum Tag der nachhaltigen Gastronomie geht es >> hier.

Inhaltspezifische Aktionen