Kommentar: Veganer bitte absteigen – das hohe Ross lahmt

27.6.2018 – Veganer strapazieren meine Geduld schon eine Weile, von der Veganerin, die um die Mittagszeit in einem überfüllten Café nach einem längeren Verhör der Bedienung alles auf der Speisekarte für unethisch und daher unessbar erklärt, bis zu den Gästen bei uns zuhause, die meine Kochkünste an ihre Grenzen gebracht haben. Von Marianne Landzettel.

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Wesentlich besorgniserregender ist die kleine Minderheit militanter Veganer, die Landwirten und Restaurantbesitzern Morddrohungen schicken, bisher wurden Fälle in verschiedenen Ländern Europas, aus den USA und Kanada bekannt. Und dann erzählte mir ein Freund von einer Kundenanfrage, die er bearbeiten musste: Welche Maßnahmen habe seine Firma unternommen um sicherzustellen, dass der Tee-Extrakt, der in einem der Produkte verwendet wird, nicht aus einem Teegarten stamme in dem Kuhmist zum Düngen verwendet werde?

Grenze zwischen vegan und meschugge

Damit war für mich der Moment gekommen, herauszufinden, wo die offizielle Grenze zwischen vegan und meschugge verläuft: Ich bat bei der British Vegan Society um ein Interview. Mein Dank geht an Louise Davies, zuständig für Kampagnen, Richtlinien und Forschung bei der Vegan Society, die bereit war, meine Fragen in einem Telefoninterview und einer Folgemail zu beantworten. Zunächst die offizielle Definition von Veganismus: "Veganismus ist ein Lebensstil, der bei Lebensmitteln, Kleidung und für jeglichen anderen Zweck versucht, soweit als möglich und machbar, alle Formen der Ausbeutung von und Grausamkeit gegen Tiere auszuschließen."1

Das klingt gut, und wenn es um Tierhaltung in der industriellen Landwirtschaft geht kann ich nur zustimmen: Es ist grausam, Milchkühe zu züchten, die kaum stehen können, weil ihre Euter zu dick sind. Es ist grausam, Schweine auf so engem Raum zu halten, dass sie sich nicht bewegen können, nichts zum Spielen haben, und die nur einen Gitterrost von der giftige Gase absondernden Jauchelagune unter dem Stall trennt. Es ist grausam, Rinder zu Tausenden in sogenannten CAFOs2 zu mästen oder die Schnäbel von Hennen zu kappen.

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Biodynamische Landwirtschaft ohne Tiere ist unmöglich

Aber es gibt eine andere Art der Landwirtschaft, und es gibt Millionen von Landwirten weltweit, die sich um die Qualität der Böden und das Wohlbefinden ihrer Tiere kümmern und gute, gesunde Nahrungsmittel produzieren. Ich habe viele Nutztierhalter kennengelernt, in den USA, Großbritannien und verschiedenen anderen europäischen Ländern. Sie alle taten ihr Möglichstes, damit ihre Tiere nur "einen schlechten Tag" in einem ansonsten guten Leben haben – ihren letzten. Diese Landwirte arbeiten mit der Natur, sie sehen Tiere als einen integralen Teil des natürlichen Lebenskreislaufes. Tiere produzieren Dung und Mist, beides nährt den Boden, auf dem Pflanzen wachsen, die ihrerseits Tiere und Menschen ernähren. Deshalb ist, per Definition, biodynamischer Landbau ohne Tiere, insbesondere Kühe, unmöglich.

Veganer lassen dieses Argument nicht gelten: "In einer idealen Welt würden wir es vorziehen, wenn keine Tiere, auch keine Bienen, für die Herstellung von Nahrungsmitteln genutzt würden", sagt Louise Davies.

Keine Mandelmilch ohne Bienen

Das Problem, das ich mit dieser Haltung habe, ist, dass Landwirtschaft ohne Tiere nicht funktioniert, nicht einmal in einer idealen Welt. Wichtigstes Beispiel: Wir brauchen Insekten für die Bestäubung. Veganer sind gegen das Halten von Bienen, bestätigt Louise Davies, aber die Vegan Society zertifiziert Mandelmilch als veganes Produkt. 80 Prozent der Weltmandelproduktion kommt aus dem Central Valley in Kalifornien. 2017 wurden in Kalifornien auf mehr als einer halben Million Hektar Land Mandeln angebaut.3 Für die Befruchtung von einem Hektar Mandeln werden vier bis fünf Bienenvölker gebraucht, was bedeutet, dass in jedem Frühjahr etwa zwei Millionen Bienenvölker ins Central Valley gebracht werden müssen. Viele werden über tausende von Kilometern transportiert.

Weil Mandeln als Monokulturen angebaut werden, gibt es nichts, was die Bienen ernähren könnte, wenn die Mandelblüte vorbei ist. Also werden die Kästen auf Tieflader gepackt und nach Norden zu den Apfel- und Birnenplantagen in Oregon und Washington gefahren, oder nach Maine und New York im Osten. Bienen regelmäßig über tausende von Kilometern zu transportieren, ist einer der wesentlichen Faktoren, die zum Bienensterben (durch CCD, Colony Collapse Disorder) beitragen, das haben eine Reihe von Untersuchungen klar ergeben.

"Wir leben in einer unvollkommenen Welt"

Wie kann dann Mandelmilch aus Kalifornien ein veganes Produkt sein? Hier die Antwort von Louise Davies: "Dies ist ein schwieriges Problem und stellt eine Herausforderung dar, aber wir leben in einer unvollkommenen, nicht-veganen Welt mit einer begrenzten Auswahl an Lebensmitteln, die wirklich ohne Tiere hergestellt werden. Bei der Vegan Society haben wir beschlossen, für die Besiegelung den Strich bei tierischen Inhaltsstoffen und Tests an Tieren zu ziehen. Unsere rigorosen Testverfahren stellen sicher, dass kein Produkt, das das "vegan-Logo" trägt, tierische Produkte oder Derivate enthält oder an Tieren getestet wurde. Landwirtschaftliche Produktionsmethoden oder die assoziierte Nutzung von Tieren berücksichtigen wir derzeit nicht."

Scheinheilige Argumente

Mit Verlaub: Diese Antwort ist nicht gut genug, sie ist scheinheilig. Warum? Dass Bienen industriell genutzt werden, ist nicht nur weithin bekannt, es ist obendrein unnötig. In einem diversifizierten landwirtschaftlichen System können Mandeln angebaut werden, ohne dass dabei Bienen geschädigt werden. Bienen in stationären Kästen4 und Solitärbienen können Mandelblüten bestäuben und die Blüten anderer Feldfrüchte als Nahrungsquelle nutzen. Aber natürlich würde ein solches diversifiziertes System nicht die unglaublichen Mengen von Mandeln erzeugen, die heute vermarktet werden, und nachhaltig produzierte Mandeln wären teurer. Für Veganer ist es außerordentlich "praktisch", die landwirtschaftlichen Produktionsmethoden einfach außer Acht zu lassen: Wenn auch die Produktionsmethoden die veganen Kriterien "ohne Ausnutzung von und Grausamkeit gegen Tiere" erfüllen müssten, könnte ein größerer Teil der weltweit produzierten Äpfel, Birnen und Beeren nicht mehr als vegan bezeichnet werden.

Hummel tot – Tomate vegan

Und ähnliches gilt für Gemüse aus Gewächshäusern – Tomaten und andere unter Glas gezogene Gemüse werden überwiegend von industriell erzeugten Hummeln bestäubt. Diese Hummeln werden exklusiv für die Nutzung in Gewächshäusern gezüchtet, man bestellt sie im Internet und ein paar Tage später kommen die Tiere per Post in kleinen Kartons, die man nur noch in ausreichender Zahl im Gewächshaus verteilen muss. Am Ende der Saison sind die industriell produzierten Hummelkolonien tot, aber das Gemüse ist erntereif und kann als "vegan" verkauft werden.

Der Kommentar der Vegan Society? "Wir befürworten den Verzehr von saisonalen Lebensmitteln, die im Freiland angebaut wurden, jedoch betrachten wir Gewächshausprodukte nicht als nicht-vegan, in der Annahme, dass das Produkt selbst keine tierischen Anteile enthält oder an Tieren getestet wurde".

Veganer der nördlichen Klimazonen, Sie sind herzlich eingeladen, sich von Kartoffeln, Karotten, Kohl und Steckrüben zu ernähren, oder was sonst im Winter gedeiht, und dann bis Juni und der neuen Ernte zu fasten – aber bitte bezeichnen Sie Gewächshausgemüse nicht als "vegan".

Britische Veganer akzeptieren den Einsatz von Pestiziden

Produktionsmethoden können verändert werden, sagt Louise Davies und erzählt mir von Tolhurst Organic, einer Biofarm auf der es keine Tiere gibt. Ich kenne Iain Tolhurst, er und sein Team produzieren phantastisches Gemüse und verwenden keinen tierischen Mist. Bodenfruchtbarkeit kann durch andere Methoden hergestellt und aufrechterhalten werden, z. B. durch Zwischensaaten, Kompostieren und die Verwendung von Komposttee. Aber was ist mit der Schädlingsbekämpfung?

Wenn, wie Louise Davies sagt, kein Veganer ein Tier mehr wertschätzt als ein anderes, heißt das, dass wir den Salat den Schnecken überlassen und Mäuse und Ratten sich in jedem Getreidespeicher bedienen können? Hier kommt die "soweit als möglich und machbar"-Klausel zum Tragen, wird mir gesagt. "Wir akzeptieren, dass der Gebrauch von Pestiziden üblich ist und diese komplett zu vermeiden ist nicht praktikabel. Wir würden die Erforschung möglicher Alternativen begrüßen. (...) Veganer behaupten nicht, perfekt zu sein, wir versuchen unser Bestes, so mitfühlend wie möglich zu leben."

Das ist eine individuelle Entscheidung und eine Position, die ich respektiere. Aber sehr oft bedeutet vegan zu sein, moralisch auf dem hohen Ross zu sitzen und von dort zu predigen, während man gleichzeitig nur handverlesene Fakten zulässt. Dazu gehört ein Produkt als "vegan" zu definieren, wenn es keine tierischen Zutaten enthält und nicht an Tieren getestet wurde, die Produktionsmethoden jedoch zu ignorieren.

"Tausende Leben sind der Preis von Landwirtschaft"

Tatsachen verschwinden nicht, wenn Veganer die Augen schließen und sich auf eine willkürliche Definition einigen. Andrew French schreibt in der Mai-Ausgabe des US-Magazins für Biolandbau, Acres U.S.A.: "Wenn Du Fleisch isst, beendest Du ein Leben. Wenn Du kein Fleisch isst, beendest Du trotzdem viele Leben. In einem Feld voller Getreide oder Bohnen werden innerhalb einer Saison tausende wenn nicht zehntausende Leben beendet. Um unser Getreide, Bohnen und Gemüse zu produzieren, töten wir täglich hunderte Kilo wirbel- und wirbellosen Lebens in tausenden von Feldern. Das ist der Preis der Landwirtschaft."

Die Landwirte und Bauern dieser Welt, die nachhaltig arbeiten, ihr Ackerland fruchtbar erhalten, sich um das Wohlergehen ihrer Tiere kümmern, indem sie ihnen Zugang zu Weiden, Sonnenschein, gutem Futter, ausreichend Platz, Gesellschaft und was sie sonst brauchen, gewähren, diesen Landwirten und Bauern, die produzieren, was ich esse, haben meinen Respekt und meine Dankbarkeit.

Bilder von oben nach unten:
1) Rare Alternative – Bienen auf Kaktusblüten im Central Valley, Kalifornien. Die Kakteen stehen neben einem Lagerhaus am Rande einer Mandelplantage.
2) Jerseys in Fairfield, Iowa

© M. Kunz (2)

Teil 2 des Artikels der Autorin zum Thema "Vegane Ernährung" ist am 3. Juli 2018 erschienen:
Warum Landwirtschaft Tierhaltung braucht

1 Alle in diesem Artikel verwendeten Zitate, inklusive aller aus dem Interview mit Louise Davies, wurden von der Autorin übersetzt.

2 CAFO steht für concentraded animal feeding operation und ist definiert als eine Einheit mit 1000 oder mehr Tieren

3 www.westernfarmpress.com/tree-nuts/california-almonds-reach-124-million-acre-milestone

4 oder mit regional begrenzter Migration

 

Mehr Informationen:

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