Hungrig nach Gerechtigkeit

17.04.2023 - Ein Drittel der Menschheit hat keinen regelmäßigen Zugang zu ausreichender Nahrung, so lautet die jüngste ernüchternde Bilanz der Vereinten Nationen. Doch Hunger und Unterernährung dürfen nicht länger mit reiner Krisenintervention bekämpft werden. Ernährungsgerechtigkeit bedeutet viel mehr, erklärt Susanne Salzgeber.

(c) Paola Viesi.jpeg»Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern.« So lautet das zweite der 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung in der Welt, der sogenannten Sustainable Development Goals, die die Vereinten Nationen 2015 formuliert und verabschiedet haben. Ein hoffnungsvoller Fahrplan für die Zukunft, an dem die Weltgemeinschaft ihr Tun und Handeln ausrichten sollte. Bis 2030, so die Vision, sollen die Ziele erreicht sein.

Setzen wir uns Ziele, um sie nicht einzuhalten? Und sind Menschenrechte dazu da, um verletzt zu werden? Das Recht auf angemessene Nahrung ist ein Menschenrecht. Von einer Umsetzung des Menschenrechts auf Nahrung und dem Ziel Zero-Hunger sind wir leider weit entfernt. Im Jahr 2021 hungerten mehr als 820 Millionen Menschen – 150 Millionen mehr als noch 2019. Damit hungert weltweit etwa jeder zehnte Mensch. »Zudem war 2021 fast ein Drittel der Menschheit – enorme 2,3 Milliarden Menschen – von mäßiger oder schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen, hatte also keinen regelmäßigen Zugang zu ausreichender Nahrung«, heißt es ernüchtert im UN-Bericht 2022, der sich mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung befasst. Das waren fast 350 Millionen Menschen mehr als Anfang 2020.

Produziert wird genug, nur mit der gerechten Verteilung klappt es nicht. Außerdem landet vieles von dem, was auf den Feldern heranwächst, zumindest in den Industriestaaten nicht auf dem Teller, sondern im Trog oder im Tank. In Deutschland beispielsweise werden knapp 60 Prozent des angebauten Getreides als Tierfutter verwendet, knapp 12 Prozent kommen für die Erzeugung von Energie zum Einsatz. In den Vereinigten Staaten wurden 2021 sogar über 35 Prozent der Maisernte und über 40 Prozent des Sojaöls für die Biokraftstoffproduktion verwendet. Weltweit werden jährlich 31 Millionen Tonnen Pflanzenöl in Biodiesel umgewandelt. Umgerechnet in Kalorien entspricht das der Menge, die benötigt wird, um mehr als 320 Millionen Menschen pro Jahr zu ernähren, so das International Food Policy Research Institute (IFPRI).

Wenn Lebensmittel unerschwinglich werden

2022 haben durch die Folgen des Kriegs gegen die Ukraine noch mehr Menschen gehungert – mindestens 50 Länder beziehen laut UN wenigstens 30 Prozent ihres Weizens aus der Ukraine oder aus Russland, viele afrikanische und am wenigsten entwickelte Länder sogar mehr als 50 Prozent. Auch diese Krise legt wieder einmal offen, wie wenig resilient, wie unsicher und ungerecht unser globales Ernährungssystem ist. Instabile Lieferketten, Ernteausfälle durch vom Klimawandel bedingte Naturkatastrophen und der horrende Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise treffen vor allem die Menschen am stärksten, die eh schon von Armut betroffen sind. »Bereits vor der Ukraine-Krise sorgten die Marktbedingungen, hohe Energie- und Düngemittelpreise und andere Faktoren für hohe internationale Nahrungsmittelpreise. Im März 2022 lagen die globalen Nahrungsmittelpreise um fast 30 Prozent über denen des Vorjahrs und damit auf einem historischen Höchststand«, heißt es in dem oben genannten UN-Bericht. Auch wenn die Preise inzwischen wieder etwas nachgegeben haben: Die weltweite Ernährungsunsicherheit droht sich zu verschärfen. Für viele Menschen sind Lebensmittel schlicht und einfach unerschwinglich.

»Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.« (Mahatma Gandhi)

Geld allein macht noch nicht satt, aber ohne Geld bleibt man garantiert hungrig – vor allem, wenn man sich das eigene Essen nicht selbst anbauen kann, weil man keinen Grund und Boden besitzt oder kultivieren darf.

Deshalb umfasst die Forderung nach globaler Ernährungsgerechtigkeit viel mehr als das Sicherstellen von ausreichenden Lebensmittelimporten. Und auch mehr als das Zahlen fairer Preise für Kaffee, Schokolade oder Bananen an Bäuer*innen oder Genossenschaften, die für uns solche Genussmittel anbauen. Es geht um eine Ernährung, die gut, sauber und fair für alle ist – und zwar genau dort, wo die Menschen wohnen. Um eine Stärkung der regionalen Landwirtschaft und Wirtschaft überall auf der Welt. Um artenreiche Kulturen, soziale Gerechtigkeit und eine Vision von Nachhaltigkeit im Ernährungssystem weltweit. In einem Satz: Ernährungsgerechtigkeit bedeutet, dass Zugang und faire Teilhabe auf allen Ebenen gewährleistet sein muss – beim Anbau, der Verarbeitung, dem Handel bis hin zum Konsum.

Selbstversorgungsrate stärken

Der Weg dahin ist noch weit. Für die globale Ernährungssicherung, den Zugang aller Menschen zu Nahrung – also in gewisser Weise auch für eine Ernährungsgerechtigkeit – ist seit 1945 die FAO zuständig, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, die von den Beiträgen der Länder finanziert wird. Mit mäßigem Erfolg. Die Welthungerhilfe forderte im Sommer 2022 die G7-Staaten auf, die Hungerbekämpfung endlich strukturell anzugehen und nicht immer nur auf Krisen zu reagieren. »Hungerbekämpfung kann nur gelingen, wenn wir die Produktion und den Konsum von Nahrungsmitteln weltweit verändern«, so Anne-Catrin Hummel, Senior Policy Advisor der Welthungerhilfe. Dafür bräuchten Menschen unter anderem einen fairen Zugang zu Saatgut und Land. Um die Selbstversorgungsrate im globalen Süden zu stärken, müsse das entwicklungspolitische Engagement für ländliche Regionen ausgebaut werden. Gleichzeitig stünden die von Hunger betroffenen Länder in der Pflicht. Das vor knapp 20 Jahren von der afrikanischen Staatengemeinschaft in der Maputo-Erklärung festgehaltene Ziel, zehn Prozent der nationalen Haushalte für die Entwicklung der Landwirtschaft und eine damit einhergehende verbesserte Ernährungssicherheit zu investieren, sei noch lange nicht erreicht.

Selbst die überzeugten Globalisierungs- und Markt-Apologeten des Weltwirtschaftsforums Davos warnten 2023 vor einer wachsenden Kluft zwischen reichen und armen Ländern. Global gerechte Lösungen sind aus Davos eher nicht zu erwarten. Hier trafen sich bislang diejenigen, die durch den Abbau von Handelsschranken wie Einfuhrzölle, durch den IWF, die Weltbank und Investitionsförderung von westlichen Unternehmen in den Ländern des globalen Südens die Globalisierung vorantrieben. Das führte zwar zu mehr Wachstum in vielen Ländern und Profiten bei den Konzernen, diente allerdings nicht der Ernährungssicherheit für die ganze Weltbevölkerung.

In der Zivilgesellschaft gibt es aber Initiativen, die lokale Märkte stärken und für mehr Ernährungssouveränität sorgen. So engagieren sich bei Slow Food über 1 Million Aktivist*innen, die in mehr als 10.000 Projekten in 160 verschiedenen Ländern daran arbeiten, allen Menschen gute, saubere und faire Lebensmittel zu garantieren. Ernährungssouveränität und -gerechtigkeit liegen ganz nah beisammen. »Ernährungssouveränität ist das Recht der Völker auf gesunde und kulturell angemessene Lebensmittel. Sie stellt die Bedürfnisse derer, die Lebensmittel produzieren, vertreiben und konsumieren, in den Mittelpunkt der Ernährungssysteme und -politik – und nicht die Anforderungen der Märkte und Unternehmen«, sagt Marta Messa vom Slow-Food-Büro Brüssel. Ernährungssouveränität beinhaltet für Slow Food aber auch einen transparenten Handel, der allen Völkern gerechte Einkommen garantiert sowie das Recht der Konsument*innen, autonome Entscheidungen bei Lebensmitteln und Ernährung zu fällen. Außerdem stellt Ernährungssouveränität sicher, dass die Rechte zur Nutzung und Bewirtschaftung von Land, Territorien, Gewässern, Saatgut, Viehbestand und Biodiversität in den Händen derjenigen liegen, die Lebensmittel erzeugen.

Nina Wolff, Vorsitzende von Slow Food Deutschland, fordert eine ganzheitliche Ernährungspolitik, um überhaupt in die Sphären einer Ernährungsgerechtigkeit zu kommen: »Wir erzeugen Lebensmittel auf eine Art, die unser Überleben gefährdet. Unser Ernährungssystem belastet Klima, Ökosysteme und soziale Beziehungen. Die Politik muss endlich angemessene Rahmenbedingungen für die Herstellung und für unsere Ernährungsweise setzen.« Das Bündnis #ErnährungswendeAnpacken, zu dem u.a. Slow Food, die Ernährungsräte und das Institut für Welternährung gehören, begrüßt, dass sich die Bundesregierung in ihren Eckpunkten für eine Nationale Ernährungsstrategie zugunsten einer pflanzenbasierten Ernährung ausspricht. Sie gilt als zentraler Hebel für das Erreichen globaler Umwelt- und Nachhaltigkeitsziele. Auch die Bekämpfung der Ernährungsarmut bekommt in dem Papier einen hohen Stellenwert.

Projekte von Slow Food zur Ernährungsgerechtigkeit

Die so genannten Presidi sind konkrete Beispiele einer neuen nachhaltigen Landwirtschaft. Presidi sind Slow-Food-Gemeinschaften, die sich tagtäglich vor Ort für den Erhalt einheimischer Nutztierrassen, lokaler Obst- und Gemüsesorten, Brot, Käse, Wurstwaren, Süßigkeiten und mehr einsetzen – und das auf fünf Kontinenten. Ein Presidio – das italienische Wort bedeutet »Schutzraum«– versteht sich als Netzwerk von Engagierten aus Landwirtschaft, Lebensmittelproduktion, Handel und Wissenschaft sowie von bewussten Verbraucher*innen. Ins Leben gerufen wurde das Presidio-Projekt im Jahr 2000 von der Slow Food Stiftung für biologische Vielfalt, um Veränderungen mitzugestalten. Insgesamt 643 Presidi in 79 Ländern engagieren sich derzeit für die Weitergabe traditioneller Produktionstechniken und des Handwerks, sie kümmern sich um die Umwelt und sie werten Landschaften, Orte und Kulturen auf. Mit dem Erhalt der lokalen Lebensmittelvielfalt wird in vielen Ländern auch die Ernährungssouveränität unterstützt und vorangebracht – und die Abhängigkeit von den drei weltweit vorherrschend verzehrten Pflanzen Weizen, Reis und Mais verringert.

Zum Aufbau regionaler Kreisläufe und Wertschöpfungsketten sind von Slow Food International vor fast 20 Jahren die Earth Markets ins Leben gerufen worden. Sie sollen kleinen Erzeuger*innen und Lebensmittelhandwerker*innen die Möglichkeit geben, ihre Produkte direkt zu verkaufen. Wer hier einkauft, weiß, wer die Sachen angebaut bzw. produziert hat und für deren Qualität einsteht. Die Produkte sind lokal, frisch und saisonal; die Preise für beide Seiten fair. Es sind Orte, an denen man qualitativ hochwertige Produkte kaufen kann, aber auch Orte, an denen Gemeinschaften gebildet werden, die Austausch und Bildung ermöglichen. Mittlerweile gibt es 88 Earth Markets in 30 Ländern.

Gärten in Afrika ist ein weiteres Slow-Food-Projekt, das 2010 initiiert wurde, für die Ernährungssouveränität von über 50000 Menschen in 35 afrikanischen Ländern sorgt und dabei ein wertvolles Netzwerk zur Ernährungsbildung geschaffen hat. Nachdem das ursprüngliche Ziel des Projekts von 1 000 Gärten bereits Ende 2013 erreicht worden war, hat sich Slow Food entschieden, die Initiative mit Engagement und Entschiedenheit fortzusetzen. Aktuell gibt es rund 3 600 Gärten. Durch das Anlegen der Gärten in afrikanischen Schulen und Dörfern lernen junge Menschen, wie wichtig die biologische Vielfalt und der Zugang zu frischem und gesundem Essen sind. Sie lernen den Wert ihres Landes und ihrer Kultur kennen. Die Gärten und die in ihnen arbeitenden Frauen und Männer stehen für einen Wandel, der auf der Wiederentdeckung von traditionellem Essen und Wissen basiert, in einer sozialen, das Land und die Umwelt respektierenden Wirtschaft. Sie können die Richtung zu einer alternativen Entwicklung weisen, bei der die Lebensmittelherstellung wieder an die lokale Gesellschaft und das Umweltbewusstsein angebunden ist. Das Projekt birgt enormes Potential für die Mitgestaltung einer zukunftsfähigen Ernährung und hält viele Lösungen für aktuelle Krisen wie Klimawandel, Biodiversitätsverlust und den Mangel an Ernährungssouveränität bereit. Außerdem stärkt und festigt es das Slow-Food-Netzwerk in afrikanischen Ländern.

Quelle: Erschienen im SF Magazin 2/2023. Die aktuelle Ausgabe des Magazins finden Sie immer unter: https://www.slowfood.de/was-wir-tun/zum-nachlesen/slowfoodmagazin/inhalt

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