Futtermittelskandal_Petrini_Stellungnahme

Lebensmittelunsicherheit

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Foto: Alberto Peroli

Ein Stellungnahme von Carlo Petrini, dem internationalen Präsidenten von Slow Food, anlässlich des aktuellen Futtermittelskandals in Deutschand. Der Originaltext ist erschienen in der italienischen Tageszeitung La Repubblica. Übersetzung: Georges Desrues.

20.1.2011 - In Deutschland wurden gerade drei tausend Tonnen giftiges Tierfutter beschlagnahmt. Doch wie viele weitere tausend Tonnen davon sind wohl quer über die Zuchtbetriebe Europas verteilt? Und wie stark sind außer Eiern wohl schon Milch und Rindfleisch von der verfaulenden Infektion betroffen? Und warum eigentlich wurden nach den ersten gefährlichen Fällen von dioxinvergifteten Eiern und Hühnern im März 2010 nicht sofort Maßnahmen eingeleitet? Diese und weitere Fragen werden die deutsche Behörden einer wütenden Öffentlichkeit beantworten müssen.
In der Zwischenzeit verlangen die verschiedensten Gemeinschaften von ihren Regierungen Garantien und Sicherheiten – und bekommen natürlich stets dieselben Antworten: „Seid beruhigt: Wir führen äußerst seriöse Kontrollen durch; unsere Produkte sind Markenprodukte und durch und durch nachverfolgbar. Alles ist und bleibt vollkommen sicher.“ Wie ein Ei dem anderen gleichen sich da die Stellungnahmen der Regierungen Italiens, Frankreichs, Spaniens und zuletzt Großbritanniens: „Diesmal hat es die Deutschen erwischt. Welche Schande! Wir sind da natürlich viel genauer und viel seriöser.“ Dabei scheinen sie aber etwas zu vergessen: Die Lebensmittelskandale der letzten Jahre haben kein einziges europäisches Land verschont. Was jetzt kommt, sind einerseits die üblichen Gerichtsverfahren und andererseits Versammlungen auf europäischer Ebene, die wieder einmal zu schärferen Schutz- und Eingreifmaßnahmen führen sollen. In der Zwischenzeit wird unser Ernährungssystem eine zusätzliche Erschütterung abbekommen haben und irgendeine weitere verdächtige Krankheit wird vorerst erneut ignoriert werden, um nur keine Panik auszulösen – und wir alle dürfen uns schon auf die Fortsetzung dieser unendlichen Geschichte freuen.
Ich denke, dass es von nun an kaum noch einen Unterschied gibt zwischen dem verbrecherischen Akt einer kriminellen Firma wie Harles und Jentzsch, die wissentlich mit Dioxin verseuchte Tierfette in Futtermittel mischt, und dem kläglichen Zustand unserer Umwelt, der zunehmend zu einer Bedrohung für die Sicherheit unserer Lebensmittel wird. Auf der einen Seite überführte Kriminelle – und auf der anderen ein vermeintlich effektives Produktionssystem, das die Luft verpestet, das Wasser verschmutzt und die Fruchtbarkeit der Böden zerstört. Das sind bloß zwei Seiten derselben Medaille. Die Gefährdung unserer Gesundheit und Zukunft entsteht aus der eigentlichen und schwersten Krankheit unserer Gesellschaft: der Profitgier. Ein koreanisches Sprichwort besagt, dass der weise Bauer, wenn er drei Bohnen erntet, die Erste für sich behält, die Zweite mit der Gemeinschaft teilt und die Dritte an die Erde zurückgibt. Zu behaupten, dass alle drei Bohnen heute nicht mehr genügen, um unsere Gier zu stillen, wäre ein Understatement.
Und die Natur wird es uns mit Zinsen zurückzahlen. „Die Republik schützt die Gesundheit als Grundrecht des Einzelnen und im Interesse der Gemeinschaft“. So steht es im Artikel 32 der italienischen Verfassung. Jeden Tag wird gegen diesen Artikel durch zunehmende Umweltverbrechen verstoßen. In weiten Teilen Italiens haben die tierischen Exkremente aus der industriellen Tierhaltung die erste und zweite Schicht unseres Grundwassers verseucht. Was haben wir von der Qualität unseres Schinkens und von den strikten Hygienevorschriften, unter denen er hergestellt wird (es sind die strengsten Europas), wenn er von Schweinen stammt, deren Exkremente das Grundwasser und damit unsere Felder zerstören? Die Verbindungen zwischen Essen, Umwelt, Tierhaltung, Pflanzenzucht, Gesundheit, Wohlstand und Wirtschaft sind so eng verflochten, dass es keiner spezialisierten, sondern einer gesamtheitlichen Betrachtungsweise bedarf. Damit es dazu kommt, müssen wir auf detaillierte Auskunft über den gesamten Herstellungsprozess bestehen. Fast möchte ich sagen: weniger Vorschriften – dafür mehr Transparenz.
Die kollektive Panik lässt sich nicht durch Schweigen vermeiden, oder durch die Beschwichtigungen irgendeines Politikers, sondern durch eine starke Mobilisierung der aktiven Bürger, die danach trachten, viel mehr Koproduzenten als Konsumenten zu sein. Daran sollten wir denken, wenn sich die mächtigen Lobbys der Lebensmittelindustrie in den europäischen Institutionen unsere Gleichgültigkeit zum Komplizen machen, um den Informationsfluss zu stoppen und die Transparenz zu verhüllen. Und wenn sie zu vertuschen versuchen, was in ihrem Tierfutter steckt, woher sie ihre Rohstoffe beziehen, mit welchen Techniken und Konservierungsmethoden sie arbeiten. Es ist keine Zeit mehr, um das Wissen darüber anderen zu überlassen; der Moment ist gekommen, um zu sagen: all das wollen wir wissen – und wir wollen es jetzt und sofort wissen.

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