Kommentar Carlo Petrini TTIP

26.5.2014 - Vergangene Woche ging die fünfte Verhandlungsrunde zur transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen der Europäische Union und den USA zu Ende. Das Abkommen steht unter anderem wegen weitreichender Konsequenzen für die Bürger Europas im den Bereichen Verbraucherschutz in der Kritik. Stichwort: Chlorhühnchen. Lesen Sie hier einen Kommentar von Carlo Petrini, dem internationalen Präsidenten von Slow Food.

TTIP: Das Ende der freien Entscheidungen

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Stellen Sie sich vor: Sie geben dem Nachbarn die Vollmacht für die Wohnungseigentümerversammlung, und dann erfahren Sie, wenn es schon zu spät ist und der Bagger vor dem Haus steht, dass er und die anderen beschlossen haben, das Haus abreißen zu lassen. Diese Vorstellung ist nützlich für die Erfassung einer anderen Frage: Kann Demokratie jemanden berechtigen, Entscheidungen zu treffen, die alle anderen auch interessieren, jedoch ohne dass die Wähler ihre Meinung dazu äußern können?

Die Regierungen der modernen Länder sind unsere Delegierten bei der globalen Wohnungseigentümerversammlung. Wenn sie etwas beschließen, was der Mehrheit der Bürger nicht gefällt oder deren Recht beeinträchtigt, für sich und ihre Kinder freie Entscheidungen zu treffen, sollte es möglich sein, diese Entscheidungen zu diskutieren. Dafür müssten sie aber der Öffentlichkeit bekannt sein.

Deswegen bereitet mir Sorgen, wie sich unsere tägliche Ernährung verändern könnte. Heimlich und ohne öffentlichen Konsens soll dem Transatlantischen Freihandelsabkommen Europa-USA (TTIP) zugestimmt werden. Es wird als außerordentliche Chance für das Wirtschaftswachstum gepriesen, denn es soll zwischen Europa und den USA jene Handelsbegünstigungen schaffen, von denen, mythologisch gesehen, alle Beteiligten profitieren. Ich sage "mythologisch", weil der Nobelpreisträger für Wirtschaft Joseph Stiglitz klar geschrieben hat, dass die Theorie, nach der es allen besser geht, wenn sich die wohlhabendsten Schichten der Gesellschaft bereichern, einfach eine Lüge ist.

Es wäre schön, wenn das TTIP gemeinsame Standards für die Lebensmittelsicherheit festlegen würde, wenn es landestypische Produkte und deren Herkunftsregionen schützen würde. Leider wissen wir, dass es nicht so sein wird. Profitieren davon werden wie üblich wenige Global Player, auf Kosten des Willens vieler Bürger, die weit weg von der Spitze der Pyramide leben und arbeiten. Die Delegationen der Europäischen Kommission und der Vereinigten Staaten tagen nicht zufällig unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

"TTIP ist die Geburt einer neuen Weltordnung, in der die Konzerne regieren."

Die einzige Information, die durchgesickert ist, betrifft eine Art transatlantischen Handelsgerichtshofs, der entstehen soll. Dieser wird keiner politischen Behörde unterstellt sein und wie ein Schiedsgericht auf hohem Niveau funktionieren. Bei ihm könnten die großen Unternehmen Sanktionen gegen Staaten beantragen, die versuchen, die Tragweite des Abkommens durch im eigenen Land beschlossene Gesetze einzuschränken. Das muss uns allen klar werden: Wenn multinationale Unternehmen mit dem Einverständnis jenes Gerichtshofs gegen die einzelnen Staaten angehen können, selbst wenn diese gemäß ihrer Verfassungen und ihrer demokratischen Entscheidungsprozesse agieren, dann bedeutet dies die Geburt einer neuen Weltordnung!

Immer wieder muss ich bezweifeln, dass die politischen Institutionen, die über unsere grundlegenden Ernährungsbedürfnisse Entscheidungen fällen, dies wirklich in unserem Interesse tun. Sie scheinen diese Bedürfnisse als untergeordnet zu betrachten. Ich frage mich, warum Hersteller zum Beispiel nicht gezwungen werden können, Produkte entsprechend zu kennzeichnen, wenn diese mit Einsatz von Hormonen oder genetisch veränderten Organismen (GMO) erzeugt worden sind? Warum wird die Wissenschaft als Vorwand benutzt und dem Verbraucher nicht erlaubt, eine bewusste Entscheidung zu treffen? Wie schon in der Vergangenheit mit der Schokolade geschehen, die auch mit anderen Fetten als Kakaobutter hergestellt werden durfte, bringt man Lebensmittel auf den Markt, die anders sind, als die, die wir kennen. Das wäre ja noch zulässig, man zwingt aber die Hersteller nicht dazu, ihr Produktionsverfahren offenzulegen, so dass die Verbraucher frei entscheiden können. Warum habe ich einerseits die Möglichkeit glutenfrei zu essen, kann aber auf der anderen Seite keine Produkte vermeiden, die mit Einsatz von Hormonen und GMO-Pflanzen erzeugt worden sind?

Ich fürchte sehr, dass die Antwort mit den selben Interessen zu tun hat, die zur Entscheidung geführt haben, die Verhandlungen zum TTIP hinter verschlossenen Türen zu halten, ohne öffentliche Beteiligung und unwiderruflich.

Der Text ist am 27. Mai 2014 im aktuellen Slow Food Magazin 3/2014 erschienen.

Übersetzung: Elisabetta Gaddoni
Redaktion: Veronica Veneziano

Foto: Carlo Petrini während einer Rede in Berlin im Januar 2014. | © Janne Tervonen

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Weitere Informationen:

Positionspapier deutscher Nichtregierungsorganisationen zum geplanten Freihandels- und Investitionsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA), genannt "Transatlantic Trade and Investment Partnership" (TTIP). Titel: „TTIP“ Nein Danke! Transatlantische Partnerschaft geht anders." Das Positionspapier wurde unter anderem von Slow Food Deutschland e. V. gezeichnet. (2. Auflage, März 2014)

Positionspapier deutscher Nichtregierungsorganisationen zum TTIP

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