Offener Brief an Bundesminister Schmidt zur Milchkrise und Milchversorgung

Offener Brief – Berlin, 02. Juni 2016

Sehr geehrter Herr Minister,

sehr geehrter Herr Schmidt,

Die große Milchkrise und der dadurch beschleunigte tiefe Strukturwandel in der Milcherzeugung erfüllt auch uns Verbraucher mit Sorge. Sicher: eine flächendeckende Milchversorgung ist gegeben – und dies momentan zu Tiefstpreisen. Doch um welchen sozialen, ökologischen und das Tierwohl betreffenden Preis? 

Was fehlt ist eine stärkere Produktdifferenzierung, was fehlt sind regionale und frische Milchprodukte und damit die Möglichkeit für die Erzeuger, den wirklichen Wert des Lebensmittels Milch für den Verbraucher erfahrbar zu machen und so wiederum auch ihre  Arbeitsleistung angemessen zu bepreisen. Auf dem Milchgipfel am Montag, den 30. Mai, in Berlin haben Sie genau dies herausgestellt und den verstärkten Einstieg der Branche in Qualität, Regionalität und Produktdifferenzierung als einen möglichen Weg aus der Überproduktion und der Preiskrise beschrieben (FAZ 31.5.2016 „Milchgipfel vereinbart Nothilfe und Branchendialog“).

Verbraucher wollen gute, frische Milch – Erzeuger eine gute Entlohnung ihrer Arbeit. Eine Möglichkeit diese Interessen zusammenzuführen ist die direkte Abgabe von Milch ab Hof. Dies ist bei uns in Deutschland nur unter bestimmten Auflagen und Kontrollanforderungen erlaubt (§ 17 TierLMHV). Das ist auch gut so, denn Milch ist ein äußerst empfindliches und leicht verderbliches Produkt. 

Die Abgabe von Milch über Milchautomaten ist dafür eine zweckmäßige und den modernen Lebens- und Arbeitsformen angepasste Lösung. Die Milch wird dort gekühlt vorgehalten. Immer mehr Milcherzeuger möchten Verbrauchern diese Möglichkeit bieten, stoßen jedoch hier auf große Widerstände seitens der Veterinärbehörden. 

Hinzu kommt, dass auf Grund des Strukturwandels in der Milcherzeugung nur noch wenige Milchbetriebe in erreichbarer Verbrauchernähe liegen. Die Wege sind mithin sehr lang und sehr umständlich (Feldwege).

Milchautomaten sollten daher verbrauchernah eingerichtet werden dürfen. In anderen europäischen Ländern ist dies längst Praxis, zumal die Europäische Union (EU Hygieneverordnung 853/2004) hier den Mitgliedstaaten freie Hand gibt. 

In Italien und Slowenien beispielsweise, aber auch in anderen EU-Ländern dürfen Milchautomaten an zentralen Orten in Kommunen aufgestellt werden; sie erfreuen sich dort bei Milchtrinkern großer Beliebtheit und entlohnen den Bauern mit einem fairen Milchpreis. Zudem fördern sie ein wesentlich besseres Verständnis des Lebensmittels Milch und seiner Herkunft und sie bringen Erzeuger und Verbraucher auf eine wesentlich weniger anonyme Weise zusammen als es bei anderem Einkauf der Fall ist. 

In Deutschland wird dies strikt unterbunden, da nach TierLMHV „die Abgabe im Milcherzeugerbetrieb zu erfolgen hat.“ Das sollte einen Zukauf von fremder Milch ausschließen. Allerdings stammt dieser Passus aus der Milch-ab-Hof-Abgabeverordnung von 1961, und damals waren die Wege zwischen Verbrauchern und Milcherzeugern nicht so weit und umständlich wie heute. Hinzu kommt, dass wir heute über wesentlich bessere Kühltechniken sowie Reinigungs- und Desinfektionsmöglichkeiten verfügen.

Die Veterinärverwaltung geht jedoch noch einen Schritt weiter und bezieht sich auf ein Karlsruher Verwaltungsgerichtsurteil (AZ K312/10) von 2010. Dieses hatte einem Milcherzeuger untersagt, den Automaten auf der dorfnahen Hofstelle aufzustellen, da der Betriebsteil, in dem die Milch tatsächlich erzeugt werde, nicht der im Ortskern liegende Betriebsstandort sei, sondern der zwei Kilometer davon weg ausgelagerte, neu gebaute Milchviehstall. Angesichts des strukturellen Wandels in der Milcherzeugung einerseits und der Forderung nach guten, großen und Bewegung zulassenden Ställen ist diese Rechtsauslegung geradezu als anachronistisch zu bezeichnen. 

Kurzum: damit Verbraucher an die von ihnen gewünschte Milch kommen und Betriebe diese Milch an entsprechenden Orten auch abgeben können, muss die Milch ab-Hof-Abgabe-Regelung dringend modernisiert werden. Sie muss eine Regelung für Milchautomaten enthalten sowie eine verbesserte Regelung der Abgabeorte und der dazu notwendigen Milch-Eigenkontrollen der Betriebe.

Eine auf diese Weise verbesserte direkte Abgabe von Milch ab Hof ist aus unserer Sicht ein Schritt zur Verbesserung der Produktdifferenzierung und zur Geschmacksbildung der Verbraucher und ein wesentlicher Beitrag zur Sicherung der lokalen Versorgung, die den Schulterschluss von Verbraucher und Erzeuger als Basis braucht.

Wir würden gerne mit Ihnen gemeinsam und im persönlichen Gespräch die Möglichkeiten ausloten, diesen Vermarktungsweg zu verbessern – auch im Sinne der Lebensmittelsicherheit. 

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Ursula Hudson

Vorsitzende 

Slow Food Deutschland e. V.

ursula.hudson@slowfood.de 

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Mehr Informationen zum Thema Milch und Milchversorgung finden Sie auch in einer Slow-Food-Veröffentlichung zum Thema Milch in: Der Kritische Agrarbericht 2014, „Raus aus dem standardisierten Elend Initiative(n) zur Rettung der vielfältigen Milch“ (S. 290-294).

Rettet die Milch! Eine Grundsatzerklärung

Rohe (unbearbeitete) Milch von Tieren ist ein zentraler Teil der Ernährung in unserer Kultur. Diese Milch ist charakterisiert durch eine ungeheure Vielfalt geschmacklicher Qualitäten aus, die ihrerseits durch eine Vielzahl unterschiedlicher Inhaltstoffe hervorgerufen wird. Diese Inhaltsstoffe bestimmen nicht nur den Geschmack, sondern auch die Eigenschaften für die äußerst vielseitigen Möglichkeiten der Weiterverarbeitung. Leider sind wir es gewohnt, von Milch nur in der Einzahl zu sprechen. Um der Vielfältigkeit der Milch in Geschmack und Zusammensetzung gerecht zu werden, sollten wir den Plural von Milch - „Milchen“ - in unseren Wortschatz aufnehmen. 
Doch davon sind wir weit entfernt, denn wir wissen von dieser Vielfalt heute kaum noch etwas. Die meisten Menschen schmecken die Vielfalt der Milchen nicht einmal mehr. Durch extrem erfolgreiche Gewöhnung an das Lebensmittel Milch aus dem Kühlregal sind wir unsensibel für Vielfalt geworden. Milch ist gegenwärtig ein höchst industrielles Lebensmittel, für dessen Bewertung wir allein den Fettanteil und die Haltbarkeit heranzuziehen gewohnt sind. 
Die Reduzierung der Milchvielfalt auf ein industrielles Produkt aber beraubt uns eines qualitativ hochwertigen und geschmacklich wunderbaren Lebensmittels, das Ausdruck von Landschaft, Tier und Mensch ist. Rohmilch und Rohmilchkäse sind so vielgestaltig wie die Tierarten (Rind Schaf, Ziege, Pferd, Kamel, Rentier), deren Rassen, Regionen, Hersteller  und Verarbeitungsweisen. 
Nur aus guter Milch wird guter Käse. Analytisch sind hunderte verschiedener Substanzen in der Rohmilch nachgewiesen und ihre Bedeutung für das Gedeihen und die Gesundheit des menschlichen oder tierischen Säuglings ist vielfach noch unerforscht. Aber man weiß, dass viele der besonders wertvollen Milchinhaltsstoffe nur in der ganz frischen Milch vorhanden sind, und dass sie nach kurzer Zeit und insbesondere nach Hitzebehandlung ihre ursprüngliche „Form“ und Qualität weitgehend verlieren.
Die Qualität der Milch ist abhängig vom Futter. Es macht einen großen Unterschied, ob die Kühe auf einer Kräuterwiese grasen oder sich mit präparierter Gras- und Mais-Silage (statt Heu), Hauptbestandteil einer Totalmischfutterration (TMR), begnügen müssen. Die Tierrasse spielt eine Rolle, ob die Milch von Angler („Butterkühe“), von Jersey, Murnau-Werdenfelser-Kühen oder von der allgegenwärtigen „Hochleistungsrasse“ Holstein Frisian stammt. Die Haltungsform der Tiere spielt eine ebenso wichtige Rolle, insbesondere ob die Kühe auf die Weide dürfen. Auch die Sorgfalt des Bauern beim Melken und bei der Lagerung der Milch schmeckt man in der Milch. Nicht zuletzt wirkt sich die Schnelligkeit der Milchverarbeitung nach dem Melken auf die Milchqualität aus. Traditionelle Käse werden oft nur aus einem Gemelk, aus dem des Morgens oder des Abends, hergestellt. Dagegen wird heute die Milch vielfach nur alle zwei oder gar drei Tage bei den Bauern abgeholt und danach nicht selten auch noch in der Molkerei „gestapelt“.
Von 1882 bis zum Dritten Reich wurden die Rahmenbedingungen in der Versorgung der Städte mit Milch vom Kaiserreich wegen gesundheitlicher Schwierigkeiten bei Mensch und Tier (Human- und Rinder-Tuberkulose) und der vielfach mangelnden Hygiene vorgegeben und dann von allen Bundesstaaten in entsprechenden Anordnungen und gesetzlichen Regelungen umgesetzt. Hier entstanden Begriffe wie "Kindermilch" und "Vorzugsmilch" als Qualitätshinweise für eine mikrobiell sichere Rohmilch, die genossen werden konnte, ohne sie abzukochen.
Die von der nationalsozialistischen Regierung mit ihren zentralen gesetzlichen Regelungen veranlasste Einführung der heute noch üblichen flächendeckenden Hitzebehandlung der Milch ist zum einen als eine Maßnahme im Rahmen der Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges zu betrachten. Zum andern beförderte sie die Entwicklung der großbetrieblichen Strukturen der deutschen Milchwirtschaft. Die Milchverarbeitung auf den Bauernhöfen wurde verboten und durch die Milchablieferungspflicht an die vielfach neu gebauten und oft weit entfernten Großmolkereien gebunden; Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb diese Rechtslage erhalten, d.h. fast alle Milch muss seither über die Molkerei geführt werden.
Heute werden die Verbraucher in allen europäischen Ländern, für die alle gleichermaßen die EUHygieneverordnung geltendes Recht ist, vor dem Genuss von Rohmilch gewarnt. Doch die Umsetzung in den einzelnen Ländern variiert. Beispielsweise wird in Österreich traditionell die unbearbeitete Milch heute noch über den Einzelhandel verkauft. Auch in anderen europäischen Ländern ist der Rohmilch-Verkauf gestattet, in Deutschland allerdings derzeit nur ab Hof und in begrenzten Mengen.
Es ist heute dem interessierten städtischen Verbraucher fast unmöglich, sich mit vertretbarem Aufwand mit Rohmilch zu versorgen. Das Sterben der kleinen Milchbauernhöfe und der kleinen Milchgeschäfte sowie die bürokratischen Schikanen gegenüber einer Abgabe von Milch ab Hof haben den Anteil von Rohmilch heute fast gegen Null gebracht. Auch die sogenannte Vorzugsmilch, zertifizierte Rohmilch, die besonders streng und regelmäßig kontrolliert wird und einst als Kindermilch konzipiert war, droht vollständig vom Markt zu verschwinden. Heute gibt es in ganz Deutschland keine 40 Betriebe mehr, die Vorzugsmilch produzieren. 
Milch ist ein Lebensmittel von hoher gesundheitlicher Bedeutung. Zumindest bei der Muttermilch wird dies allgemein anerkannt. Obwohl auch Muttermilch stark mit Keimen belastet sein kann; käme trotzdem niemand auf die Idee, die Qualität der Muttermilch dadurch zu verbessern, dass man sie erhitzt. 
Nachgewiesen ist die gesundheitsfördernde Wirkung des Rohmilchkonsums bei Asthma und allergischen Erkrankungen. In der öffentlichen Diskussion wird aber nicht dies hervorgehoben; vielmehr wird in den Mittelpunkt gestellt, wie riskant der Rohmilch- oder sogar der Vorzugsmilchkonsum sei. Wie bei vielen anderen Lebensmitteln gibt es auch bei Rohmilchkonsum abstrakte Risiken. Diese sind jedoch vergleichsweise sehr gering. Wo Risiken zu erkennen sind, z.B. bei Tuberkulose (TBC) in Rinderbeständen, sollte auf das Risiko hingewiesen werden, und der Staat sollte seine Aufgabe zur Seuchenprävention gewissenhaft nachkommen. Das gesundheitliche Risiko beim Verzehr (Genuss!) von Rohmilch ist weitaus geringer, als dies die „Ächtung“ von Rohmilch durch die staatlichen Regelungen rechtfertigen würde. 
Wir sind souveräne Verbraucher! Wir wollen selbst abwägen, welche gesundheitlichen Vorteile wir mitnehmen und welche gesundheitlichen Risiken wir gegebenenfalls eingehen wollen – auch bei Rohmilch und Rohmilchkäse. Wir wollen uns die Vielfalt des Milchgenusses nicht verbieten und uns nicht dazu zwingen lassen, uns mit einer für das dominante Lebensmittelsystem bequemen, aber industriell bearbeiteten, weitgehend denaturierten, Milch zu begnügen – die nicht zuletzt auf Großbetriebe und industrielle Tierhaltung setzt und weniger die erhaltenswerte kleinbäuerliche Landwirtschaft und nachhaltige Kreislaufwirtschaft fördert.
Daher fordert Slow Food Deutschland:
- Der Erwerb von unbearbeiteter Milch muss einfach und unbürokratisch möglich sein.
- Der Verkauf von sicherer Rohmilch über die (z.B. in Italien) bewährten Milchautomaten durch einzelne
bäuerliche Betriebe ist auch außerhalb der Erzeugerbetriebe zu gestatten; auch der Absatz
von Rohmilch durch den Einzelhandel muss ermöglicht werden.
- Auf den Milcherzeugerbetrieben müssen praktikable, preiswerte Untersuchungsmöglichkeiten geschaffen
werden, die den Milchbauern und den Konsumenten ein Höchstmaß an Sicherheit bieten.
Ein Übertragen industrieller Methoden auf die Milcherzeugerbetriebe ist dabei ein nicht akzeptables
Verfahren.
- Die Milcherzeugerbetriebe müssen in die Lage versetzt werden, Milch und deren gesundheitliche
Unbedenklichkeit selbst überwachen zu können.
- Die Milchforschung ist zu verstärken, um die gesundheitlich bedeutsamen Bestandteile in der
Rohmilch zu identifizieren und deren Wirkung zu erkunden.

Slow Food Deutschland, im Juni 2013

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Tel: 030-2000 475 20 - Fax: 030-
2000 475 99
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Tel. 07151-920240 - Mob: 0171-317 6442 - Fax: 07151-920242
Im Guckvor 15 - 71336 Waiblingen

Über Slow Food

Slow Food ist eine weltweite Bewegung, die sich für eine lebendige und nachhaltige Kultur des Essens und Trinkens einsetzt. Der Verein tritt für die biologische Vielfalt ein, fördert eine nachhaltige, umweltfreundliche Lebensmittelproduktion, betreibt Geschmacksbildung und bringt Erzeuger von handwerklich hergestellten Lebensmitteln auf Veranstaltungen und durch Initiativen mit Ko-Produzenten (Verbrauchern) zusammen. Die Arbeit von Slow Food stützt sich weltweit auf den Einsatz vieler engagierter Mitglieder, die es Slow Food durch ihre Mitgliedschaft ermöglichen, Projekte zum Schutz der Biodiversität und zur Ernährungs- und Geschmacksbildung voran zu treiben und Kampagnen und Events zu organisieren. Viele der Mitglieder und Convivien engagieren sich durch verschiedenste Aktivitäten vor Ort. Als Slow-Food-Mitglied ist man Teil einer großen, bunten, internationalen Gemeinschaft, die das Recht jedes Menschen auf gute, saubere und faire Lebensmittel vertritt.

Slow Food Deutschland wurde 1992 gegründet und ist ein eingetragener Verein mit Geschäftsstelle in Berlin. Die Slow-Food-Bewegung zählt Anfang 2016 in Deutschland über 14.000 Mitglieder in rund 85 Convivien (lokalen Gruppen), weltweit sind es mehr als 100.000 Menschen in über 170 Ländern. www.slowfood.de

V.i.S.d.P.: Dr. Ursula Hudson

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