Keine Süßigkeiten-Werbung mehr für Kinder - macht alles besser!?

16.06.2023 - Bundesernährungsminister Cem Özdemir hat einen Gesetzesentwurf für mehr Kinderschutz bei der Ernährung vorgestellt. Werbung für Süßigkeiten und Snacks mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt und hohem Verarbeitungsgrad soll stark eingeschränkt werden. Dies gilt für die gezielte Werbung, aber auch für jegliche Reklame für solche Produkte, wenn sie von Kindern wahrgenommen werden kann – zum Beispiel in der Zeit zwischen 6 und 23 Uhr oder im Umkreis von 100 Metern von Kitas, Schulen, Spielplätzen oder Freizeitstätten. Der Staat nimmt den Markt an die Kandare. Wie nicht anders zu erwarten, bringt dies die entsprechenden Lobbygruppen in Wallung. Der Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie beklagt, dass dies »nicht verhältnismäßig und zudem verfassungsrechtlich bedenklich« sei.

pexels-foodie-factor-557665.jpgAufschlussreich ist, dass das Vorhaben über den Kinderschutz legitimiert wird. Kinder seien »das Wertvollste, was wir haben« und müssten daher vor Gefahren geschützt werden, heißt es im Ministerium. Damit wird ein Wert genannt, der nicht leicht vom Tisch zu wischen ist. Dass es Kindern in unserer Gesellschaft gut gehen soll, ist schließlich heutzutage breiter ethischer Konsens. Seine Durchschlagkraft erhält dieses Anliegen jedoch erst durch die gleichzeitige Erzählung, wie dramatisch die Kindergesundheit durch Fehlernährung gefährdet ist. Auch dieses Narrativ ist gesellschaftlich höchst konsensfähig. Schließlich hören und lesen wir dauernd, dass unsere Kinder immer kränker, dicker, tollpatschiger und letztlich untauglicher für die Anforderungen der modernen Arbeitsgesellschaft werden und dass der Grund dafür ihr ungesundes Essen ist. Bei aller Fragwürdigkeit dieses Narrativs, hat es eine wichtige strategische Funktion. Wenn der Gesetzesvorstoß das Szenario der drohenden verfetteten Kindergeneration mobilisiert, kann er sich eine gewissen Zustimmung sicher sein.

Ungesunde Lebensmittel: Werbung verbieten?

Ob die Kinderernährung gesünder wird, wenn Kinder weniger der Werbung für ungesunde Nahrungsprodukte ausgesetzt sind, darf bezweifelt werden. Es gibt bislang keine wissenschaftlichen Nachweise zur Wirksamkeit von Werbeverboten auf die Entwicklung von kindlichem Übergewicht, wie das Ministerium selbst in einer parlamentarischen Anfrage einräumte. Und es gibt sie ja weiter, all die schädlichen Nahrungsprodukte, für die es keine Reklame mehr geben darf. Sie stehen in den Ladenregalen, im Schulkiosk, hinter der Theke des Jugendhauses und des Sportheimes und in den Vorratsschränken der Familien und Großeltern. Sie locken aufdringlich mit ihren faszinierenden Verpackungen, und sie schmecken einfach unwiderstehlich gut. Von daher sind die angekündigten Werbebeschränkungen ein relativ ‚zahnloser Tiger‘. Sie sorgen schließlich nicht dafür, dass die schädlichen Nahrungsprodukte aus den Kinderwelten verschwinden.

Werbung für ungesunde Nahrungsprodukte: Warum ein Verbot nur für Kinder?

Und noch etwas muss nachdenklich machen. Warum sollen die als schädlich markierten Nahrungsprodukte eigentlich nur für Kinder schädlich sein? Im jüngst veröffentlichten Paper von Slow Food international „Unsere Ernährung, unsere Gesundheit: ein gesundes Ernährungssystem für die EU“ wird denn auch ganz altersunabhängig eine Beschränkung der Werbung für verarbeitete Lebensmittel mit hohem Fett- oder Zuckergehalt gefordert. Warum kapriziert sich das deutsche Werbeverbot so sehr auf Kinder, wo doch Erwachsene bekanntlich kaum anders essen als Kinder. Glauben wir tatsächlich, dass diese Nahrungsprodukte Erwachsenen nichts anhaben können? Oder war das nur eine geschickte Taktik gewesen, um am Ende der gesamten Werbung, egal an wen sie sich richtet, einen Riegel vorzuschieben?

Dass sich der Ernährungsminister mit der mächtigen Wirtschaft anlegt, dass er es wagt, staatliche Fürsorge gegen Profitinteressen zu stellen, ist mutig und wegweisend. Natürlich kann man beklagen, dass es zu wenig ist und die praktische Umsetzung knifflig wird, aber vielleicht ist es der Beginn von Mehr: einem Mehr an Auflagen für die Agrar- und Lebensmittelindustrie, einem Mehr an Entwicklungsoptionen für eine nachhaltigere Ernährung – zum Schutz der Kinder, Erwachsenen und letztlich auch zum Schutz des Planeten.

Autorin: Lotte Rose, Slow-Food-Bildungskommission

Quelle: Erschienen im Slow Food Magazin 3/4 2023

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