ZEIT-Interview Petrini Schumann

"Was kochte deine Oma?"

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Charles Schumann (1.v.li.) und Carlo Petrini (2.v.li.) in der Schumann's Bar am Hofgarten anlässlich einer Lesereise von Petrini im Feburar 2011. | © Katharina Heuberger

2.3.2014 - Deutschlands bekanntester Barchef Charles Schumann und Slow Food Gründer Carlo Petrini sprechen über ihre Leidenschaft: Gutes Essen. Ein Interview von Jörg Burger für das ZEITmagazin

Charles Schumann ist ein wenig aufgeregt vor dem Treffen mit dem Mann, den er seit Langem bewundert. Gerade ist er seine Fragen noch einmal durchgegangen, sie stehen auf einem Bündel Papier, das er in die Manteltasche gestopft hat. Wegen dieser Fragen ist er von München nach Norditalien gereist, in die Kleinstadt Bra im Piemont: Ist gesundes Essen nur etwas für Wohlhabende? Wie gut ist die deutsche Küche? Und er hat eine Liste aufgestellt: Brot, Gemüse, Pasta, Fleisch, in dieser Reihenfolge, am Ende versehen mit einem Fragezeichen.

Ein verwinkeltes altes Gebäude, ein ehemaliges Schloss. Darin ein großes Arbeitszimmer – und Carlo Petrini. Ein schmaler, grauhaariger Mann in Managerkleidung: hellblaues Hemd, schwarzes Jackett. Die Begrüßung ist laut und herzlich, Schumann spricht ein wenig Italienisch. Er und Petrini kennen sich seit Jahren, aber der Italiener ist so beschäftigt, dass es noch nie Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch gab.

In Deutschland ist Schumann bekannt für seine Bar in München, die auch ein Restaurant ist. Schumann kocht dort oft selbst, und zwar betont einfache Küche. Roastbeef. Rindfleischtatar mit Gemüse. Pasta. Hochwertige Zutaten, schlichte Zubereitung, das ist seine Philosophie. Nun wollen er und Petrini mit dem ZEITmagazin über gutes Essen reden. Darüber, was Geschmack eigentlich ist.

Es soll auch um Petrinis Lebenswerk gehen, um die Organisation Slow Food, aus der er in den letzten 28 Jahren eine weltweite Bewegung gemacht hat. Sie tritt für gutes, fair gehandeltes Essen ein, das vom Bauern nebenan stammen sollte und nicht aus riesigen Treibhäusern und Fabriken. Wie kein anderer hat Petrini das Bewusstsein für gutes Essen geschärft. Er tritt außerdem als Lobbyist in Brüssel auf. Sein erklärter Gegner ist die Nahrungsmittelindustrie. Er ist ein Rebell – aber als ihn kürzlich der Papst anrief, um sich für ein Slow Food Buch zu bedanken, das Petrini ihm geschickt hatte, hat er sich sehr gefreut. Petrinis Büro befindet sich in der Privatuniversität, die er selbst gegründet hat. Sie ist in einer ehemaligen Königsresidenz untergebracht. Schumann setzt sich an den langen Tisch, der den halben Raum einnimmt, und breitet seine Notizen vor sich aus.

Charles Schumann: Carlo, ich möchte mit dir darüber reden, was gutes Essen eigentlich ist. Und mich interessiert auch, wo die Idee für Slow Food herkam.

Carlo Petrini: Wenn man aus dem Piemont ist, hat man das im Blut. Man weiß, was gutes Essen ist, und schätzt guten Wein.

Schumann: Du hast Slow Food in Italien 1986 gegründet, drei Jahre später dann die internationale Organisation. Wie wurde die Bewegung so schnell so groß?

Petrini: Am Anfang ging es uns vor allem darum, das Monopol des Fast Foods zu brechen, das Anliegen verbreitete sich dann von selbst. Wir hatten kein Geld, nur die Idee. Wir bekamen sofort Anrufe aus Deutschland, Spanien und Argentinien. Heute sind wir in 170 Ländern aktiv und haben über 100.000 Mitglieder.

Schumann: Gibt es in jedem Land einen Carlo Petrini, der das alles vorantreibt?

Petrini: Nein. Wir sind ein Netzwerk, sonst nichts. Wir lassen nur Energien frei. Bei uns herrscht eine gewisse Anarchie.

Schumann: Aber du bist doch der Kopf! Du bist immer auf Reisen! Also, Langsamkeit gibt es in deinem Leben wohl eher nicht.

Petrini: Ich wollte eigentlich bald in Pension gehen, schließlich werde ich dieses Jahr 65 Jahre alt. Aber das erwies sich als schwierig. Gerade bin ich aus Brasilien zurückgekommen. Dort haben wir zwei Kochschulen in Favelas eröffnet, wo Kinder lernen sollen, zu kochen, ohne Zutaten zu verschwenden. Leider werden wir oft immer noch als Gourmetverein angesehen.

ZEITmagazin: Wichtiger als gutes Essen scheint Ihnen heute zu sein, dass Sie in Entwicklungsländern helfen.

Petrini: Wir kämpfen jetzt auch in Afrika und in Südamerika für gute, fair gehandelte Produkte, also dort, wo Menschen noch hungern. Für mich war dieses Engagement eine Befreiung. Wir haben 2004 dafür ein eigenes Netzwerk gegründet, Terra Madre. In Afrika haben wir innerhalb eines Jahres 1.000 Gärten für Kleinbauern geschaffen. Jetzt habe ich die Devise ausgegeben: Es müssen 10.000 Gärten werden!

"Wenn ich über die Gastronomie der Befreiung rede, denken die, ich bin blöd"

ZEITmagazin: Man kann das Gefühl bekommen, Sie wollen mithilfe des Essens die Welt retten. Ist Slow Food eine politische Utopie?

Petrini: Ich bin ein Linker. Aber Slow Food hat eine eigene Identität, eine eigene Philosophie. Noch versteht meine geliebte Linke das alles nicht. Wenn ich über die Gastronomie der Befreiung rede, denken die, ich bin blöd. Gutes Essen soll keine elitäre Angelegenheit sein, egal wo, darum geht es uns.

Schumann: Aber gutes, gesundes Essen ist doch auch bei uns eher etwas für Leute, die sich das leisten können. Bio ist teurer.

Petrini: Bio darf keine Ausrede für höhere Preise sein! Ich möchte von einer Erfahrung erzählen, die ich in Berlin gemacht habe. Ich war in Brandenburg auf einer Ökofarm. Der Bauer sagte mir, dass er ein Drittel seiner Produkte wegwerfen müsse, weil sie nicht schön genug seien und Supermärkte und Kunden sie nicht wollten: Der Kohl ist ein bisschen zu groß, die Karotte zu schief. Obwohl es perfekte, nahrhafte Produkte sind. Im Supermarkt muss alles gleich aussehen. Würde man Essen nicht so behandeln, würde es auch günstiger werden.

Schumann: Ich würde das sofort kaufen. Gutes Gemüse direkt vom Bauern ist auch für die Gastronomie sehr teuer. Wenn ein Bauer etwas besonders Gutes hat, geht er zu den Spitzenrestaurants, deren Besitzer das schätzen. Mich interessiert: Wie stehst du zur Spitzengastronomie?

Petrini: Ich gehe selten in Sternerestaurants. Ich schätze die einfache Küche sehr.

Schumann: An deine "Universität der gastronomischen Wissenschaften" hier in Bra kommen neuerdings auch viele Spitzenköche. Warum lädst du nicht einfache Leute ein?

Petrini: Die Hälfte der Köche, die die Uni besuchen, kommt aus kleinen Restaurants. Dieses Jahr ist auch eine Köchin aus einer Favela in Rio eingeladen. Alle haben die Aufgabe, in der Mensa ein Gericht zuzubereiten, das nur fünf Euro kostet. Und das hat sogar Ferran Adriá geschafft, der Molekularkoch vom El Bulli aus Barcelona.

Schumann: Das finde ich prima. Die Uni-Absolventen sollen die Slow Food Ideen weitertragen, heißt es immer. Was wird aus denen? Wollen viele nicht einfach nur Karriere machen?

Petrini: Bisher haben 1.500 Studenten bei uns ihr Studium abgeschlossen. Sie arbeiten in Restaurants, in NGOs, manche machen eigene Firmen auf. Einige sind sogar Professoren in Berkeley. Der Großteil unserer 500 Studenten kommt aus dem Ausland, und nach dem Ende des Studiums gehen sie hinaus in die Welt, um etwas zu verändern. So werden wir die Schlacht gewinnen.

Schumann: Wenn es nach dir geht, sollen wir nur noch regionale Nahrung essen, die gerade Saison hat. Ich glaube, das ist für uns Deutsche viel schwieriger zu realisieren als für euch in Italien. Auf den Märkten hier werde ich sowieso neidisch. Wenn wir so strikt wären, wie du dir das vorstellst, Carlo, könnten wir im Winter nur noch Kohl und Kartoffeln essen.

Petrini: Ich war mal im Margaux, einem tollen Restaurant in Berlin. Es gibt dort nur vegetarisches Essen und nur saisonales Gemüse. Es war Winter und dachte, was können die mir hier anbieten, was gibt’s außer Kohl? Ich hab das beste Gemüse meines Lebens gegessen. Der Koch nahm die Konserven, die er im Sommer eingemacht hat. Wie unsere Großmütter das taten. Also geht es doch!

ZEITmagazin: Na ja, das Margaux war ein Sternerestaurant, es hat seit Kurzem geschlossen. Herr Petrini, würde man Ihre Ideen ernst nehmen, müsste man sich ständig mit Essen beschäftigen und sogar Bauern besuchen, um zu lernen, wo das Essen herkommt. Überfordern Sie uns nicht?

Petrini: Nein! Wir hatten nie so viel Zeit wie heute. Unsere Großeltern arbeiteten zwölf Stunden pro Tag. Wir arbeiten weniger, aber alle sind hektisch. Man muss sich entscheiden. Einen Bauern in der Nähe von Berlin zu besuchen ist doch nicht so schwer! Wer sagt, er habe keine Zeit, der will nicht wirklich etwas verändern.

ZEITmagazin: Zumindest in deutschen Großstädten hat sich in den letzten Jahren viel getan: Überall gibt es Bioläden, und Regionalküche und gehobene Hausmannskost sind sehr beliebt.

Petrini: Wir brauchen noch viel mehr Bauernmärkte und kleine Restaurants! Die Gastronomie muss den Bauern helfen.

Schumann: Wie findest du die deutsche Küche?

Petrini: Sehr gut. Ich habe viele gute Suppen gegessen. Ich liebe Suppen. Und in Deutschland gibt es das beste Brot der Welt.

Schumann: Was mich ärgert, ist die Allgegenwärtigkeit des Essens. All die Sendungen im Fernsehen, der ganze Schnickschnack! Aber über die Zutaten spricht keiner. Niemanden interessiert, wo das alles herkommt.

Petrini: Ich nenne das die Pornografie des Essens. Morgen fliege ich übrigens nach Berlin. Slow Food Deutschland ruft als eine von vielen Organisationen zu einer Demonstration gegen die europäische Agrarpolitik auf, ich halte da eine Rede. Junge Leute laden zu einer "Schnippeldisco" und kochen öffentlich einen riesigen Topf Suppe aus Zutaten, die sonst weggeworfen würden. Die Idee stammt von jungen Deutschen und wird bereits weltweit kopiert, in Frankreich, den USA, Brasilien, Südkorea und sogar in Indien. Wenn wir mit solchen Aktionen erfolgreich sind und es schaffen, die Agrarpolitik weltweit zu verändern, ist gutes, regionales Essen in fünf Jahren überall selbstverständlich.

Schumann: Ich glaube, richtig gutes Essen gibt es eigentlich nur in Italien und in den anderen südlichen Ländern.

Petrini: Die vielen Osterias und Trattorien, wo das Essen gar nicht mal so viel kostet – uns geht es schon gut.

"In den nächsten drei Jahren wird sich Brasilien an die erste Stelle setzen."

ZEITmagazin: Welches Land macht für Sie die größten Fortschritte?

Petrini: Die USA.

Schumann: Tatsächlich?

Petrini: Doch, da gibt es mittlerweile überall farmer’s markets, das Angebot ist besser als in Italien. Ich glaube aber, in den nächsten drei Jahren wird sich Brasilien an die erste Stelle setzen. Lateinamerika erlebt zurzeit eine unglaubliche gastronomische Renaissance, es gibt ein riesiges kulinarisches Erbe. Allein in Rio de Janeiro gibt es sieben Bauernmärkte, auf denen Slow-Food-Anbieter präsent sind. Auch Peru und Chile werden große Fortschritte machen. Da arbeiten Köche wirklich mit unserer Philosophie, selbst in Sternerestaurants.

Schumann: Ich habe mal eine Liste aufgestellt, welche Nahrungsmittel mir am wichtigsten sind. An erster Stelle steht für mich Brot und Butter. Dann kommen Gemüse, Kartoffeln. Dann Pasta. Dann erst Fleisch – obwohl ich kein Vegetarier bin. Carlo, was ist für dich gutes Essen?

Petrini: Ich bin ganz bei dir! Erst Brot, dann Gemüse. Und Pasta liebe ich auch.

Schumann: Deine Lieblingspasta?

Petrini: All’olio e parmigiano, Nudeln mit Olivenöl und Parmesan. Fleisch habe ich in den letzten Jahren reduziert.

Schumann: Dein Lieblingswein?

Petrini: Dolcetto, er kommt hier aus der Gegend. Auch euren Riesling finde ich richtig gut, den trinke ich schon seit 30 Jahren.

Schumann: Mich hat die Küche meiner Großmutter sehr geprägt. Ich wuchs ja als Bauernsohn in der Oberpfalz auf. In Italien nennt man diese einfache Küche die cucina della mamma. War sie auch wichtig für dich?

Petrini: Ja, das ist sie für jeden! Die Geschmacksbildung beginnt am Esstisch in der Kindheit. Oft führt die Großmutter mit Liebe und Geduld ans Essen heran, weil nur sie die Zeit dazu hat. Letztes Jahr haben wir 25 Profiköche interviewt. Was hat sie inspiriert? Immer Nonna, die Oma! Oder Mamma!

Schumann: Was hat deine Oma für dich gekocht? Petrini: Ein Gericht habe ich gut in Erinnerung: den merluzzo al verde. Kabeljau mit grüner Soße. Typisch in dieser Gegend.

ZEITmagazin: Sie stammen aus einer Eisenbahner-Familie, heißt es – viel mehr ist über Ihren Hintergrund nicht bekannt.

Petrini: Es gab bei uns immer genug zu essen, aber es trafen zwei Kulturen aufeinander. Meine Mutter kam aus einer Familie von Gemüsebauern und war sehr konservativ. Mein Opa väterlicherseits war Eisenbahner und Kommunist, mein Vater war Elektromechaniker, meine Mutter leitete eine Kinderkrippe.

Schumann: Meine Mama hatte vor 40 Jahren ein Lebensmittelgeschäft. Dann kamen die Großmärkte – Ende der Vorstellung!

Petrini: Das ist in Italien leider genauso gekommen: Es gibt fast nur noch Supermärkte. Das Restaurant muss ein Ort der Bildung werden. Es sollte den Gästen erklären, wo das Essen herkommt. So unterstützt es die Produzenten. Für Toilettenpapier und Zahnpasta kann man ruhig weiter in den Supermarkt gehen. Aber Brot, Fleisch, Gemüse sollte man vor Ort kaufen.

ZEITmagazin: Sie haben Ihr Leben ganz in den Dienst von Slow Food gestellt. Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie erreicht haben?

Petrini: Vor Kurzem bin ich sehr krank gewesen. Seitdem habe ich das Leben noch mehr zu schätzen gelernt. Charles, ich beneide dich übrigens für deine Energie.

Schumann: Aber du hast doch viel mehr Energie! Ich denke nicht so viel nach wie du. Ich lebe lieber von einem Tag auf den anderen und trinke viel Espresso. Machst du eigentlich auch Sport?

Petrini: Nein, nein! Ich gehe nur spazieren.

Schumann: Du musst 200 Jahre alt werden, um deine Ziele zu erreichen.

Petrini: Leider müssen wir jetzt aufhören, ich habe Termine.

Schumann: Nur eine Frage noch, bitte. Hast du eigentlich Zeit, für dich selbst zu kochen?

Petrini: Nein. Ich bin ja den ganzen Tag hier im Büro. Meine Schwester kocht abends für mich. Pasta, Gemüse. Sehr vielfältig. Wie meine Großmutter.

Carlo Petrini 64, ist im Piemont geboren. Er war Journalist, Herausgeber eines Restaurantführers und Stadtrat für die "Proletarische Union". 1986 gründete er den Verein Slow Food. Petrini wird weltweit als Vorkämpfer für gutes, faires und sauberes Essen verehrt.

Charles Schumann 72, geboren in Kirchenthumbach/Oberpfalz, betreibt in München die legendäre Bar Schumann’s, zu der auch ein Restaurant gehört.

Erschienen am 20. Februar 2014 auf  ZEIT ONLINE unter www.zeit.de/2014/09/slow-food-carlo-petrini-charles-schumann/. Das Interview führte Jörg Burger.

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