Thesen zur Nordhessischen Küche

Erkenntnisse und Vermutungen zur regionalen Küche

Niedergeschriebene Kochrezepte spiegeln nur einen Teil der alltäglichen Küche wider und geben nicht die Häufigkeit wider, mit der die einzelnen Gerichte auf den Tisch kamen. Einfache Getreidebreie, Saure Milch mit Brot, Pellkartoffeln mit Speck - solche und ähnliche unkomplizierte Mahlzeiten haben keinen Eingang in Kochbücher gefunden.


Die Regionalküchen in Deutschland bildeten sich im Wesentlichen erst im 19. Jahrhundert heraus, weil erst ab dieser Zeit für breitere Schichten die materiellen Voraussetzungen für eine ausgefeiltere Kochkultur zur Verfügung stand. Dazu gehörten:
• Die Verbreitung des Herdes anstelle der offenen Kochstelle. Damit wurde erst das Erhitzen mehrerer Gerichte gleichzeitig möglich.
• Die Verbesserung der Agrartechnik (Fruchtwechsel) und der Pflanzen- und Tierzucht führte erstmals zu einer Überschussproduktion auch in Gegenden ohne herausragende Bodenqualitäten. Damit wurde der Erwerb von Kolonialwaren (Gewürze, Kaffee, Zucker, Reis) für die ländliche Bevölkerung möglich. Erst die Importgewürze machten eine breitere Rezeptvielfalt und damit die Entwicklung ausdifferenzierter regionaler Vorlieben möglich.
• Das 19. Jahrhundert war das erste Jahrhundert ohne Hungersnöte in Friedenszeiten in Mitteleuropa.
• Die Verbreitung moderner Konservierungstechniken verlängerte die Verfügbarkeit vor allem von Obst und Gemüse.

Wichtige Einflussfaktoren bei der Ausbildung der Regionalküchen sind dominante Bodenqualitäten und klimatische Bedingungen der Region sowie kulturelle Einflussfaktoren durch Bevölkerungsbewegungen. In Nordhessen bedingte die überwiegend niedrige Bodenqualität die Herausbildung einer Kartoffelküche, während in reicheren Regionen Mehl-/Getreideküchen dominieren. Die materiellen Ressourcen für den Zukauf von Kolonialwaren waren für große Bevölkerungsteile lange Zeit stark eingeschränkt. Die Bevölkerungsbewegung war im 19. Jahrhundert eher gering: es gab Auswanderungswellen nach Amerika, aber keine Zuwanderung im nennenswerten Umfang, die zu einem starken kulturellen Einfluss geführt hätte. Mögliche kulturelle Bereicherungen von außen sind: der französische Hof in Kassel zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die Ansiedelung von Hugenotten im 18. Jahrhundert, Einflüsse der jüdischen Küche.

Wenn man das Essen aus einer Schüssel im Haushalt als Gradmesser für Armut und rückständige Ernährungsgewohnheiten nehmen will: 1935 wurde im Knüll und im Vogelsberg in ländlichen Gemeinden noch verbreitet aus einer gemeinsamen Schüssel gegessen.

Fisch spielte in der mitteleuropäischen Ernährung zumindest seit dem Mittelalter keine große Rolle abseits der Küstenregionen. Süßwasserfische waren eher selten und galten wegen der Fangprivilegien als „Herrenspeise“. Aus den zunächst fischreichen hessischen Flüssen wurden sie auch exportiert nach Thüringen. Ab der Mitte der 19. Jahrhunderts geht der Fischreichtum wegen der zunehmenden Gewässerverschmutzung stark zurück. Salzheringe und Stockfisch waren die einzigen Formen von Meeresfischen, die im Binnenland käuflich erwerbbar und im 19. Jahrhundert billig und weit verbreitet waren. – In der nordhessischen Regionalküche hat sich der Salzhering eine Position erworben, regionale Stockfischrezepte sind allerdings nicht bekannt!?

Die Kartoffel hat bereits 1589 Einzug in den „Lustgarten“ von Landgraf Wilhelm IV von Hessen-Kassel genommen. Von der botanischen Blume und exotischen Heilpflanze bis zur Ackerfrucht war es allerdings ein weiter Weg. Zwischen 1735 und 1740 tauchen für das Hessische Bergland erste Erwähnungen von Kartoffeln im Rahmen von strittigen Zehntverpflichtungen auf. Den entscheidenen Schub erhielt die Verbreitung der Kartoffel in der Hungersnot 1771/1772. Sie galt zunächst als hervorragende Speise für Arme und für Vieh. Zum Lebensmittel Nummer eins für breite Massen wurde sie im 19. Jahrhundert. Verdrängt wurden damit andere Speisen wie Rapunzel, Rüben, Hirse, Buchweizen und Hafer. Der Höhepunkt des Kartoffelkonsums liegt in Deutschland um die Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert.

Abgesehen vom Allgäu und den schleswig-holsteinischen Marschen gab es in Deutschland bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts keine marktorientierte Milchwirtschaft, da die Dreifelderwirtschaft keinen Raum für Futtermittelproduktion/ Weidewirtschaft ließ. Vieh musste häufig im Herbst wegen Futtermangel geschlachtet werden. Rinder wurden als Lasttiere, Düngerlieferanten und Fleischproduzenten gehalten, der Milchertrag war gering und wenig marktfähig. Im Zuge der Verstädterung und dem damit verbundenen Milchbedarf entstanden erste Molkereien ab 1850, bis 1900 gab es bereits 2900 Genossenschaftsmolkereien. Das „Milchgeld“ wurde zur wichtigen Einnahmequelle vor allem außerhalb der Erntezeiten. Der Eigenverbrauch an Milch war sehr gering, beschränkte sich zum Teil auf Sauermilch.

Zwischen 1870 und 1900 gab es einen Rückgang in der Schafzucht um mehr als die Hälfte, im Gegenzug wuchs die Schweinezucht um mehr als das Doppelte in Deutschland. Gründe waren unter anderem der internationale Verfall des Wollpreises und die gute Verwertbarkeit von Molkereiabfällen in der Schweinezucht.

Fleisch und Wild spielt in den eindeutig der nordhessischen Region zuordenbaren Rezepten eine eher untergeordnete Rolle, wenn man von Speck und Sulperfleisch absieht. Dies dürfte daran liegen, dass der Verzehr hochwertiger Fleischteile in der Regel wohlhabenderen Menschen aus bürgerlichen und adeligen Schichten vorbehalten blieb. In diesen Kreisen war die Ernährungskultur zumindest seit dem 18. Jahrhundert stark auf Abgrenzung zu unteren Schichten orientiert und richtete sich eher "international" aus mit unterschiedlichen Modewellen (französisch, englisch, russisch …). Die Festtagsküche der bäuerlichen und ärmeren Bevölkerungsschichten strebte immer danach, Wohlstand zu symbolisieren und richtete sich deshalb nach den nicht regional orientierten Rezepten der gehobenen Schichten. Insofern sind die eindeutig der Region Nordhessen zuzuschreibenden Rezepte tendenziell Bestandteile einer "Arme-Leute-Küche". - Ob dies für alle deutschen Regionalküchen gilt oder ob es (zum Beispiel in Baden) auch gehobene deutsche Regionalküchen gibt, ist eine spannende Frage.

Gerhard Schneider-Rose

Inhaltspezifische Aktionen