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28.05.08: Ruhrgebietsküche

Am 28.05.2008 trafen sich 16 Convivanten bei Julius zum Thema „Ruhrgebietsküche – was ist das?“

Referentinnen waren 3 Damen vom Deutschen Kochbuchmuseum in Dortmund, Frau Erdmann, Frau Dr.Jannack und Frau Ophoven, die ihr phänomenales Wissen über die deutsche Kochbuchliteratur zur Verfügung stellten.

Nach dem Auftakt des Abends, einem köstlichen Stielmus à la Henriette Davidis, wurde rege und engagiert diskutiert.

Kurz zusammengefaßt gibt es 2 Argumentationslinien zum Thema:

Streng wissenschaftlich betrachtet liefert die Literatur keine harten Belege für eine eigene Ruhrgebietsküche soweit es sich um spezielle Rezepte oder spezielle Zutaten handelt.

Hingegen bestätigt die Argumentation mit dem allgemeinen Empfinden lokale Eigentümlichkeiten der Esskultur, also eine lokale Küchentradition. Diese ist aber nur fassbar für die eigentliche Montanphase des Ruhrgebietes, unserer Auffassung nach vom 2. Drittel des 19ten Jahrh. bis zum Ende des 2.Drittel des 20ten Jahrhunderts. Später, also heute, wird im Ruhrgebiet pluralistisch post-modern gekocht.

Diese regionalen Eigenarten sind durch die Lebensbedingungen im Ruhrgebiet und die Mentalität seiner Bewohner geprägt.

Besonders typisch ist für unsere Region, daß die Kochtraditionen der Zuwanderer nicht nur von diesen weitergepflegt wurden, sondern auch von den „Alteinwohnern“ begeistert übernommen wurden. Da handelte es sich einmal um Kochtechniken, z.B. eine besondere Vorliebe für Eintöpfe, dann um spezielle Speisezutaten, die sich etablierten, etwa der Blaumohn, und deutlichen Vorlieben beim Würzen der Speisen.

Dieser integrative Charakter der Ruhrgebietsküche läßt sich auch sozioökonomisch ableiten. Es fehlte zum einen eine dominante Fürstenküche im Ruhrgebiet, zum anderen mußte die Ernährung der Bevölkerung neu organisiert werden, weil plötzlich viel mehr Menschen versorgt werden mußten und die bisherigen Anbauflächen nicht mehr ausreichten. Nahrungsmittel mußten importiert werden. Zum dritten gab es eher banale Determinanten wie den praktischen Vorteil eines Eintopfes gegenüber einem mehrteiligen Menue, wenn das Essen für den „Malocher“ zum Werktor oder unter Tage transportiert werden mußte.

Das wirklich Besondere an der Küche im Ruhrgebiet ist die Unbefangenheit und Vorurteilslosigkeit, mit der Neues aufgenommen und ohne falsche Schüchternheit auch gern modifiziert wurde.

Im Hinterkopf hatten wir während der Diskussion einen imaginären Koch aus Herne, Bochum oder Essen, der uns fragt, was er denn wohl an regional Typischem hier kochen könne. Unsere Antwort darauf ist: „Alles, aber bedenke, wo du kochst und was für Menschen hier gelebt haben, wie deren Lebensumstände waren, wie die Versorgungslage war usw.“

Anders als Bayern, Österreich, Italien usw. kennt das Ruhrgebiet keinen festen Kanon an Gerichten und auch keine dogmatischen Rezepte. Eine Ruhrgebietsköchin hat immer pragmatisch gekocht und eine fröhliche Lust an spontanen Variationen gehabt.

Insofern sind Küchentradition und soziale Tradition im Ruhrgebiet kongenial: Zuerst hat der Malocher den Neuen und das Neue beschnuppert und anschließend in sein Herz aufgenommen.

Zur Bewertung der Kontroverse zwischen literaturgestützter Argumentation und der Argumentation nach der gefühlten Tradition muß folgendes erwogen werden:

Es muß gefragt werden, wie aussagekräftig die Kochbuchliteratur ist. Es ist äußerst fraglich, ob die Kochbuchliteratur überhaupt die Rezeptentwicklung wissenschaftlich exakt widerspiegelt. Auch wird, nach Aussage der Damen vom Kochbuchmuseum, in keinem Literaturgenre soviel plagiiert wie in der Kochbuchliteratur.

Mit diesem Hintergedanken wird die Argumentation mit der erlebten Kochtradition, bei der jedermann zum Zeugen/Gewährsmann wird, aussagekräftiger und glaubwürdiger. Übrigens ist die Methode der lebendigen Zeugenaussage bei Historikern anerkannt.

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